Teil 4:

Auf Distanz zum unternehmerischen Lebenswerk

»Sicherlich gibt es […] in jedem Unternehmen eine schöpferische Pause, die haben wir schon seit zwei Jahren«, stellte Springer im April 1970 in bemerkenswerter Offenheit fest – ohne zu wissen, dass die »schöpferische Pause« bis auf wenige Ausnahmen zeit seines Lebens nicht mehr überwunden werden sollte. Die Ära des »schöpferischen Ingeniums«1 Springers, um bei einem Begriff Augsteins zu bleiben, diese Ära, die Hör zu, das Hamburger Abendblatt, Bild und Bild am Sonntag hervorbrachte, die Die Welt, Welt am Sonntag, die Berliner Morgenpost und die B.Z. wiederbelebte, die Zeitschriftentitel, wie Eltern und Jasmin entstehen ließ, diese Ära war, wie sich zeigen sollte, vorbei. Auch das Verlagshaus selbst sollte bis zum Tod des Verlegers nicht mehr an die Innovationsfähigkeit der 1940er-, 1950er- und 1960er-Jahre anknüpfen. Der von oberster Verlagsebene orchestrierte Einstieg in das Videogeschäft enttäuschte, wie dargestellt, schon zu Beginn der 1970er-Jahre die hohen Erwartungen.2 Auch das Verlegerfernsehen blieb lange Zeit ein Wunschtraum. Erst die christlich-liberale Koalition öffnete den Weg für ein privates Fernsehen in der Bundesrepublik. Die Beteiligung des Verlagshauses an der späteren SAT 1 Satelliten Fernsehen GmbH im Herbst 1984 wurde von Springer allerdings nicht mehr aktiv begleitet. Im Zeitschriftenbereich scheiterten die ambitionierten Pläne für ein Nachrichtenmagazin, das dem Spiegel sowohl verlegerisch als auch politisch Konkurrenz machen sollte.3 Zwar entwickelte Hans Habe, der ehemalige Herausgeber der US-amerikanischen Neuen Zeitung, 1971 ein verlegerisches Konzept, das die begeisterte Zustimmung des Verlegers fand; dennoch fiel der geplante Gegen-Spiegel bald der Zerstrittenheit der Verlagsführung, der Unentschlossenheit des Verlegers und einer Wettbewerbsklausel im Spiegel-Druckvertrag zum Opfer. Das im Rahmen des Verlagsvorhabens erworbene »Monatsmagazin für Politik und Wirtschaft« Dialog wurde 1973 erfolglos eingestellt.4 Das Scheitern des Zeitschriftenprojekts war symptomatisch: Mangelnde Führung durch den Verleger, die fehlende Einbindung kreativer und durchsetzungsstarker Blattmacher, von persönlichen Eitelkeiten wie starkem Besitzstandsdenken geprägte Arbeitsbeziehungen und bürokratische Hemmnisse verhinderten weitgehend jede Innovation im Verlagshaus.

Eine Ausnahme bildeten nicht nur die neuen, von Springer wenig beachteten Unterhaltungs- und Sportzeitschriften, sondern vor allem die Frauenzeitschrift Bild der Frau.5 Die Auflage des von Bild-Chefredakteur Prinz konzipierten Blattes stieg bald nach dem Erscheinen im Frühjahr 1983 auf über 2 Millionen Exemplare.6 Fünfzehn Jahre waren vergangen, seit das Verlagshaus mit Jasmin ein vergleichbar auflagenstarkes Druckobjekt am Markt platziert hatte. Dem profilierten Blattmacher Prinz verdankte Springer auch die Überwindung der Auflagenschwäche der Bild-Zeitung, die Anfang der 1970er-Jahre auf unter 3,5 Millionen gefallen war.7 Im Sommer 1971 hatte Prinz den seit zehn Jahren amtierenden Boenisch abgelöst und Bild konsequent entpolitisiert. In den folgenden Jahren stieg die Auflage auf annähernd 5,5 Millionen Stück. Dagegen blieb Springers publizistisches Flaggschiff Die Welt ein beständiges Sorgenkind. Chefredakteurswechsel, Neukonzeptionen, Kostensenkungsprogramme, Umzugsvorhaben, Veräußerungspläne und Einstellungsüberlegungen rissen über die 1970er- und 1980er-Jahre genauso wenig ab wie die tiefen Verluste der Tageszeitung, deren Auflage bei 225.000 Exemplaren stagnierte.8 1974 und 1975 ließ Springer intensive Verhandlungen mit der Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH über eine Veräußerung der Welt führen, die allerdings kurz vor Vertragsabschluss an Tamms Widerstand und Springers Skepsis scheiterten.9 Einmal mehr zeigte sich, dass der Verleger nicht bereit war, auf sein politisches Sprachrohr zu verzichten, auch wenn er im Gegenzug jährliche Verluste von bis zu 40 Millionen Deutsche Mark in Kauf nehmen musste.10 Die weiteren Zeitungsobjekte, insbesondere das Hamburger Abendblatt, die Berliner Morgenpost und die B.Z., wiesen bis Mitte der 1980er-Jahre leicht steigende Erträge aus, während die Auflagen weitgehend stabil blieben.11 Eine erfolgreichere Entwicklung nahm dagegen die regionale Expansion im Zeitungsbereich, in deren Rahmen seit dem Ende der 1960er-Jahre mehr als ein Dutzend Beteiligungen an kleineren Zeitungsverlagen in Norddeutschland erworben wurden.12 Ungeachtet der hohen Profitabilität der regionalen Tageszeitungen und Wochenblätter blieb der strategische und publizistische Wert der Verlagsbeteiligungen begrenzt. Grund waren die kartellrechtlichen Restriktionen, die in der Regel nur eine Minderheitsbeteiligung zuließen und somit in nennenswerter Form weder eine redaktionelle Gestaltung, noch eine synergetisch interessante Einbindung in den Verlagskonzern ermöglichten. Leichte Auflagensteigerungen vermeldete die Programmzeitschrift Hör zu, die seit 1974 von dem neuen Chefredakteur Peter Bachér modernisiert worden war.13 An die Spitzenauflagen von über 4 Millionen zum Ende der 1960er-Jahre konnte das Blatt freilich nicht mehr anknüpfen, es blieb jedoch neben der Bild-Zeitung die bedeutendste Ertragsquelle des Verlagshauses.

Unterdessen war die Verlagsführung unter der Leitung des Alleinvorstands Tamm von außergewöhnlich struktureller, finanzieller und personeller Kontinuität geprägt, die weder durch Springers launenhaftes Wesen, noch durch das ambivalente Verhältnis zwischen Dienstherrn und Majordomus wesentlich gestört wurde.14 Bis Ende der 1970er-Jahre hegte der Verleger kaum Zweifel an der Führungsqualität und dem unternehmerischen Kurs seines obersten Verlagsmanagers. Dennoch verband ihn persönlich nur wenig mit Tamm – zu unterschiedlich waren die Charaktere. Das vertraute Gespräch, wie es Springer mit Matthias Walden, Eberhard von Brauchitsch oder Heinrich V. Prinz Reuß über politische, religiöse oder private Themen zu führen pflegte, blieb eine Seltenheit. Selbst geschäftliche Unterredungen reduzierte er auf ein Minimum, wodurch in späteren Jahren die Entscheidungsprozesse im Verlagshaus stark beeinträchtigt wurden. Tamm wiederum war Springer loyal ergeben; doch betrachtete er mit stiller Geringschätzung die Launenhaftigkeit, Unentschlossenheit und Wankelmütigkeit, die Springer abhängig von seiner seelischen und körperlichen Verfassung in unternehmerischen Fragen an den Tag legte.

Ungeschmälert war hingegen Springers leidenschaftliches Engagement für die Wiedervereinigung, die er Anfang der 1970er-Jahre durch die Ostpolitik Willy Brandts auf das Schwerste bedroht sah.15 Jahrelang kämpfte er erbittert gegen die Entspannungspolitik der Bundesregierung, aber auch für Freiheit und Menschenrechte in den Staaten des Warschauer Paktes. Im Herbst 1974 begründete Springer mit Unterstützung des von ihm verehrten Alexander Solschenizyn die Zeitschrift Kontinent als geistiges Forum für politisch verfolgte Literaten des Ostblocks.16 Schwere öffentliche Auseinandersetzungen lieferte sich Springer zudem mit der evangelischen Kirche, deren linksliberale Politisierung er scharf kritisierte.17 Sein kirchenpolitischer Kulturkampf war stark durch die intensive Beschäftigung mit theologischen Fragestellungen und der Suche nach christlicher Spiritualität geprägt, die in den 1970er- und 1980er-Jahren zu einem bestimmenden Element seines Lebens wurden. Spirituelle Gründe waren es auch, die Springer im Frühjahr 1972 bewogen, auf Patmos, der Insel der »Heiligen Offenbarung des Johannes«, ein Anwesen zu errichten.18 Der wohl privateste seiner zahlreichen Wohnsitze war augenscheinlich einer der wenigen Orte, der dem rastlosen Verleger echten inneren Frieden gab; ansonsten war Springers Leben bis zuletzt von beständigen Reisen zwischen den Verlagssitzen, den vielen Stätten politischer, gesellschaftlicher und unternehmerischer Verpflichtungen, den zahlreichen Domizilen und Urlaubsorten sowie Krankenhaus- und Kuraufenthalten geprägt. Stets an seiner Seite war Friede Riewerts, die der Verleger nach Jahren des Zusammenlebens im Januar 1977 heiratete.19 Noch im gleichen Jahr erbaute sich das Paar ein repräsentatives und hochgesichertes Anwesen auf der Havel-Insel Schwanenwerder und taufte es auf den vielsagenden Namen »Tranquillitati«.20 »Zu neuen Ufern: an die Havel, 8 km von Potsdam«, schrieb Springer am Ende des schicksalsschweren Jahres 1977 mit neuem Lebensmut. Viele Freunde und Weggefährten waren in den vorausgehenden Monaten gestorben, darunter der alte Partner Karl Andreas Voss.21 Die Lebenskraft, die Springer aus seiner jungen Ehe schöpfte, die aber auch aus seinen regen geistigen Interessen, dem intellektuellen Austausch und erlesenem Kunstgenuss erwuchs – diese Lebenskraft hielt immer seltener den Gefühlen der Müdigkeit und Resignation stand, von denen der Verleger mehr denn je beherrscht wurde.

Springers häufige Abwesenheit, sein mangelndes unternehmerisches Interesse und seine zunehmende innere Kraftlosigkeit erlaubten es Tamm, sich gegenüber seinem Dienstherrn nicht nur eine bemerkenswerte Autonomie, sondern auch eine erstaunliche Souveränitäts- und Machtposition zu verschaffen. Mehrere Versuche des Verlegers, im Aufsichtsrat ein Gegengewicht zum starken Alleinvorstand zu etablieren, blieben weitgehend ergebnislos.22 Der von der Friedrich Flick KG angeworbene von Brauchitsch galt zwar als durchsetzungsstarker Manager, konnte jedoch in seiner Amtszeit als Generalbevollmächtigter und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender zwischen 1971 und 1972 keinen prägenden Einfluss auf das operative Verlagsgeschäft entfalten. Sein Nachfolger, der Industriemanager und dem Verleger sehr nahestehende Prinz Reuß, waltete bis zu seiner schweren Erkrankung im Herbst 1980 als effizienter Stellvertreter des Verlegers, aber im weitgehenden Einvernehmen mit Tamm, dessen Verhältnis zu Springer sich zu Beginn der 1980er-Jahre verschlechterte. Das Misstrauen des Verlegers hatte im Herbst 1980 schließlich derartige Ausmaße angenommen, dass er den denkwürdigen Schritt wagte, Kracht mit der Überprüfung des unternehmerischen Kurses seines Alleinvorstands zu beauftragen.23 Nach Prinz Reuß’ frühem Tod folgte Kracht in das Amt des Generalbevollmächtigten und des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden.24 Das historische Intermezzo währte jedoch nur kurz. Zweieinhalb Jahre später kapitulierte Kracht am Widerstand des Alleinvorstands sowie des mittlerweile zum Testamentsvollstrecker avancierten Servatius und verließ das Verlagshaus endgültig. Der oberste Verlagsmanager Tamm hatte einmal mehr seine Machtposition unter Beweis gestellt.

Während Tamm den Verlagskonzern mit ruhiger Hand, aber ohne unternehmerische Dynamik steuerte und zwischen 1970 und 1985 die Umsätze auf mehr als 2 Milliarden Deutsche Mark bei Ergebnissen von rund 100 Millionen steigerte, rissen Springers Bemühungen, Teile seines Lebenswerkes zu verkaufen, niemals ab.25 Mit fortschreitendem Alter rückte mehr und mehr die Regelung der bislang ungelösten Nachfolge in den Mittelpunkt. Während die zurückgezogen lebende Tochter Barbara niemals ernsthaft als Nachfolgerin in Betracht kam, hatten alle Erwartungen auf Axel Springer junior gelegen, bis in den 1960er-Jahren Zweifel an den Ambitionen und Fähigkeiten des ältesten Sohnes aufkamen.26 Nach einer erfolgreichen Karriere als Photograph und zuletzt recht vielversprechenden Einsätzen im Verlagshaus machte der Selbstmord des Juniors im Januar 1980 alle Hoffnungen auf schreckliche Weise zunichte.27 Springer sollte sich von diesem Schicksalsschlag nie wieder erholen. Noch stärker als zuvor zog er sich ins Privatleben zurück und suchte Halt in der Religion. Als männliche Nachkommen blieben sein zweiter Sohn Raimund Nicolaus und der Enkel Axel Sven; beide waren jedoch in Springers letzten Lebensjahren zu jung, um innerhalb einer absehbaren Zeitspanne die Nachfolge antreten zu können. Nach jahrelangen ergebnislosen Sondierungen und Verhandlungen gelang es Springer im Herbst 1981 mit Unterstützung von Kracht, den Offenburger Burda-Verlag als Gesellschafter zu gewinnen.28 Über die drei Juniorchefs Franz, Frieder und Hubert Burda meinte der Verleger: »Das sind im Grunde meine Nachfolger.«27 Allerdings scheiterte die mehrheitliche Übernahme durch den Offenburger Zeitschriftenverlag am Einspruch des Bundeskartellamts.30 Der Burda-Verlag erwarb daher lediglich eine Minderheitsbeteiligung; das Nachfolgeproblem Springers blieb ungelöst. Zumindest in publizistischer Hinsicht hatte Springer personelle Vorsorge getroffen und im Herbst 1981 mit dem Welt-Herausgeber Matthias Walden einen seiner engsten Vertrauten zum verlegerischen Nachfolger ernannt.31 Allerdings war der Regelung keine lange Dauer beschieden: Im Herbst 1984 erlag Walden einem Krebsleiden. Mit glücklicherer Hand, wie sich zeigen sollte, regelte der Verleger im Sommer 1983 sein unternehmerisches Erbe, das er zu wesentlichen Teilen seiner jungen Frau Friede zusprach.32 Dessen ungeachtet setzte der inzwischen von einer chronischen Viruserkrankung schwer gezeichnete Verleger seine Bemühungen fort, weitere Teile des Verlagshauses zu veräußern. Die eng mit dem Unternehmen verbundene Deutsche Bank AG überzeugte ihn schließlich im Sommer 1985, das Verlagshaus in eine Publikumsgesellschaft zu überführen und den eigenen Anteil auf eine Sperrminorität zu reduzieren.33 Die Börsennotierung im November 1985, dem letzten Akt eines folgenschweren Entschlusses, der beinahe die Zerstörung seines verlegerischen Lebenswerkes nach sich gezogen hätte, erlebte der Verleger nicht mehr. Nach Krankenhausaufenthalten in der Schweiz flog Springer Anfang September 1985 ein letztes Mal in seine geliebte, immer noch geteilte Stadt Berlin.34 Am 4. September 1985 eröffnete der von tödlicher Krankheit gezeichnete Verleger die konstituierende Sitzung des neuen Aufsichtsrats – es sollte sein letzter Besuch im Verlagshaus an der Kochstraße, dem Stein gewordenen Monument seiner verlegerischen Erfolge und dem am Todesstreifen liegenden Mittelpunkt seines politischen Wirkens, gewesen sein. Am 22. September 1985 starb Axel Springer an den Folgen einer Herzmuskelentzündung im Berliner Martin-Luther-Krankenhaus.35 Wenige Tage später nahmen die Spitzen des Staates und der Gesellschaft, Weggefährten, Freunde und Familienangehörige in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Abschied von dem Verleger, Unternehmer, Politiker und Menschen. Unter dem Bibelwort »Jesu spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe«36 fand Axel Springer auf dem Friedhof in Berlin-Nikolassee seine letzte Ruhe.