Verlagsobjekte zwischen Wachstum und Politisierung

Die Welt als politisches Sturmgeschütz

Der wesentliche verlegerische Kristallisationspunkt der politischen Ambitionen Springers war naturgemäß Die Welt, die ab 1958 den weltanschaulichen Vorstellungen des Verlegers unterworfen und zum zentralen Instrument der politischen Einflussnahme ausgebaut wurde. Für eine Tageszeitung, die sich dem liberalen Geist und der Meinungsvielfalt der Vossischen Zeitung verschrieben hatte, kam diese Entwicklung einem Paradigmenwechsel gleich, der seitens der auf Unabhängigkeit bedachten Redaktion nicht lange unbeantwortet bleiben konnte. Zudem ging Springer nach der gescheiterten Moskau-Reise erkennbar auf Distanz zu Zehrer und setzte ohne Rücksicht auf dessen Auffassungen seine eigene politische Linie durch.13 Aus Loyalität und Mangel an beruflichen Alternativen folgte der fast 60-jährige Chefredakteur den politischen Maximen des Verlegers, konnte aber seine Verbitterung und Resignation über die Entfremdung von Springer kaum verhehlen.14 Überdies wurde ihm im Juli 1958 mit Ernst Cramer15 ein neuer stellvertretender Chefredakteur zur Seite gestellt – ein Schritt, der vor allem Springers Misstrauen in den politischen Kurs und die Durchsetzungsfähigkeit des ehemaligen Mentors dokumentierte.16 In der Folge kämpfte Zehrer innerhalb der Redaktion mit wachsenden Autoritätsverlusten, die schon bald in eine folgenschwere Führungskrise münden sollten. Aufgrund seiner geschwächten Position gelang es ihm immer seltener, eine überzeugende Mittlerrolle zwischen den ausgreifenden Wünschen des Verlegers und den Interessen der selbstbewussten Redaktion einzunehmen.

Anfang der 1960er-Jahre verankerte Springer neben dem antikommunistischen Kurs zunehmend eine konservative Linie, die mit wachsendem Eifer von Zehrer unterstützt wurde. Wie weit der Verleger von seinen früheren liberalen Grundsätzen bereits abgerückt war, zeigte sich im Oktober 1962, als die Spiegel-Affäre17 Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik erschütterte. Im Gegensatz zur Mehrzahl der bundesdeutschen Verleger sah Springer die Pressefreiheit durch das Vorgehen der Bundesregierung nicht bedroht und ließ seine Blätter zu den Vorgängen weitgehend schweigen.18 Erst nach einigen Tagen bezog Zehrer in einem Leitartikel Position, in deren Zusammenhang er dem Spiegel einen »Mißbrauch der Freiheit« vorwarf.19 Wie die bundesdeutsche Zivilgesellschaft spaltete die Spiegel-Affäre auch das Verlagshaus.20 Mehrere kritische Beiträge des Welt-Kolumnisten Sebastian Haffner, der im Vorgehen gegen den Spiegel eine ernste Gefahr für die Pressefreiheit sah, wurden auf Betreiben des Chefredakteurs nicht gedruckt. Zwischen den beiden prominenten Journalisten kam es zum Zerwürfnis, dem andere Redakteure folgten, die sich ebenfalls nicht dem Konformitätsdruck eines zunehmend einseitigen und verhärteten verlegerischen Kurses beugen wollten.21 Weitere redaktionelle Kräfte verließen das Verlagshaus oder wurden, wie Bluhm, der Chefredakteur der Bild am Sonntag, zu weniger politischen Verlagsobjekten versetzt. Selbst der treue Verlagsmanager Kracht hatte dem Spiegel spontan Unterstützung angeboten, als im Oktober 1962 die Redaktionsleitung des Magazins verhaftet und die Redaktionsbüros tagelang »zur Durchsuchung« besetzt worden waren.22 Später musste Kracht sein Hilfsangebot auf Betreiben des Verlegers zurückziehen. Im Rückblick war die Spiegel-Affäre nicht nur eine Zäsur für die Entwicklung der bundesdeutschen Zivilgesellschaft, sondern auch für das verlegerische Handeln Springers, dessen Verlagshaus in den Folgejahren einen politischen Kurs vertreten sollte, der in vielerlei Hinsicht dem öffentlichen Meinungsklima widersprach und im nicht gekannten Ausmaß auf die Kritik gesellschaftlich relevanter Kreise stieß.

Als der Verlagsleiter Heinrich Schulte im März 1963 überraschend starb, wurde Springers Einfluss auf die Redaktionsmeinung der Welt auch in der Öffentlichkeit diskutiert.23 Mit dem Ableben Schultes, der von den Briten 1948 auf Lebenszeit eingesetzt worden war, fiel nach Ansicht der Kritiker das letzte Bollwerk gegen Springers Einflussnahme auf Die Welt. Zwar verstummte die Debatte rasch, doch war sie ein Vorgeschmack auf die bald stattfindenden großen politischen Auseinandersetzungen um die Meinungsmacht Springers. Zum Nachfolger Schultes berief er den langjährigen Hamburger Abendblatt-Verlagsleiter Hans Heinrich Schreckenbach.24

Im September 1963 zogen Springer und Zehrer schließlich die Konsequenzen aus der schwachen Auflagenentwicklung, der andauernden Führungskrise und dem zerrütteten persönlichen Verhältnis. Teils aus eigenem Wunsch, teils auf Drängen Springers siedelte Zehrer nach Berlin über und gab die Leitung des redaktionellen Tagesgeschäfts sowie sämtliche Personalverantwortung unter Beibehaltung des Chefredakteurstitels ab.25 Die operative Redaktionsleitung übernahm im November 1963 auf Zehrers Empfehlung Hans Wallenberg26, zuvor Generalbevollmächtigter des Ullstein-Verlags.27 Dem erfahrenen und Springer persönlich verbundenen Journalisten gelang es allerdings nicht, der verunsicherten Redaktionsmannschaft die notwendige redaktionelle und geistige Führung zu geben.28 Erfolg hatte der Deutsch-Amerikaner mit der Schaffung einer Literaturbeilage, die unter dem Titel »Welt der Literatur« an die literary supplements international renommierter Tageszeitungen anknüpfte und das Ansehen der Tageszeitung, wenn auch auf kostspielige Weise, positiv beeinflusste.29 Nach wenigen Monaten bat Wallenberg, »von dem undankbaren Amt« des »Geschäftsführenden Chefredakteurs« zurücktreten zu dürfen.30 Er kehrte im Oktober 1964 schließlich zum Ullstein-Verlag zurück, während Springer die Redaktionsleitung der Welt auf ein Dreiergremium aus den Redakteuren Ernst Cramer, Hans-Wilhelm Meidinger und Heinz Pentzlin übertrug.31 Rasch zeigte sich, dass weder die Konstellation, noch die personelle Besetzung des Triumvirats geeignet war, die Führungsprobleme der Welt zu beenden. So hatten sich die Mitglieder der »geschäftsführenden Redaktion« nach nicht einmal zwölf Monaten derart überworfen, dass Cramer die Rückkehr Zehrers forderte.32 Von Springer gingen derweil keine maßgeblichen Impulse zur Überwindung dieser Führungskrise aus. Ohnehin waren die andauernden Personalquerelen in der Welt-Redaktion vor allem Ausdruck seiner eigenen Führungsschwäche. Sein vielgerühmtes »Gespür«33 für die richtigen Leute schien sich in den 1960er-Jahren deutlich abgeschwächt zu haben. Ein maßgeblicher Grund für diese Entwicklung lag sicherlich in der wachsenden persönlichen Distanz, die sich zu Journalisten und Verlagsmanagern innerhalb und außerhalb des Hauses auftat. Die Größe des Verlagshauses, aber auch die gesellschaftlichen Verpflichtungen und das politische Engagement begrenzten in vielfältiger Hinsicht die Mitarbeiterkontakte des Verlegers, der überdies zunehmend Wert auf einen überschaubaren Führungszirkel handverlesener Kräfte legte.

Während die Führungskrise ungelöst blieb, widmete sich Springer offenbar mit größerem Interesse der inhaltlichen Ausrichtung der Welt. Im Jahr 1964 beauftragte er den amtierenden, aber weitgehend entmachteten Chefredakteur Zehrer, einen »geistigen Überbau« für den Verlagskonzern zu entwickeln.34 Für Die Welt entstand dadurch eine dezidiert konservative Programmatik, die nach dem Scheitern des Triumvirats durch den rehabilitierten Zehrer redaktionell verankert wurde.35 Erneut setzte ein personeller Exodus von redaktionellen Kräften ein, die nicht bereit waren, die neue programmatische Ausrichtung des Blattes mitzutragen.36 Im Gegenzuge gelang es Zehrer, zahlreiche teilweise prononciert konservative Journalisten für Die Welt zu verpflichten.37 Der tiefgreifende Personalwechsel markierte den Endpunkt einer 8-jährigen Entwicklung, die Die Welt von einem liberalen Blatt nach dem Vorbild der Vossischen Zeitung zu einem Organ der konservativen Gesinnung im Sinne der politischen Ziele Springers genommen hatte. Die Meinungsvielfalt war weitgehend einer einheitlichen weltanschaulichen Ausrichtung gewichen, deren Grundzüge der Verleger vorgab. Die Durchsetzung der politischen Leitlinien erfolgte immer weniger durch direkte Anweisungen des kontrollaffinen Inhabers, als durch »osmotischen Druck«38, der auf personeller Selektion, eingespielten Führungsmechanismen, materiellen und immateriellen Anreizen sowie einem nachhaltig verankerten Meinungsklima beruhte. Als in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen eskalierten, hielt es Springer allerdings für notwendig, seine weltanschaulichen Grundsätze über die bestehenden Führungsstrukturen hinaus durch schriftliche Richtlinien zu verankern. Auf dem Höhepunkt der öffentlichen Kritik am Verlagshaus dienten die im Oktober 1967 im Hamburger Übersee-Club vorgestellten »Vier Essentials« nicht allein der Durchsetzung eines verlegerischen Kurses, sondern naturgemäß auch der politischen Profilbildung des Unternehmens:39

»1. das unbedingte Eintreten für die friedliche Wiederherstellung der deutschen Einheit in Freiheit; 2. die Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen; dazu gehört auch die Unterstützung der Lebensrechte des israelischen Volkes; 3. die Ablehnung jeglicher Art von politischem Extremismus; 4. die Bejahung der freien sozialen Markwirtschaft.«

Fortan fanden die Grundsätze nicht nur Eingang in jeden redaktionellen Arbeitsvertrag, sondern auch in die Satzung der 1970 begründeten Aktiengesellschaft. Springers Kritiker betrachteten die Grundsätze als eine weitere Bestätigung für die angeblich erzwungene Meinungskonformität im Verlagshaus.

Dem altgedienten Chefredakteur war es nicht vergönnt, die personelle und inhaltliche Neuausrichtung der Welt vollends abzuschließen. Nach langjährigen Alkoholproblemen erkrankte Zehrer Anfang 1966 an Leberkrebs und erlag seinem Leiden im August desselben Jahres.40 Am Grab ehrte Springer den Weltendeuter als »großen Journalisten, Patrioten und Gottsucher«.41 Zweifelsohne hatte kein Weggefährte einen stärkeren geistigen Einfluss auf Springer als Zehrer, der den Verleger vor allem in politischer und religiöser Hinsicht prägte. Die jahrelangen Konflikte, Demütigungen und Enttäuschungen verblassten in der Stunde des Abschieds, auch ohne dass es Springers Hang zur posthumen Verklärung bedurft hätte. Zeit seines restlichen Lebens pflegte der Verleger ein außerordentlich ehrenvolles Andenken an den verstorbenen Freund.

Im Frühjahr 1966 hatte Springer begonnen, einen geeigneten Nachfolger für den todkranken Zehrer zu suchen, und war dabei auf Hermann Starke42, den Intendanten des Deutschlandfunks gestoßen. Der ehemalige Politikchef des NWDR übernahm im August 1966 die Redaktionsleitung der Welt.43 Noch bevor im Folgejahr das Verlagshaus zur Zielscheibe der öffentlichen Kritik wurde, gelang es Starke, die jahrelange Führungskrise zu überwinden und die Redaktionsarbeit in geordnete Bahnen zu lenken, ohne allerdings neue redaktionelle Akzente zu setzen. In gewohnter Weise machte Springer in zahllosen Briefen und Kurznotizen an Starke seinen verlegerischen Einfluss geltend, während die direkte Einwirkung auf untergeordnete Redakteure weiterhin die Ausnahme blieb. Springers »chronische Unzufriedenheit […] mit der Ausstrahlung, […] politischen Akzentsetzung und […] Machart des Blattes«44 hielt allerdings unvermindert an.

Die zunehmend konservativere Ausrichtung der Welt stieß nicht nur auf wachsende Kritik der Öffentlichkeit, sondern auch auf Ablehnung bei Teilen der Leserschaft. Nach den marginalen Zuwachsraten in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre, verzeichnete das Verlagsobjekt ab 1965 in einem schwachen Marktumfeld eine rückläufige Auflagenentwicklung.45 Entsprechend moderat fielen die Erlöszuwächse in den 1960er-Jahren aus.46 Weitaus dynamischer entwickelte sich, ebenso wie bei anderen Verlagsobjekten, die Ausgabenseite, wodurch die Ergebnisbeiträge der Welt seit 1962 beständig zurückgingen. Dem operativen Gewinn des Jahres 1961 von 5,9 Millionen Deutsche Mark stand sechs Jahre später ein Verlust von rund 5 Millionen Deutsche Mark gegenüber. Bislang hatte Springer der Welt-Verlagsleitung weitgehend freie Hand gelassen, zugleich aber immer höhere Investitionen in das Blatt befürwortet und damit die Kostensituation weiter verschärft. Im Laufe des Jahres 1967 zog der Verleger die Konsequenzen aus den hohen Verlusten und ließ umfassende Maßnahmen zur Kostensenkung ergreifen, die mutmaßlich von Kracht, Tamm und dem Welt-Verlagsleiter Schreckenbach initiiert worden waren.47 In den folgenden zwei Jahren gelang es Schreckenbach, vor allem durch die Zusammenlegung der Verlagsverwaltungen der Welt-Verlagsgesellschaft und des Stammhauses, durch die Verkleinerung der Redaktion und veränderte Kostenverrechnungssystematiken die Verluste vorübergehend zu reduzieren.48

Zuvor hatte Springer sämtliche Anteile an der Welt-Verlagsgesellschaft konsolidiert, als die Axel Springer & Sohn KG im Februar 1966 die 25-prozentige Welt-Beteiligung der Stiftung Die Welt zur Förderung und Unterstützung der Zeitungswissenschaften sowie des journalistischen und verlegerischen Nachwuchses für 500.000 Deutsche Mark übernahm.50 Gleichzeitig wurde die Welt-Stiftung in Axel Springer Stiftung vormals Stiftung Die Welt zur Förderung und Unterstützung der Zeitungswissenschaften sowie des journalistischen und verlegerischen Nachwuchses umbenannt und fungierte fortan als Instrument der verlegerischen Öffentlichkeitsarbeit. Unter anderem vergab die Axel-Springer-Stiftung den im Jahre 1960 geschaffenen Theodor-Wolff-Preis für herausragende journalistische Leistungen.51 Mit der Herauslösung der Welt-Verlagsgesellschaft aus der einst von den Briten konzipierten Stiftungskonstruktion erlangte Springer nach langjährigen Bemühungen die alleinige Verfügungsgewalt über Die Welt und die Welt am Sonntag, vor allem bei der Besetzung der Chefredakteurspositionen und bei der Eingliederung von Verlagsfunktionen in den Axel-Springer-Verlag.52

Grafik 12: Entwicklung der Tageszeitung Die Welt (1960–1970)49

Bild-Zeitung: Vom Boulevard zur Politik, von der Politik zum Boulevard

Während Springer Die Welt entschlossen dem neuen weltanschaulichen Kurs unterwarf, blieb seine Haltung gegenüber einer Politisierung der Bild-Zeitung höchst ambivalent, so dass sich an der weitgehend unpolitischen Linie der Tageszeitung vorerst wenig änderte. Zwar trug der Verleger auch dem Chefredakteur Michael auf, die wirtschaftlichen und politischen Missstände in der DDR regelmäßig aufzugreifen und vor allem die Flüchtlingsfrage zu thematisieren, verlangte aber gleichzeitig, den bewährten Stil des Blattes beizubehalten.53 Ähnlich verhielt es sich mit der Entscheidung, den langjährigen Chefredakteur im Dezember 1958 durch Oskar Bezold, zuvor Redaktionsleiter der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, zu ersetzen.54 Einerseits machte Springer aus seiner Unzufriedenheit über Michaels konsequent unpolitischen Journalismus keinen Hehl, andererseits berief er mit Bezold ein »journalistisches Leichtgewicht«55, das ebenfalls keine durchgreifende Politisierung der Bild-Zeitung erwarten ließ.56 So war der Personalwechsel wohl eher der Überzeugung geschuldet, dass es dem inzwischen 68-jährigen Michael an Innovationskraft und Dynamik für eine nachhaltige Weiterentwicklung der Bild-Zeitung mangelte, deren Auflagenwachstum sich seit 1956 verlangsamt hatte.57 In den folgenden Monaten konsolidierte der führungsstarke Bezold den zuletzt erheblich gewachsenen Redaktionsapparat, ohne jedoch eine redaktionelle Neuausrichtung oder gar eine Abkehr von der unpolitischen Linie vorzunehmen.58

Ende 1959 vollzog sich allerdings ein Kurswechsel, als Springer nunmehr doch eine durchgreifende politische Instrumentalisierung der Bild-Zeitung forderte:

»[…] Bild kommt jetzt auch in die große Prüfung. Das zeigen die ganzen politischen Umstände. Bild wird zu beweisen haben, ob es zur Rettung Deutschlands beitragen kann […] Im Grunde ist Bild vermutlich das stärkste Instrument unseres Hauses in politischer Hinsicht.«59

Fast zwölf Monate vergingen, bis der Verleger seine Vorstellungen auch personell verankerte und im Oktober 1960 die schwache Auflagenentwicklung zum Anlass nahm, Bezold in die Verlagsleitung des Ullstein-Verlags zu versetzen und den ehemaligen Redaktionsleiter der B.Z. am Mittag, Karl-Heinz Hagen60, zum neuen Chefredakteur zu berufen.61 Mit Hagen, einem ebenso scharfsinnigen wie scharfzüngigen Naturtalent seiner Profession, stand der Bild-Zeitung erstmals ein »politischer Gesinnungsjournalist«62 vor, der in den folgenden ereignisreichen Monaten den politischen Kurs des Verlegers mit großer Leidenschaft redaktionell umsetzen sollte:63

»Hagen ging an seine Aufgabe, dem bisherigen Bild-Redaktionsprogramm eine politische Komponente hinzuzufügen, mit einem Eifer heran, der mancherorts erschreckte […]: Volksaufklärung und Propaganda drängten alle anderen Erfolgselemente des Boulevardblattes in den Hintergrund.«64

Der effektvolle Politjournalismus, den der 41-jährige Redaktionsleiter zusammen mit zahlreichen zur Bild-Zeitung gewechselten B.Z.-Redakteuren etablierte, spiegelte sich nicht nur in den Inhalten, sondern auch in einer grundlegend modernisierten Aufmachung wider, die ganz auf die suggestive Kraft des Bildes setzte.65 Tatkräftig wirkte Springer an der Metamorphose von einer unpolitischen Boulevardzeitung zu einem antikommunistischen Kampfblatt mit und ließ es sich vor allem während des Mauerbaus offenbar nicht nehmen, bedeutsame Schlagzeilen selbst zu verfassen.66 Ende 1961 mehrten sich allerdings seine Zweifel, ob die Dominanz politischer Themen und der kämpferische Tonfall den Lesergeschmack trafen.67 Ungeachtet bedeutsamer weltpolitischer Ereignisse verzeichnete die Auflage der Bild-Zeitung nur geringfügige Steigerungsraten; gleichzeitig stagnierte das Betriebsergebnis bei rund 11 Millionen Deutsche Mark. Immer häufiger schien sich der Verleger auf die Anfangsjahre des Hamburger Abendblatts und der Bild-Zeitung zu besinnen, als er das wohldurchdachte verlegerische Credo ausgegeben hatte, auf politische Themen weitestgehend zu verzichten. In seinen Bedenken wurde er von zahlreichen Führungskräften unterstützt, die nicht nur der Politisierung der Bild-Zeitung, sondern Springers ideellem Engagement im Ganzen mit großer Skepsis gegenüberstanden.68 Im Dezember 1961 forderte der Verleger von Hagen eine Rückbesinnung auf den Boulevardcharakter der Bild-Zeitung.69 Der eigenwillige Chefredakteur lehnte Springers Ansinnen ab und erklärte aufgebracht seinen Rücktritt. Nachdem alle Versuche einer einvernehmlichen Lösung gescheitert waren, berief der Verleger noch im selben Monat den ehemaligen Bravo-Chefredakteur Peter Boenisch70 zum Redaktionsleiter der Bild-Zeitung.71 Diese Personalentscheidung war nicht unumstritten. Kritiker warfen dem erst 34-jährigen, aber mit einem ebenso großen Selbstbewusstsein wie Talent ausgestatten Journalisten Unerfahrenheit vor und sprachen ihm die Kompetenz ab, eine 130-Mann-Redaktion zu führen.72 Sie sollten eines Besseren belehrt werden, denn der Generationenwechsel läutete eine neue Ära für die Bild-Zeitung ein und zeigte einmal mehr das besondere Gespür Springers für herausragende Talente. Boenisch, der ebenfalls über einen ausgeprägten Instinkt für journalistische Begabungen verfügte, stellte eine junge Redaktionsmannschaft zusammen, mit der er einen neuen Boulevard-Journalismus entwickelte, dessen thematische Zusammensetzung und psychologische Prinzipien bis heute Gültigkeit haben.73 Noch im Jahr seines Amtsantrittes steigerte der neue Chefredakteur die Auflage der Bild-Zeitung im Durchschnitt um rund 500.000 Exemplare.74 Mitte der 1960er-Jahre erreichte sie eine durchschnittliche Auflage von über 4 Millionen und überschritt an Spitzentagen die 5-Millionen-Grenze. Mit dieser Abkehr von einem politisch dominierten Redaktionsprogramm besann sich Springer nicht nur der Wurzeln der Bild-Zeitung, dem boulevardorientierten massenwirksamen Human-Interest-Journalismus, er bewies auch, dass er ungeachtet seines politischen Engagements immer noch in verlegerisch-ökonomischen Dimensionen dachte.

Aus Springers Kurswechsel folgte allerdings weder eine vollständige Entpolitisierung der Bild-Zeitung, noch ein dauerhafter Verzicht auf eine politische Instrumentalisierung des Blattes. Das politische und unternehmerische Wirken Springers führte im Zusammenspiel mit den innen- und außenpolitischen Ereignissen und der eskalierenden Auseinandersetzung über den gesellschaftlichen Wertewandel dazu, dass in den 1960er-Jahren die politische Abstinenz zunehmend erodierte. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts räumten Springer und Boenisch politischen Themen wieder breiten Raum ein und nutzten die auflagenstärkste Tageszeitung der Bundesrepublik als wirkungsvolles Instrument der politischen Einflussnahme. Die besondere Wirkungsmacht der Bild-Zeitung ging vor allem von einem kampagnenbasierten Mobilisierungsjournalismus aus, den Boenisch für das Massenblatt entwickelt hatte. Das machtvolle Instrument »artikulierte und kanalisierte den Volkszorn« »auf ein bestimmtes Ziel«, das nicht selten den unternehmerischen oder politischen Strategien Springers entsprach, während der Leserschaft ein Gefühl von »Verbundenheit, Erfolg und eigener Wichtigkeit« vermittelt wurde.75 Eine der ersten Mobilisierungskampagnen initiierte er Anfang 1962 zur schließlich gescheiterten Durchsetzung seiner fernsehpolitischen Zielsetzungen.76 Nicht ohne Grund stand die Meinungsmacht der Bild-Zeitung ab Mitte der 1960er-Jahre im Mittelpunkt der öffentlichen Kritik.

Wenige Monate nach dem Generationenwechsel in der Redaktion erfuhr auch die kaufmännische Leitung der Bild-Zeitung eine Verjüngungskur, als Rolf von Bargen auf den Chefposten der neugeschaffenen Bild-Gruppe wechselte und der 34-jährige Peter Tamm die Verlagsleitung des Boulevard-Blattes übernahm.77 Zuvor hatte Tamm als Geschäftsführer der Ullstein GmbH an der erfolgreichen wirtschaftlichen Konsolidierung des Berliner Traditionsverlags mitgewirkt, bis er nach Meinungsverschiedenheiten mit Springer aus der geteilten Stadt abberufen wurde. Tamm ergriff ein striktes Kostenmanagement, so dass er Ende 1962 bei Gesamterlösen von 98,2 Millionen erstmals seit fünf Jahren einen deutlichen Ergebniszuwachs auf 14,7 Millionen Deutsche Mark vermelden konnte.78 Im Oktober 1964 übertrug ihm Springer die Gesamtleitung der Berliner Verlagshäuser und ernannte den bisherigen Stellvertreter Hans Jürgen Mesterharm zum neuen Verlagsleiter der Bild-Zeitung.79 Nach einem stagnierenden Ergebnis im Jahre 1964 intensivierte sich die Diskussion um eine Bezugspreiserhöhung – die erste in der Geschichte der Bild-Zeitung. Schlussendlich von Springer genehmigt, erfolgte im Oktober 1965 die von einer großangelegten Werbekampagne begleitete Heraufsetzung von 10 auf 15 Pfennige.80 Die Befürchtungen vor einem dauerhaften Auflageneinbruch blieben unbegründet. Nach einem leichten Rückgang erreichte die Bild-Zeitung Mitte 1966 wieder das alte Absatzvolumen von 4,3 Millionen.81 Auch schien sich die an Vielstimmigkeit und Schärfe gewinnende öffentliche Kritik an der Bild-Zeitung bislang weder in den Auflagenzahlen, noch im Anzeigenbereich niederzuschlagen.82 Bereits in den 1950er-Jahren hatten Springer und Voss entschieden, auf Bild-Regionalausgaben über Hamburg und Berlin hinaus zu verzichten. Gründe für die Selbstbeschränkung sind nicht überliefert. Im Vordergrund standen wohl Befürchtungen vor öffentlicher Kritik und politischer Gegenwehr, falls die ohnehin wirtschaftlich angeschlagenen Regionalzeitungen durch korrespondierende Bild-Ausgaben weiter geschwächt worden wären. Im Laufe der Jahre wurde allerdings immer deutlicher, dass der Verlag mit seinem freiwilligen Verzicht ein erhebliches Ertragspotential aufgab – vor allem im Anzeigenbereich. Die Antwort war die Aufgliederung der einheitlichen Bundesausgabe in überregionale Teilausgaben in Essen, Köln, Frankfurt, Stuttgart und München. Diese wiesen nur geringe redaktionelle Unterschiede auf, ermöglichten aber regionale Anzeigenteilbelegungen, ohne offiziell in den Lokalanzeigenmarkt einzudringen.83 Zwischen 1960 und 1966 legten die Gesamterlöse um jährlich 14 Prozent von 77,9 Millionen auf 171,4 Millionen Deutsche Mark zu; gleichzeitig verdreifachte sich das Betriebsergebnis von 11 Millionen auf 34,1 Millionen Deutsche Mark und erreichte eine Umsatzrendite von rund 20 Prozent.84 Die Bild-Zeitung erwirtschaftete 1966 rund 20 Prozent des Verlagsumsatzes. 

Grafik 13: Entwicklung der Bild-Zeitung (1960–1970)85

Grafik 14: Entwicklung der Sonntagszeitung Welt am Sonntag (1960–1970)89

Welt am Sonntag und Bild am Sonntag auf politischer Distanz

Weit weniger als ihre Mutterblätter waren die beiden Sonntagszeitungen Welt am Sonntag und Bild am Sonntag dem Politisierungskurs Springers unterworfen. Dies lag nicht nur an ihrer niedrigeren politischen Bedeutung, sondern auch am geringen Interesse, das der Verleger den beiden Verlagsobjekten entgegenbrachte. Mindestens ebenso bedeutsam waren die personellen Konstellationen. Bernhard Menne, der unkündbare Chefredakteur der Welt am Sonntag, leitete das Blatt ungeachtet einzelner Personalentscheidungen Springers mit großer Autonomie und einer dezidiert liberalen Grundhaltung.86 Die personelle und inhaltliche Kontinuität der Welt am Sonntag schlug sich auch in den Auflagenzahlen nieder, die von 1960 bis 1966 von 366.000 auf 414.000 Exemplare stiegen.87 Im gleichen Zeitraum sank allerdings aufgrund der ungünstigen Kostenentwicklung die Profitabilität des Sonntagsblattes, dessen Ergebnis 1964 nach noch 1,5 Millionen im Jahr 1960 auf 600.000 Deutsche Mark einbrach und sich erst 1968 nach durchgreifenden Sparmaßnahmen wieder erholte.88

Grafik 15: Entwicklung der Sonntagszeitung Bild am Sonntag93

Noch politisierungsresistenter zeigte sich die Bild am Sonntag, die bis Ende 1964 in den Händen des bekennenden Linksliberalen Hans Bluhm lag, der im November 1960 nach Aufgabe der chefredaktionellen Personalunion zwischen Mutter- und Sonntagsblatt auch formell die Redaktionsleitung übernommen hatte.90 Erst nach Bluhms Wechsel zur Hör zu unterstellte Springer die Redaktion wieder dem Bild-Chefredakteur, mithin Boenisch, der das Verlagsobjekt bis 1967 jedoch nur punktuell politisch instrumentalisierte. Verlegerisch entwickelte sich die Bild am Sonntag weitaus dynamischer als ihr Schwesterblatt von der Welt-Verlagsgesellschaft. Von 1960 bis 1967 verdoppelte die ehemalige Sonntagsausgabe annähernd ihre Auflage: von 1,4 Millionen auf 2,6 Millionen Exemplare.91 Im gleichen Zeitraum stiegen die Gesamterlöse von 16,8 Millionen auf 63,5 Millionen Deutsche Mark und das operative Ergebnis von 1,5 Millionen auf 10 Millionen Deutsche Mark.92 Ungeachtet dieser bemerkenswerten Zuwachsraten blieb die Umsatzrendite der Bild am Sonntag jedoch deutlich hinter der Marge des Mutterblattes zurück.

Zusammen verkauften beide Verlagsobjekte 1967 jeden Sonntag rund 3 Millionen Exemplare auf einem Markt, der abgesehen von den Samstagsausgaben der regulären Tageszeitungen frei von jeder direkten Konkurrenz war. Fast zwanzig Jahre nach der Gründung der Welt am Sonntag und mehr als zehn Jahre nach der Etablierung der Bild am Sonntag zeigte sich allwöchentlich, welchen unternehmerischen Spürsinn die Gründer der beiden Sonntagszeitungen einst an den Tag gelegt hatten. Vor allem aus dem Konzept eines redaktionell perfektionierten Boulevardblatts, das jeden Sonntag mittels einer eigenen Vertriebsorganisation bundesweit verkauft wurde, erwuchs ein Verlagsprodukt mit einer unangreifbaren Wettbewerbsposition. Allerdings sollte gerade Springers Alleinherrschaft auf dem Sonntagsmarkt bald Ausgangspunkt für Monopolvorwürfe sein, welche die breite öffentliche Kritik am Verlagshaus wesentlich befeuerten.

Hamburger Abendblatt: Jenseits der großen Politik

Während Die Welt und die Bild-Zeitung die publizistische Grundlage für Springers politisches Wirken darstellten und tagtäglich im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit standen, wurde das einst mit großer Leidenschaft begründete Hamburger Abendblatt im Verlauf der 1950er-Jahre zum Stiefkind des Verlegers. Zwar war die Hamburger Lokalzeitung längst zum festen Bestandteil der Erinnerungskultur des Verlagshauses geworden und die Darstellung ihrer Anfänge fehlte in keiner Festrede, auch dachte Springer gerne an die fernen Jahre zurück, die er nicht ohne Verklärung als die »Zeit meiner eigentlichen Liebe zum Beruf«94 bezeichnete – und doch war nicht zu leugnen: Weder die politische, noch die wirtschaftliche Bedeutung des Hamburger Abendblatts war, anders als in früheren Jahren, groß genug, als dass sich Springer oder die oberste Verlagsführung dem Blatt über die notwendigen Erfordernisse hinaus redaktionell oder unternehmensstrategisch gewidmet hätten.95 Zudem lag ein wichtiger Grund für die fehlende Aufmerksamkeit in der redaktionellen, finanziellen und personellen Kontinuität, auf die das Hamburger Abendblatt seit Mitte der 1950er-Jahre verweisen konnte.96 Seit 1952 stand mit Otto Siemer nicht nur einer der erfahrensten journalistischen Kräfte, sondern auch einer der engsten Vertrauten Springers der Redaktion vor.

Grafik 16: Entwicklung der Tageszeitung Hamburger Abendblatt (160–1970)108

Wesentliche Meinungsverschiedenheiten über den verlegerischen Kurs der Lokalzeitung gab es nicht. Aufgrund der übergeordneten Funktionen, die Siemer für den Gesamtverlag ausübte, konnten Verleger und Chefredakteur auf das Hamburger Abendblatt schon rein zeitlich nur am Rande eingehen. In seiner inhaltlichen Ausrichtung hielt die Zeitung an der redaktionellen Doktrin der Anfangsjahre fest, politische Themen nur in wohldosierter Form zu bringen. Zudem galt es mit Blick auf die liberale und sozialdemokratische Leserschaft, weiterhin auf politische Ausgewogenheit zu achten. Als politisches Sprachrohr war das Hamburger Abendblatt mithin wenig geeignet.

Erst unter Martin Saller, der Mitte 1965 den altersbedingt ausscheidenden Siemer abgelöst hatte, erfuhr das Blatt eine stärkere politische Betonung.97 Mit den eskalierenden Angriffen auf das Verlagshaus wurde der ergebene Chefredakteur zu den vehementesten öffentlichen Verteidigern des Verlegers, nicht ohne ihm den Vorwurf des Opportunismus und der fehlenden Distanz einzubringen.98 Die Auflagenschwäche des Hamburger Abendblatts führte jedoch im August 1969 zur Abberufung Sallers, dem Springer die Vernachlässigung der Lokalorientierung des Blattes vorwarf.99 Zudem hatte eine progressive Artikelserie zur Kirchenpolitik den Unmut des Verlegers geweckt, der Ende der 1960er-Jahre mit größter Empfindlichkeit auf nicht genehme Meinungsäußerungen seiner Redakteure reagierte.100 Zum Nachfolger benannte Springer den stellvertretenden Chefredakteur Werner Titzrath, der das Amt bis ins Jahr 1983 bekleiden sollte.101

Auf kaufmännischer Seite wurde im Dezember 1963 der zur Welt wechselnde Verlagsleiter Schreckenbach nach fast 10-jähriger Amtszeit durch den bisherigen Anzeigenleiter Rudolph Gothner abgelöst.102 Wie sein Vorgänger vermeldete Gothner Auflagenzahlen, welche die bemerkenswerte Kontinuität, aber auch die strukturelle Stagnation des Hamburger Abendblatts aufzeigten: Seit Mitte der 1950er-Jahre bewegte sich die durchschnittliche Auflage konstant um die Marke von 310.000 Exemplaren. Ende der 1960er-Jahre setzte allerdings ein Auflagenrückgang ein, den sowohl Springer als auch die Verlagsspitze auf die Vernachlässigung des Lokalprinzips und das veraltete redaktionelle Konzept zurückführten.103 Zudem schwächten die Abwanderungsbewegungen aus dem Hamburger Stadtgebiet die Lokalzeitung, die nach dem Ende des Lizenzzwanges bewusst auf eine Expansion in die umliegenden Gemeinden verzichtet hatte. Tatsächlich stellte Springer daher die einst »weise Selbstbeschränkung« nicht nur öffentlich in Frage, er gab auch seine Zustimmung für eine vorsichtige Expansion in das Hamburger Umland.104 In den folgenden Jahren beteiligte sich der Axel-Springer-Verlag geräuschlos an einer Reihe von Lokalzeitungen, darunter der Norderstedter Alster-Nord-Kurier, die Bergedorfer Zeitung oder die Lübecker Nachrichten.105 Zudem wurden einige lokale Wochenzeitungen übernommen, die zunehmend das angestammte Hamburger Abendblatt-Anzeigengeschäft im Stadtgebiet bedrohten. Die von Springer und der Verlagsführung geforderte Modernisierung des Blattes kam allerdings nicht über das Planungsstadium hinaus und offenbarte einen für das Ende der 1960er-Jahre nicht untypischen Mangel an Erneuerungsbereitschaft und Durchsetzungswillen im Verlagshaus.

Dank Preiserhöhungen und Anzeigenzuwächsen schlug sich der Auflagenrückgang jedoch nicht in den Gesamterlösen nieder. 1968 stiegen die Umsätze auf 79,4 Millionen Deutsche Mark – eine Verdoppelung innerhalb von zehn Jahren.106 Im gleichen Zeitraum stieg das operative Ergebnis von 6,3 Millionen auf 14,9 Millionen Deutsche Mark. Vor allem aufgrund umfassender Kostensenkungsmaßnahmen erreichte das Hamburger Abendblatt 1968 eine Umsatzrendite von fast 20 Prozent und bewies damit, dass die Lokalzeitung trotz der Auflageneinbußen auch zwanzig Jahre nach ihrer Gründung ein »wirtschaftlich kerngesundes« Verlagsobjekt war.107

Hör zu: Instrument innerdeutscher Programmpolitik

In eigentümlicher Form war auch die Programmzeitschrift Hör zu von Springers Politisierungskurs betroffen, als der Verleger den Abdruck des »ostzonalen« Rundfunk- und Fernsehprogramms in westdeutschen Verlagsobjekten zum Politikum machte und in den eigenen Publikationen schließlich einstellte. Bis Anfang 1960 war das DDR-Sendeprogramm selbstverständlicher Bestandteil sämtlicher Programmzeitschriften und Tageszeitungen, die in der Bundesrepublik publiziert wurden. Ende 1959 hielt Springer jedoch eine solche Praxis aus zweierlei Gründen nicht mehr für tragbar. Erstens sah er die Notwendigkeit eines reziproken Vorgehens, solange DDR-Publikationen den Abdruck von westdeutschen Sendeprogrammen ablehnten.109 Weitaus bedeutsamer war für den Verleger jedoch die Überlegung, mit einem Veröffentlichungsboykott den in der Bundesrepublik weitverbreiteten Konsum von DDR-Sendungen einzuschränken und auf diesem Weg potentielle propagandistische Einflüsse einzudämmen.110 Zur Durchsetzung seines politischen Ziels läutete er Anfang 1960 eine bislang beispiellose Kampagne gegen den DDR-Programmabdruck ein, in deren Rahmen er weder finanzielle Einbußen, noch den Einsatz seiner Marktmacht scheute. Rasch erreichte der Verbandslobbyist Hans Funk, dass sich die beiden Verlegerverbände für eine Boykott-Empfehlung aussprachen, während Springer persönlich wichtige Verleger und Meinungsführer für sein Vorhaben gewann.111 Im Juni 1960 hatte er nicht alle, aber zumindest die auflagenstärksten Programmpublikationen von einem Abdruckverzicht überzeugt, woraufhin die eigenen Verlagsobjekte, darunter vor allem die beiden Programmzeitschriften Hör zu und Ullsteins Radio-Fernseh-Revue, die Veröffentlichung des DDR-Sendeprogramms einstellten. Eher notgedrungen folgte Chefredakteur Rhein Springers politischem Ansinnen, wodurch die Auflage der Hör zu zeitweise zwischen 100.000 und 200.000 Exemplare verlor.112 Als der Düsseldorfer Verleger Kurt Müller im November 1960 den Ausstieg aus dem Programmboykott ankündigte, führte Springer seine ganze Marktmacht ins Feld.113 Auf Druck des Verlagshauses erklärten die wichtigsten Grossisten, Verlagsobjekte mit Ost-Programmen nicht mehr auszuliefern.114 Springers Exempel zeigte Wirkung: Müller stellte den unerwünschten Programmabdruck schließlich wieder ein.115 Nach dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 ging Springer in ähnlicher Form gegen fünf kleinere Verlage vor, die wohl aus rein wirtschaftlichen Gründen aus der Boykott-Front ausgeschert waren.116 In einem Rundbrief wandte er sich an alle westdeutschen Zeitschriftenhändler und verlangte die Nichtauslieferung der abtrünnigen Programmzeitschriften, andernfalls »werden die [eigenen] Verlagshäuser prüfen, ob sie es verantworten können, zu solchen Händlern die Geschäftsbeziehung fortzusetzen.« Dieser Vorstoß wurde alsbald durch eine einstweilige Verfügung gestoppt117 – dennoch warf der Vorgang ein unrühmliches Licht auf Springers Bereitschaft, seine wirtschaftliche Potenz in fragwürdiger Weise für eigene Ziele einzusetzen.118 In den folgenden Jahren wurde die Verlegerfront gegen den Programmabdruck immer löchriger. Nachdem im Frühjahr 1963 der Heinrich-Bauer-Verlag und im August 1964 Kindler & Schiermeyer die Phalanx verlassen hatten, entschied sich Springers Verlagshaus im September 1964, das DDR-Sendeprogramm im »Interesse der Leser in Berlin und den Zonenrandgebieten« wieder aufzunehmen.119 Fortan überließ er die Programmzeitschrift wieder ihrem bewährten unpolitischen Kurs, der selbst während der heftigen fernsehpolitischen Auseinandersetzungen120 nicht verlassen wurde.

Anfang der 1960er-Jahre zeichnete sich eine Abschwächung des jahrelangen Wachstums der Hör zu ab.121 1963 legte die Auflage nur noch leicht auf durchschnittlich 3,7 Millionen Exemplare zu.122 Dank des wachsenden Anzeigengeschäfts stiegen die Gesamterlöse zwischen 1960 und 1963 um rund 15 Prozent pro Jahr auf 150,9 Millionen, das Betriebsergebnis im gleichen Zeitraum von 11,7 Millionen auf 24,8 Millionen Deutsche Mark.123 Damit hatte sich Hör zu auch von der Eingliederung der defizitären Radio-Fernseh-Revue erholt, die im August 1961 auf Betreiben Krachts vom Ullstein-Verlag übernommen wurde.124 Zugleich war die Programmzeitschrift unvermindert das ertragreichste Verlagsobjekt Springers. Dennoch sank angesichts der stagnierenden Auflagenzahlen die Neigung der Verlagsführung, die ständigen Allüren und Empfindlichkeiten des Chefredakteurs Rhein und seines Stellvertreters Will Thederan zu akzeptieren. Vor allem die Verweigerungshaltung der beiden Lebensgefährten gegenüber unliebsamen Mitgliedern der Hör zu-Verlagsleitung war immer häufiger Gegenstand von Aktennotizen und Gesprächen auf der Geschäftsführungsebene.125 Springer kamen parallel zunehmend Zweifel, ob Rhein noch in ausreichendem Maße das früher so untrügliche Gespür für die Bedürfnisse seiner Leser besaß.126 Insbesondere war erkennbar, dass der 60-jährige Chefredakteur weder willens noch fähig war, Antworten auf den Wandel des Familienbildes und die Anliegen der jungen Leser zu geben.127 Die spezifischen Schwächen der Hör zu fielen Anfang der 1960er-Jahre mit Marktsättigungstendenzen zusammen, die durch ein wachsendes Angebot an Programmzeitschriften und den zunehmenden Programmabdruck in Tageszeitungen wie Illustrierten verschärft wurden. Jenseits des Unvermögens, auf geänderte Leserbedürfnisse und Wettbewerbsstrukturen zu reagieren, verkannte Rhein zudem die wachsende Bedeutung des florierenden Anzeigengeschäftes und sperrte sich jeglichen Erfordernissen, die erhöhte Insertionsumfänge und Qualitätsansprüche an die redaktionelle Gestaltung der Programmzeitschrift stellten.128 Als im Herbst 1964 bekannt wurde, dass die Auflage des abgelaufenen Quartals um fast 300.000 unter dem Vorjahreszeitraum lag, fiel im November 1964 Springers Trennungsentschluss. In einem kurzen, sehr nüchternen Gespräch am Hamburger Falkenstein entließ er seinen ersten Chefredakteur, der wie kein anderer Anteil an seinem verlegerischen Erfolg gehabt hatte. Mit großzügigen Abfindungen und Ruhestandszahlungen versehen, verließ der knapp 65-jährige Rhein zutiefst verbittert seine jahrelange Wirkungsstätte.129

Schon vor dem Trennungsgespräch hatte der Verleger entschieden, dass Hans Bluhm, der ehemalige Chefredakteur der Bild am Sonntag, die Redaktionsleitung der Programmzeitschrift übernehmen sollte.130 Verflogen war offenbar Springers Unmut über die regierungskritische Haltung, die Bluhm während der Spiegel-Affäre an den Tag gelegt hatte.131 Nichtsdestotrotz kam es Springer sehr gelegen, mit der gänzlich unpolitischen Programmzeitschrift ein unkritisches Betätigungsfeld für den begabten, aber nicht unbedingt »linientreuen« Journalisten gefunden zu haben. Viel entscheidender war jedoch, dass er dem 42-jährigen Bluhm zutraute, der verstaubten Programmzeitschrift neue Impulse zu geben und den Auflagenverfall zu stoppen. Tatsächlich gelang es dem weitgehend autonom agierenden Chefredakteur, den Zeitschriftenabsatz mit einem redaktionellen und personellen Modernisierungskonzept nicht nur zu stabilisieren, sondern sogar leicht zu steigern.132 Ohne den Charakter der Familienzeitschrift grundlegend zu verändern, griff Bluhm nun stärker die vielfältigen Interessen und Lebensstile des individuellen Lesers, darunter auch die des jungen Lesers, auf. Nicht mehr zeitgemäße Rubriken mussten neuen redaktionellen Elementen weichen, zu denen erstmals auch die gesellschaftliche Berichterstattung aus der Film- und Fernsehbranche zählte. Begleitet wurden Bluhms redaktionelle Maßnahmen durch personelle Veränderungen und die Etablierung eines Führungsstils, der Eigenverantwortung und Teamorientierung förderte. Bis Ende der 1960er-Jahre wuchs die durchschnittliche Auflage in einem gesättigten Markt von 3,6 Millionen auf mehr als vier Millionen Exemplare.133 Zugleich wertete Bluhm die Programmzeitschrift mit unterschiedlichen Maßnahmen auf, um sie für Anzeigenkunden attraktiver zu machen. Beispielhaft sei die 1966 erstmals verliehene »Goldenen Kamera« genannt. Auflagenzuwächse, Preiserhöhungen und das florierende Anzeigengeschäft ließen die Gesamterlöse zwischen 1963 und 1970 von 151 Millionen auf mehr als 252 Millionen Deutsche Mark klettern. Gleichzeitig legte das Betriebsergebnis im selben Zeitraum von 25 Millionen auf 44 Millionen Deutsche Mark zu. Die Hör zu erwirtschaftete 1970 mehr als ein Viertel des Konzernumsatzes und blieb Springers ertragsstärkstes Verlagsobjekt.

Weitaus weniger erfolgreich entwickelte sich die österreichische Ausgabe der Hör zu, die im Dezember 1962 mit einer Startauflage von 120.000 in der Alpenrepublik erschien.134 Rasch wurde den Beteiligten klar, dass der Hör zu-Ableger keine Aussicht auf ein ausreichendes Auflagenvolumen hatte. Aus Prestigegründen wurde die Programmzeitschrift jedoch ungeachtet der jährlichen Verluste im niedrigen einstelligen Millionenbereich fortgeführt.135

Der Mittag: Wettbewerbspolitik an Rhein und Ruhr

Die Entwicklung der Verlagsobjekte in den 1960er-Jahren machte deutlich, dass Springer nur begrenzt bereit war, unternehmerische Prinzipien dem politischen Engagement unterzuordnen. Neben seinen verlegerischen Interventionen bei Auflagenrückgängen zeigte sich seine unternehmerische Entschlossenheit vor allem bei der Verteidigung von Marktanteilen und der Abwehr potentieller Mitbewerber. Das gewichtigste und zugleich verlustträchtigste Beispiel für wettbewerbspolitische Maßnahmen in dieser Zeit war die Beteiligung an der Düsseldorfer Boulevardzeitung Der Mittag, die darauf abzielte, die Bild-Zeitung an Rhein und Ruhr vor unliebsamer Konkurrenz zu schützen.

Im Oktober 1963 wurde Springer von Anton Betz, dem Verleger der Rheinischen Post, über die Pläne des Münchener Verlagsunternehmers Helmut Kindler informiert, den defizitären Mittag vom Droste-Verlag zu übernehmen und als morgendliche Straßenverkaufszeitung gegen die Bild-Zeitung zu positionieren.136 Springer war alarmiert; drohte doch ein runderneuerter Mittag, der Bild-Zeitung in Nordrhein-Westfalen Leser und Anzeigenkunden mit Hilfe von Lokalausgaben streitig zu machen, die dem eigenen Blatt aus politischen Gründen verwehrt waren.137 Betz wiederum wollte offenbar keine auswärtigen Wettbewerber am Verlagsplatz Düsseldorf dulden. Rasch waren sich die beiden freundschaftlich verbundenen Verleger einig, den Mittag selbst zu übernehmen und als überregionale, am Mittag erscheinende Straßenverkaufszeitung ohne Lokalausgaben zu positionieren.138 Nachdem Chefjustitiar Arning und Bild-Verlagsleiter von Bargen die Verhandlungen im Dezember 1963 zum Abschluss geführt hatten, begründeten die Axel Springer & Sohn KG mit einem Anteil von 60 Prozent und die Rheinisch-Bergische Druckerei- und Verlagsgesellschaft mbH mit einem Anteil von 40 Prozent die Mittag Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, die nachfolgend den Mittag vom Droste-Verlag für insgesamt 700.000 Deutsche Mark übernahm.139 Während das Schwesterblatt, die Spätausgabe, eingestellt wurde, erfuhr der Mittag nach dem Vorbild der Berliner B.Z. eine inhaltliche und graphische Runderneuerung, die von Springer jedoch nur in Grundzügen begleitet wurde.140 Tatsächlich gelang es dem neuen Chefredakteur Hermann Rasch bis Ende 1966, die verkaufte Auflage von rund 50.000 auf 250.000 zu verfünffachen.141 Dennoch musste der verantwortliche Bild-Verlagsleiter von Bargen bald erkennen, dass die erzielte Auflage nicht ausreichte, um nachhaltig überregionale Anzeigenkunden zu gewinnen und so den Ein-Objekt-Verlag ohne Kostensynergien aus der Verlustzone zu führen. Es türmten sich kräftige Verluste auf, die im Durchschnitt bei mehr als 5 Millionen Deutsche Mark pro Jahr lagen, von denen Springers Verlagskonzern 60 Prozent zu tragen hatte. Nach rückläufigen Auflagenzahlen in der ersten Hälfte 1967 empfahl von Bargen die Einstellung des Mittags oder dessen Umwandlung in eine Lokalzeitung. Eine weitere Möglichkeit bestand darin, das Blatt mit Verlust zu veräußern. Angesichts der sich 1967 verschärfenden öffentlichen Angriffe kam die Umwidmung in eine Lokalzeitung zu diesem Zeitpunkt noch weniger in Frage als in den Vorjahren. Ein Verkauf an den Kölner Verleger Alfred Neven DuMont oder die WAZ-Gruppe wiederum hätte genau die Situation heraufbeschworen, die mit dem Erwerb der Mittag-Verlagsgesellschaft hatte verhindert werden sollen. So blieben Springer die beiden Alternativen der verlustträchtigen Fortführung oder der Einstellung. Er zögerte – wohl nicht allein wegen der harten personellen Einschnitte, die ihm insbesondere im redaktionellen Bereich zuwider waren, sondern auch mit Blick auf die zu erwartende negative öffentliche Resonanz. Damit reagierte Springer so, wie er es später in ähnlichen Situationen regelmäßig tun sollte: Er vertagte die Entscheidung. Erst Betz’ Wunsch, den Minderheitsanteil an der Mittag Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG abzugeben, setzte den Hamburger Verleger im September 1967 unter Zugzwang.142 Springer stimmte schließlich der sofortigen Einstellung des Mittags zu.

Einige Tage nach Bekanntwerden der Entscheidung ließ Augstein den beiden Verlegern das zweifelhafte Angebot zukommen, den Mittag für eine Million Deutsche Mark zu übernehmen.143 Im sicheren Wissen um die Ablehnung war die Offerte des Spiegel-Verlegers ein subtiler Schachzug, der es ihm ermöglichte, Springer öffentlich den guten Willen für eine Fortführung des Blattes abzusprechen und zugleich die zerstörerische Marktmacht des Axel-Springer-Verlags zu geißeln.144 Zahlreiche andere Publikationen, darunter Die Zeit, schlossen sich dem Spiegel an und übten ebenfalls scharfe Kritik an Springer.145 Die Gewerkschaft Druck und Papier nahm die Einstellung des Mittags zum Anlass, öffentlichkeitswirksame Protestkundgebungen gegen die »Willkür Springers« zu veranstalten.146 Indessen sprach der Mittag-Betriebsrat dem Verleger seinen Dank für die Bemühungen aus, »Härten im Zusammenhang mit der Entlassung der Belegschaft zu vermeiden«. Ein Großteil der freigesetzten Mitarbeiter fand im Sinne der Sozialorientierung des Axel-Springer-Verlags eine Anstellung im Mutterkonzern.147 So war es am Ende Springer zwar gelungen, unliebsame Konkurrenz an Rhein und Ruhr abzuwehren, doch zahlte das Verlagshaus mit einem Gesamtverlust von mehr als 12 Millionen Deutsche Mark und einem erheblichen öffentlichen Reputationsschaden einen hohen Preis für dieses wettbewerbspolitische Manöver.