Karl Andreas Voss: »Der ideale Partner«282

»Der himmelstürmenden Ideen gab es genug. Ich spürte aber unbewußt, daß etwas Wesentliches fehlte; die ordnende Hand, ohne die große Träume nicht Wirklichkeit werden.«283

Die »ordnende Hand«, von der Axel Springer Jahrzehnte später sprach, wurde im Jahre 1946 Karl Andreas Voss, der mitten in den Vorbereitungen für die neue Rundfunkzeitschrift in das junge Verlagshaus eintrat, die Verantwortung für die kaufmännischen Bereiche übernahm und wesentliche Grundlagen für den verlegerischen Erfolg Springers schuf.284 Eine symbiotische Beziehung entstand, die über anderthalb Jahrzehnte Springers unstete schöpferische Kraft mit Voss’ verlagskaufmännischer Erfahrung, Urteilskraft und Disziplin zusammenführte. Im Juni 1946 hatte Springer den ehemaligen Verlagsdirektor des Broschek-Verlags durch Vermittlung seines Freundes Felix Jud und des Wirtschaftsprüfers C. H. A. Meier kennengelernt.285 Jahre später sollte er über die erste Begegnung mit seinem späteren Teilhaber sagen:

»Da ging eines Tages die Tür auf, ein Besucher trat ein, der sich angesagt hatte und für ein Flensburger Unternehmen Druckaufträge akquirieren wollte. […] Schon bei diesem ersten Zusammentreffen begannen wir, über Verlagspläne zu sprechen. Die Druckaufträge für Flensburg waren fast vergessen. Bereits vor diesem Gespräch hatten mich etliche Freunde auf Karl Andreas Voss aufmerksam gemacht. Einer war Felix Jud. ›Wenn Du einen Mann brauchst, der ganz anders ist als Du, der Dir sagt, welche Deiner himmelstürmenden Pläne verwirklicht werden können, der dir dann bei der Verwirklichung hilft, der die Ordnung schafft, die du brauchst, dann denke an Karl Andreas Voss, der sich schon ein Leben lang als Verlagsfachmann bewährt hat.‹. Je länger ich an jenem Frühjahrstag mit Voss sprach, um so mehr merkte ich, daß ich hier einem Mann begegnete, der nicht nur ein guter Zuhörer war, sondern auf Ideen einging, Gedanken weiterspann und meinen für viele Ohren phantastisch klingenden Plänen neben Skepsis auch Verständnis entgegenbrachte. Einem Mann, der, so schien mir, recht schnell zu mir Vertrauen gefunden hatte. […] Als er mein Büro verließ, sah ich ihm sinnend nach. Ich wünschte mir, er könne mein Partner werden. Ja, ich wußte eigentlich zu diesem Zeitpunkt schon, daß er mir beistehen würde, den Weg zu gehen, vom dem ich in den Kriegsjahren in der Lüneburger Heide so lebhaft geträumt hatte.«286

Offenbar hatte Springer im Frühjahr 1946 die Notwendigkeit einer Erweiterung der Verlagsführung erkannt. Ungeachtet seines Hanges zur Selbstüberschätzung wusste er, dass in verlagskaufmännischen Fragestellungen die eigenen Qualifikationen, Erfahrungswerte und persönliche Neigungen begrenzt waren. Zudem benötigte Springer Mitte 1946 in rein personeller Hinsicht Entlastung von Führungsaufgaben, die zu jener Zeit sowohl bedeutsame unternehmenspolitische Fragen, wie die Entwicklung von neuen Verlagsprodukten, das Erwirken von Lizenzen287, die Einstellung wichtiger Mitarbeiter und den Kontakt zu deutschen und britischen Entscheidungsträgern, als auch operative Aufgaben, vor allem alltägliche Beschaffungsfragen einschlossen. Vor diesem Hintergrund war das Zusammentreffen von Springer und dem 53-jährigen Verlagsexperten im Juni 1946 ein außerordentlich glücklicher Umstand, denn Letzterer verfügte nicht nur über eine entsprechende verlagskaufmännische Expertise und ein umfassendes Netzwerk zu potentiellen Mitarbeitern und Geschäftspartnern, sondern war auch aus verschiedenen Gründen bereit, für den zwanzig Jahre jüngeren Verleger tätig zu werden.

Seine ersten journalistischen Erfahrungen machte der 1892 geborene Voss als Berichterstatter für die Magdeburgische Zeitung während seines Studiums der Volkswirtschaftslehre und der Politikwissenschaften.288 1925 wechselte er zunächst als Verlagsdirektor, später als Geschäftsführer in den kaufmännischen Bereich des Faber-Verlags, der die Magdeburgische Zeitung herausgab. Nach einer militärischen Verwendung zu Beginn des Zweiten Weltkrieges siedelte Voss 1940 nach Hamburg über, um in die Verlagsleitung der Broschek & Co. KG einzutreten, die drei Jahre zuvor zwangsweise von einem NSDAP-Pressekonzern übernommen worden war.289 In seiner offenbar unpolitischen kaufmännischen Funktion baute Voss, inzwischen NSDAP-Parteimitglied290, zahlreiche Kontakte zu Hamburger Journalisten, Verlagsmanagern und Geschäftspartnern auf. Nachdem er, wie alle Führungskräfte nationalsozialistischer Presseunternehmen, 1945 von den Briten entlassen worden war, strebte Voss eine journalistische oder verlegerische Betätigung an, die ihm jedoch aufgrund seiner Vergangenheit verwehrt blieb. Stattdessen übernahm er wenige Monate später die Geschäftsführung des von der britischen Besatzungsmacht requirierten Holsteiner Kuriers in Flensburg, in dessen Auftrag er im Juni 1946 bei Springer vorsprach. Wie oben bereits deutlich wurde, hinterließ die Unterredung einen tiefen Eindruck; kurze Zeit später bot Springer Voss eine Stelle als Verlagsdirektor an.291 Die Aussicht, wieder in Hamburg für einen kleinen, aber zukunftsträchtigen Verlag mit großen Gestaltungsspielräumen tätig zu werden, ließ Voss rasch zustimmen.292 Allerdings dauerte es Monate, bis er die Prüfverfahren der zuständigen britischen Dienststellen durchlaufen hatte und schließlich als politisch unbedenklich eingestuft wurde. So kam es, dass der Beginn der Ära Voss im Dezember 1946 mit dem erstmaligen Erscheinen der Programmzeitschrift Hör zu zusammenfiel. Fortan lag die Verantwortung für die Verlagsverwaltung in den Händen von Voss, der in den folgenden Monaten die betrieblichen Voraussetzungen für den verlegerischen Erfolg Springers schuf und das überschaubare Buch- und Zeitschriftengeschäft zu einer professionellen Verlagsorganisation ausbaute. Die sich formierenden personellen, funktionalen und gesellschaftsrechtlichen Strukturen sollten fast anderthalb Jahrzehnte das Fundament eines Verlagshauses bilden, das sich in dieser Zeit zu einem Pressekonzern mit über 10.000 Mitarbeitern entwickelte.293 Allein 1947 wuchs die Belegschaft von rund zehn auf über 60 Mitarbeiter, von denen viele auf Vermittlung von Voss ihren Weg in das Verlagshaus fanden.294 Doch es war nicht allein die Personauswahl, sondern auch die Personalführung, durch die der Majordomus das Verlagshaus auf Jahre prägen sollte. Einhellig heben Zeitzeugen die Führungsqualitäten von Voss hervor, vor allem seine Verbindlichkeit, Fairness und Verlässlichkeit, die sich von manchen negativen Aspekten der Menschenführung Springers, insbesondere von dessen Unstetigkeit, cholerischen Impulsivität und Selbstbezogenheit unterschied.295 Nicht nur bei der Rekrutierung von rar gesäten Verlagsexperten, sondern auch in den Verhandlungen mit Lieferanten und Banken profitierte er von den langjährig gewachsenen Verbindungen seines neuen Hausmeiers, der in der Hamburger Verlagsbranche ein hohes Vertrauen genoss.296 Begleitet wurde die Aufbauarbeit von einem eisernen Sparkurs, den Voss wohl nicht nur aufgrund der schwierigen Liquiditätslage 1947 und 1948, sondern auch mit Blick auf das großzügige Ausgabeverhalten von Springer initiiert hatte.

Aufstieg zum Teilhaber

Im Januar 1949 starb Hinrich Springer an den Folgen einer fortschreitenden Schüttellähmung.297 Axel Springers unternehmerischen Schaffensdrang konnte der Tod des Vaters nicht beeinträchtigten. Mit seinem Ableben gingen die Geschäftsanteile von Hinrich Springer vertragsgemäß auf seinen Sohn über.298 Gegen den Willen seiner Mutter räumte Springer Voss bereits im Februar 1949 eine Beteiligung an den beiden Verlagsgesellschaften, der Hammerich & Lesser Verlag GmbH und der Axel Springer Verlag GmbH, in Höhe von jeweils 10 Prozent zum Nennwert ein,299 behielt sich jedoch ein jederzeitiges Rückkaufsrecht vor.300 Gleichzeitig brachte der neue geschäftsführende Gesellschafter die von ihm betriebene Versandbuchhandlung, die Bücherdienst für Handel und Industrie Voss & Co. KG in das Verlagshaus ein, deren Anteile teilweise von Hammerich & Lesser übernommen wurden. Nach dem Beschluss über die Errichtung einer eigenen Zeitungsrotation beteiligte Springer Voss im Mai 1950 zudem mit ebenfalls 10 Prozent an der Druckereigesellschaft Springer & Sohn. Springers Beweggründe, Voss zum Teilhaber aller Verlagsgesellschaften zu machen, sind nicht überliefert; gleiches gilt für denkbare Beteiligungswünsche von Voss. Naheliegend ist, dass Springer den Verlagsfachmann für unverzichtbar hielt und dauerhaft an das Unternehmen binden wollte. Wesentliche Grundlage für die Zusammenarbeit war das Zusammenspiel aus einer starken Vertrauensbasis, der neidlosen Anerkennung der verlegerischen Führungsrolle Springers und dem ungeteilten Respekt für die verlagskaufmännische Kompetenz des Teilhabers – im Übrigen eine Kompetenz, von der Springer überzeugt war, dass sie stets im »Wissen um das Geheimnis der journalistischen Aufgabe«301 ausgeübt würde. Ungeachtet der unterschiedlichen Charakterzüge des extrovertiert-impulsiven Verlegers und des selbstbeherrscht-zurückhaltenden Teilhabers blieben Konflikte bis zu Beginn der 1960er-Jahre weitgehend aus. Eine bemerkenswerte Arbeitsteilung hatte sich etabliert.

Merlin: Beispiel für verlegerische Fehlentscheidungen

Beispielhaft für die zahlreichen verlegerischen Ideen, die von Springer mit Begeisterung entwickelt wurden, alsbald auf dem Schreibtisch von Voss landeten und gegebenenfalls eines steuernden Eingriffs bedurften, war die Zeitschrift für »Grenzwissenschaften und Schicksalskunde« Merlin.302 Ihr Ursprung lag in Springers leidenschaftlichem Interesse für »antimaterialistische« Themen, vor allem die Astrologie.303 In den 1940er- und 1950er-Jahren stand er in regelmäßigem Kontakt mit seiner Astrologin Ina Hetzel, nach deren Horoskopen er sogar seine Terminplanung ausrichtete.304 So wundert es nicht, dass Springer mit Enthusiasmus auf den Vorschlag des bekannten Psychotherapeuten, Homöopathie-Experten und Esoterikers Herbert Fritsche reagierte, eine »Zeitschrift auf parapsychischen, grenzwissenschaftlichen, okkulten und kosmologisch-astrologischen Gebieten« herauszugeben.305 Bereits im September 1948 erschien die erste Folge der Schriftenreihe mit dem bezeichnenden Titel Merlin. Schriftenreihe für Grenzwissenschaften und Schicksalskunde.306 Als Herausgeber fungierte Herbert Fritsche. Ungeachtet der großen Popularität, die astrologische Fragenstellen in der Nachkriegszeit genossen, stießen Themen, wie »Hellsehen als Forschungsweg« oder der »Verzicht auf Nirvana« offenbar nur auf begrenztes Interesse.307 Bereits nach der dritten Folge wurde das okkulte Zeitschriftenexperiment sicherlich nicht ohne Erleichterung seitens der Verlagsleitung beendet.

Abbildung 4: Axel Springer mit Karl Andreas Voss und Verlagsdirektor Hans Funk (1952)

Entfremdung und Rückzug

Ende der 1950er-Jahre begann sich das Verhältnis zwischen den beiden Gesellschaftern zu verschlechtern, als Voss dem politischen Primat Springers nicht folgen wollte, die hohen Investitionen in Berlin ablehnte und sich die Weggefährten innerlich wie äußerlich entfremdeten.308 Gleichzeitig wuchsen Springers Zweifel, ob der fast 70-jährige Teilhaber den Anforderungen der Verlagsführung noch gewachsen war. In der Folge übertrug er sukzessive wesentliche Führungsaufgaben auf Christian Kracht, bevor Voss im September 1962 schließlich aus allen Geschäftsführungspositionen ausschied und seine Gesellschaftsanteile deutlich reduzierte.309 Ende 1969, vor der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft, gab Voss seine letzten Verlagsbeteiligungen zurück.310 Ohne jemals wieder maßgeblichen Einfluss zu entwickeln, blieb der passionierte Reiter und Pferdezüchter dem Verlagshaus bis zu seinem Tode im April 1977 als bedeutungsloses Aufsichtsratsmitglied verbunden. Bereits zum Ende der 1960er-Jahre hatte sich das persönliche Verhältnis zwischen dem Verleger und dem alten Teilhaber nicht zuletzt unter dem Eindruck der öffentlichen Angriffe auf das Verlagshaus allerdings wieder verbessert.311 Aus unternehmenspolitischen Gründen, aber auch aus persönlicher Anhänglichkeit und Sentimentalität, pflegte Springer in späteren Jahren ein ehrenvolles Gedenken an seinen »idealen Partner« Karl Andreas Voss.