Resignation und Rückzug

Die monatelange Kaskade besorgniserregender Ereignisse, das weltpolitische Geschehen, die gesellschaftlichen Umbrüche, die gewaltsamen Ausschreitungen, die vielfältigen Angriffe auf das Unternehmen, die persönlichen Anfeindungen, die Debatte um die wirtschaftliche und publizistische Stellung des Verlagshauses und die fernsehpolitischen Rückschläge – das alles hatte im Frühjahr 1968 tiefe Spuren in der Psyche des Verlegers hinterlassen. Während er im großen wie im kleinen Kreis weiterhin den glänzenden Verleger, den tatkräftigen Unternehmer oder den beherzten politischen Vorkämpfer gab, war der 56-Jährige innerlich zunehmend von Resignation erfüllt. »Das Destruktive ist ein Zeichen unserer Zeit«, fasste er im September 1968 nicht nur seine Abscheu vor den gewaltsamen Auseinandersetzungen der letzten Monate, sondern auch sein Unverständnis über die gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen.88 Die Protestbewegung stellte in seinen Augen vor allem die freiheitliche Grundordnung, das Eigentumsrecht, das Leistungsprinzip und die Aufbauarbeit der Nachkriegsgeneration in Frage. Zudem bedrohten die Protagonisten des gesellschaftlichen Umbruchs im Zusammenspiel mit interessierten publizistischen und politischen Kreisen sein verlegerisches Lebenswerk und in gewissen Auswüchsen auch seine persönliche Existenz. Längst stand nicht nur das Verlagshaus, sondern auch Springer selbst unter polizeilicher Bewachung. »Der Mann, der die Freiheit liebte, lebte unter Polizeischutz«, umschrieb Boenisch die schweren persönlichen Belastungen, die aus der Bedrohungslage erwuchsen.89 Besonders schmerzlich war für Springer, dass das Ziel seines ganzen politischen Wirkens, die deutsche Wiedervereinigung, ferner denn je schien. Er war fest davon überzeugt, dass zahlreiche gesellschaftliche Kräfte in der Bundesrepublik, insbesondere die Sozialdemokraten unter Führung von Willy Brandt, sich nicht nur mit dem traurigen Status Quo abgefunden hätten, sondern mit der propagierten Politik der Annäherung auch zur Stabilisierung des kommunistischen Herrschaftssystems beitrügen.90 Mit Verbitterung stellte Springer fest, dass er mit seinem Ruf nach einem konfrontativen Kurs gegenüber Ost-Berlin und Moskau auf eine wachsende Skepsis in der Öffentlichkeit stieß – nicht nur infolge eines sich wandelnden Meinungsklimas, sondern auch aufgrund der starken Ansehensverluste, die er im Rahmen der politischen Auseinandersetzungen hinnehmen musste. »Nach Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß wird nun mir die Ehre zuteil, Buhmann der Nation zu sein«, konstatierte der Verleger in Februar 1968.91 Zudem wuchs in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre das Gefühl der Entfremdung vom eigenen Unternehmen, das in seinen Dimensionen und Strukturen aus seiner Sicht immer weniger greifbar war.92 Nur noch ein kleiner Teil der Verlagsobjekte weckte seine verlegerische Leidenschaft; nur wenigen Führungskräften fühlte er sich persönlich verbunden. Mehr und mehr wurde dem Verleger das eigene Unternehmen zur Last. Spätestens in diesen Krisenmonaten wird es Springer auf schmerzhafte Weise deutlich geworden sein, dass niemand aus der Familie bereit stand, um das Lebenswerk fortzuführen. Seine Tochter Barbara war nie als Nachfolgerin in Betracht gekommen und lebte zurückgezogen in der Schweiz. Dem in jungen Jahren zum Erbsohn stilisierten Axel Springer junior mangelte es an Interesse und aus Sicht des Vaters an unternehmerischem Format, um eines Tages das Verlagshaus zu führen.93 Der zweite Sohn, Raimund Nicolaus, war noch im Kindesalter.94

Die Resignation über die politischen Entwicklungen, die Verbitterung über die öffentlichen Angriffe, die Sorgen vor dem wirtschaftlichen Niedergang, die Entfremdung von seinem unternehmerischen Lebenswerk und die beständigen existentiellen Ängste hatten sich im Frühjahr 1968 längst zu einer Lebenskrise, einer zweiten Midlife Crisis, verdichtet, die mehrere Monate anhalten sollte. Während die Lebenskrise der Jahre 1956 und 1957 Springers Religiosität und politische Mission begründete, sind die Folgen des persönlichen Tiefpunktes Ende der 1960er-Jahre weitaus schwerer zu greifen. Als wesentliche Konsequenz der Lebenskrise lässt sich Springers Emanzipation vom unternehmerischen Lebenswerk ausmachen – eine Emanzipation, die sich kurzfristig im radikalen Wunsch niederschlug, das Unternehmen zu verkaufen – und die mittelfristig dazu führte, dass der unternehmerische Schaffensdrang des Verlegers weitgehend erlosch.

Der Verzicht auf das Zeitschriftengeschäft

Während Kracht im Auftrag des Verlegers erste Pläne für einen Verkauf des Gesamtunternehmens ausarbeitete, traf dieser im Mai 1968 überraschend die Entscheidung, mit Kindler & Schiermeyer und dem Neuen Blatt weite Teile seines Zeitschriftenimperiums zu veräußern. Die genauen Hintergründe seines Beschlusses bleiben aus heutiger Sicht weitgehend im Dunkeln. Sachlich zielte der Akt der Selbstbeschneidung offenbar darauf ab, die öffentliche Kontroverse um das Verlagshaus nachhaltig zu entkräften und die von der »Günther-Kommission« empfohlenen Marktbegrenzungs- und Entflechtungsmaßnahmen zu verhindern. Zudem reagierte Springer auf die lauter werdende Kritik aus konservativen Kreisen, die das Münchener Zeitschriftenspektrum als sexistisch und jugendgefährdend geißelten. Insbesondere Gerhard Stoltenberg, ein politischer Vertrauter des Verlegers und damals Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, schien die Verkaufsentscheidung erheblich befördert zu haben.95 Von grundlegender Bedeutung für den verlegerischen Rückzug war zudem die resignative Verfassung des Verlegers.96 Unbekannt ist die Rolle Krachts, der durch die Verkaufsentscheidung eines bedeutsamen verlegerischen Betätigungsfeldes beraubt wurde und auf Springers Ansinnen mit Verbitterung reagierte. Dass der Verleger eine solch schwerwiegende Entscheidung gegen den Wunsch seines Majordomus traf, offenbarte einen schon länger andauernden Entfremdungsprozess zwischen dem »Zar« und seinem »Zimmermann«.97

Dem Ziehsohn oblag es nun, das von ihm maßgeblich aufgebaute Zeitschriftenunternehmen zu verkaufen.98 Im Juni 1968 nahm Kracht Gespräche mit den Gruner & Jahr-Gesellschaftern Jahr, Bucerius und Gruner auf, die sich jedoch nur für die Münchener Zeitschriften interessierten.99 Das Neue Blatt bot der Generalbevollmächtigte daraufhin dem Heinrich-Bauer-Verlag an, der das ertragsstarke Objekt schließlich für rund 33 Millionen Deutsche Mark übernahm.100 Unterdessen führte Kracht die Verhandlungen mit Gruner & Jahr fast bis zum Abschluss, der jedoch in letzter Minute durch den Einspruch der beiden Chefredakteure Hagen und Prinz verhindert wurde.101 Hintergrund waren die Befürchtungen des einflussreichen Journalistenduos, unter dem erklärten Jasmin-Kritiker Bucerius ihre redaktionelle Autonomie einzubüßen. Eilig sah sich Kracht nach Alternativen um und stieß auf den Stuttgarter Verleger Hans Weitpert, mit dem der Axel-Springer-Verlag bereits über das Druckhaus Tempelhof in geschäftlichen Verbindungen gestanden hatte. Innerhalb weniger Tage wurden Kracht und Thomas Bernhard, der Verhandlungsführer von Weitpert, handelseinig, während die Verlagsbranche noch von einem Verkauf an Gruner & Jahr ausging. Ende Juni 1968 verkündete Weitpert der überraschten Öffentlichkeit die Übernahme des Kindler & Schiermeyer-Verlags.102 Der Kaufpreis für das Münchener Verlags- und Druckereiunternehmen betrug 73 Millionen Deutsche Mark, für deren Zahlung dem finanzschwachen Weitpert großzügige Zahlungsziele gewährt wurden.103 Neben den Publikumszeitschriften trennte sich der Verleger von den Fachzeitschriften, die in der Ullstein GmbH lediglich ein »Dasein am Rande fristeten« und zudem rückläufige Ergebnisse erwirtschafteten.104 Im August 1968 veräußerte Kracht die Fachzeitschriften Bauwelt, Export Echo und Adhäsion für 1,4 Millionen Deutsche Mark an den Bertelsmann-Fachverlag.105 Im gleichen Monat folgte das defizitäre Sportmagazin Kicker, das für 3 Millionen Deutsche Mark an die Nürnberger Olympia Verlag GmbH verkauft wurde.106

Nach Bekanntgabe des Verkaufs von Kindler & Schiermeyer an den weitgehend unbekannten Stuttgarter Verleger keimten sogleich Gerüchte auf, Weitpert agiere nur als Strohmann für Springer.107 Wie unberechtigt diese mit deutlichen Worten dementierten Vorwürfe waren, zeigte der bereits im Juli 1968 stattfindende Weiterverkauf der Jugendzeitschrift Bravo an den Bauer-Verlag.108 Zudem verhandelte Weitpert mit Gruner & Jahr über die Veräußerung von Eltern, Jasmin und Twen. Hintergrund waren Weitperts Liquiditätsschwierigkeiten, die den Axel-Springer-Verlag um die noch ausstehenden Kaufpreisanteile von mehr als 40 Millionen Deutsche Mark fürchten ließen.109 Hektisch eingeleitete Maßnahmen mündeten schließlich in einer findigen Lösung, die offenbar auf den Generalbevollmächtigten zurückging. Auf Druck des Hamburger Verlagshauses musste Weitpert im September 1968 Ernst Naumann, dem langjährigen Zeitschriftendirektor Springers, eine 10-prozentige Beteiligung an der Kindler & Schiermeyer GmbH einräumen und ihn als Geschäftsführer mit weitreichenden Vollmachten akzeptieren.110 Nach erfolgreichen Sanierungsmaßnahmen und zwischenzeitlichen Verhandlungen mit dem Bauer-Verlag gelang es Naumann im Februar 1969, Kindler & Schiermeyer an Gruner & Jahr zu veräußern.111 Als Folge des Eigentümerwechsels konnte die Axel Springer & Sohn KG den ausstehenden Kaufpreis von Weitpert vereinnahmen.

Springer zog einen endgültigen Schlussstrich unter das Münchener Engagement, das zwar nie sein verlegerisches Interesse gefunden hatte, aber mit einem Nettogewinn von annähernd 50 Millionen Deutsche Mark verbunden gewesen war.112 Gleichzeitig verzichtete Springer auf ein aussichtsreiches verlegerisches Betätigungsfeld und überließ es den Verlagshäusern Gruner & Jahr und Heinrich Bauer. Während Springers unternehmerischer Nimbus erheblich an Glanz verlor und zahlreiche Führungskräfte des Verlagshauses auf den verlegerischen Rückzug mit Unverständnis reagierten,113 feierten weite Teil der Öffentlichkeit den Schritt als »weise Selbstbeschränkung«.114 Naturgemäß drängt sich die Frage auf, ob der Verkauf von fünf Massenblättern und der damit verbundene Rückzug aus dem wachstumsstarken Zeitschriftengeschäft ein unumgänglicher Schritt zur Abwehr von gesetzlichen Wettbewerbsbeschränkungen war. Objektiv betrachtet war die Wahrscheinlichkeit eines gesetzgeberischen Eingriffs denkbar gering.115 Selbst unter den späteren sozial-liberalen Bundesregierungen hatten Vorstöße zur Entflechtung des Springerschen Verlagshauses keine Chance. Mit Blick auf die öffentliche Auseinandersetzung um das Verlagshaus verfehlte der Teilverkauf des Zeitschriftenimperiums seine Wirkung allerdings nicht. In der zweiten Jahreshälfte verlor die Debatte um Springers Markt- und Pressemacht erkennbar an Kraft. Der Gruner & Jahr-Gesellschafter Bucerius hielt sich nach dem weitgehenden Rückzug seines Konkurrenten aus dem Zeitschriftengeschäft und angesichts der umfassenden Zukäufe seines Unternehmens mit öffentlicher Kritik zurück. Auch die Studentenproteste ebbten allmählich ab.

Das letzte schwere Beben des an schicksalhaften Ereignissen nicht armen Jahres 1968 erschütterte im September das Verlagshaus, als Springer den Rückzug Krachts aus der obersten Verlagsführung bekanntgab.116 Fortan war der Generalbevollmächtigte nur noch für unternehmenspolitische Vorgänge auf der Inhaberebene, vor allem die Verkaufsbemühungen, verantwortlich. Nachfolger wurde Tamm, der anderthalb Jahre zuvor in die Geschäftsleitung der Holding-Gesellschaft Axel Springer Verlag GmbH aufgestiegen war und zugleich die Berliner Verlagsaktivitäten geleitet hatte. Über Krachts erstaunlichen Sturz wurde viel spekuliert. Sicher ist, dass der erst 47-jährige Generalbevollmächtigte nicht aus freien Stücken die Verlagsspitze verließ.117 Ob der brillante Verlagsmanager ein zu starkes Eigenleben in der Führung des Gesamtunternehmens entwickelt hatte, ob die Münchener Verlagserfolge Missgunst erregt hatten, ob es zu unüberbrückbaren Differenzen über den Verkauf von Kindler & Schiermeyer gekommen war, ob die von Kracht verantwortete Neuausrichtung der Welt auf Missfallen gestoßen war, oder seine liberale politische Haltung als untragbar galt, ob Kracht seine Kräfte auf den geplanten Unternehmensverkauf hätte konzentrieren sollen, ob bislang unbekannte Vorfälle Konsequenzen unvermeidlich gemacht hatten, oder ob die Trennung nur einer Laune des Verlegers entsprungen war – alle diese Fragen wurden immer wieder ergebnislos diskutiert.118

An den Verlagsstrukturen änderte sich unter Tamm zunächst wenig. Das oberste operative Steuerungsgremium, die »Holding-Konferenz«, wurde in »Geschäftsleitungskonferenz« umbenannt, das Verlagshaus Hamburg wurde weiterhin von Rolf von Bargen geleitet und das Verlagshaus Die Welt blieb in den Händen von Schreckenbach.119 Der Verlagsleiter von Bild und Bild am Sonntag, Mesterharm, übernahm Tamms Stuhl in Berlin, während der ehemals von Naumann geleitete Zeitschriftenbereich Wolfgang Brudermüller überantwortet wurde. Zudem wurde die kaufmännische Verwaltung weiter zentralisiert.120

Abbildung 21: Axel Springer und Peter Tamm (1976)