Teil 2:

Wandel zum politischen Verleger

Die Jahre 1957 und 1958 markierten einen schicksalsträchtigen Wendepunkt im Leben Springers: die vielzitierte Wandlung vom unpolitischen zum politischen Verleger. Im Mittelpunkt seines Denkens und Handelns standen fortan der leidenschaftliche Einsatz für die deutsche Wiedervereinigung und der erbitterte Kampf gegen den Kommunismus. In den 1960er-Jahren wurde Springer überdies zu einem vehementen Verfechter konservativer und religiöser Werte sowie zum großen Freund und Fürsprecher Israels. Die Folgen für sein verlegerisches Wirken waren vielschichtig und tiefgreifend. Während das publizistische Flaggschiff Die Welt zum Sprachrohr, wenn nicht Sturmgeschütz für Springers politische Mission avancierte, wurden die Bild-Zeitung, die Bild am Sonntag, die Welt am Sonntag und die Hör zu nur phasenweise politisch instrumentalisiert. Seine hohen Ansprüche an die Auflagen- und Ertragsentwicklung gab der Verleger indessen nicht auf. Nur in Einzelfällen war er bereit, die materiellen Ziele den ideellen unterzuordnen. Beispielhaft sei Die Welt angeführt, die in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre ungeachtet millionenschwerer Verluste nicht aufgegeben wurde. Ebenso folgten die erheblichen Investitionen in Berlin weniger unternehmerischen, denn politischen Gesichtspunkten. Mindestens so folgenschwer wie die Politisierung von Teilen des Verlagshauses war die Resonanz, die Springers politische Agenda mit Blick auf seine publizistische Stellung in der Öffentlichkeit auslöste. Im Laufe der 1960er-Jahre rückte das Zusammenspiel aus Pressemacht und Politik zunehmend in den Mittelpunkt öffentlicher Kritik, die alsbald eine ungeahnte Wirkung in publizistischer, unternehmerischer, politischer und persönlicher Hinsicht entfalten sollte.

Zu keinem Zeitpunkt war das verlegerische Wirken Springers frei von politischen Aspekten gewesen. Stand ein Zeitungsverleger schon allein aus journalistischen Gründen in enger Verbindung mit dem politischen System, so pflegte Springer bereits kurz nach dem Krieg über den redaktionellen Bereich hinaus Kontakte zu maßgeblichen politischen und institutionellen Entscheidungsträgern, die ihn bei der Erteilung von Presselizenzen, der Übernahme der Welt oder im Kampf gegen den Broschek-Verlag unterstützten. Mit dem Hamburger Abendblatt dehnte Springer seinen politischen Einfluss erheblich aus, der nunmehr nicht allein auf einem weit verzweigten Beziehungsnetz, sondern auf dem auflagenstärksten Zeitungsmedium der Hansestadt beruhte. Bundesweite politische Bedeutung errang Springer schließlich, als sein Interesse für die zum Verkauf stehende Welt öffentlich bekannt wurde und Bundeskanzler Adenauer die Erwerbspläne des Hamburger Verlegers unterstützte. Nach dem Erwerb der Welt verfügte Springer nicht nur über ein meinungsbildendes Zeitungsobjekt von nationalem Rang, sondern auch über einen frisch gekürten Chefredakteur, der nie einen Hehl aus seinem politischen Gestaltungswillen gemacht hatte. Vorerst hielt sich Hans Zehrer allerdings noch damit zurück, das breite Meinungsspektrum der Welt auf die eigenen politischen Ziele zu verengen. Noch stärker galt dies für Springer, der weder einen weltanschaulichen Einfluss auf das Blatt nahm, noch akzentuierte Überzeugungen an den Tag legte, die über eine liberale Grundhaltung und ein Bekenntnis zu Europa hinausgingen.1 Springers Gesprächspartner erlebten Mitte der 1950er-Jahre keinen visionären Vorkämpfer, sondern einen gut informierten politischen Beobachter, dessen verlegerisches Handeln weitgehend frei von eigenen politischen Zielsetzungen war. In diesem Sinne war Springer bis 1957 ein unpolitischer Verleger, der diese Rolle erst im Zuge einer existentiellen Lebenskrise aufgab.

In diesem Schlüsseljahr 1957 erlitt Springer einen psychischen Zusammenbruch, der den 45-jährigen Verleger an den Rand seiner Existenz brachte.2 Monatelang litt er an schweren Depressionen und Wahnvorstellungen, die eine verlegerische Betätigung zeitweise unmöglich machten. Vor allem Rosemarie Springer war es zu verdanken, dass ihr Mann in der Abgeschiedenheit seines Falkensteiner Anwesens die psychischen Leiden überwand und zudem die Öffentlichkeit von der Krankheit keine Kenntnis erhielt. Über die Ursachen der seelischen Erschütterungen wurde in späteren Zeiten viel spekuliert.3 Denkbar ist ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, darunter mögliche Erschöpfungszustände und Sinnkrisen nach dem Erreichen wesentlicher unternehmerischer Ziele, gesundheitliche Probleme, besonders Springers chronische Schilddrüsenunterfunktion, oder eine allgemeine psychische Labilität. Während der Krisenmonate intensivierte Springer seine Auseinandersetzung mit philosophischen und theologischen Fragestellungen, wodurch seine Religiosität zu einem prägenden Charakterzug werden sollte.4 Vor allem zwei mittelalterliche Heilige faszinierten ihn: der Italiener Franz von Assisi, der als wohlhabender Kaufmannssohn allem irdischen Reichtum entsagt und den Franziskaner-Orden gegründet hatte, sowie der Schweizer Nikolaus von der Flüe, der sich als angesehener Ratsherr in eine Einsiedelei zurückgezogen und durch einen berühmten Schiedsspruch die Einheit der Eidgenossen bewahrt hatte. In den Lebenswegen dieser beiden Heiligen glaubte Springer, sein Schicksal und seine Bestimmung wiederzuerkennen. Der Nährboden für das aufkeimende Sendungsbewusstsein war offenbar ein tiefverwurzeltes Gefühl der Auserwähltheit, das bereits seit Kindertagen bestand und wohl nicht zuletzt auf eine übersteigerte Mutterliebe zurückging. Im Zusammenspiel mit gewissen charakterlichen Eigenschaften, dem Hang zu Eitelkeit und Egozentrik, schien sich diese Empfindung in späteren Jahren verstärkt zu haben. Zehrer nährte in seinen mystischen Zukunftsdeutungen die eigentümliche Selbstgewissheit, indem er transzendente Eingebungen und Bestimmungen auf Springers Lebensweg zu erkennen glaubte.5 Im Zuge der Lebenskrise entwickelte Springer geradezu messianische Visionen, die zur wesentlichen Triebfeder seines politischen Engagements werden sollten. Ende 1957 überwand er die Lebens- und Sinnkrise, ohne dass die Hintergründe der raschen Genesung bekannt geworden wären. Zur gleichen Zeit schien er unter dem Einfluss Zehrers zu seiner Lebensaufgabe, dem kompromisslosen Eintreten für die Wiedervereinigung Deutschlands, gefunden zu haben.6

Anfang Januar 1958 reiften die Pläne für die vielzitierte Moskau-Reise Axel Springers, der in direkten Gesprächen mit der sowjetischen Führung über die Deutschlandfrage verhandeln wollte. Auf die Hintergründe und Vorbereitungen der maßgeblich von Zehrer initiierten Mission soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.7 Mitte Januar 1958 reisten Springer, Zehrer, Rosemarie Springer und Kracht zum Unmut der Bundesregierung nach Moskau.8 Zwei nervenaufreibende Wochen vergingen, bis der Verleger und sein Chefredakteur vom KPdSU-Sekretär und Regierungschef Nikita Chruschtschow empfangen wurden. In dem fünfstündigen Gespräch ging der Parteichef naturgemäß nicht auf Springers Anliegen ein, sondern dozierte monologartig über die außenpolitische Doktrin der Sowjetunion. Abgesehen von sechs durch Chruschtschow im einschlägigen Sinne beantworteten Interviewfragen kehrte der Verleger mit leeren Händen in die Bundesrepublik zurück. Dort wurde er in weiten politischen und journalistischen Kreisen mit beißendem Spott bedacht. Das Bundeskanzleramt bezeichnete die beiden selbsternannten Botschafter mit unverhohlener Schadenfreude als »begossene Pudel«.9 Nicht ohne Berechtigung wurde Springer Realitätsferne und Selbstüberschätzung vorgeworfen. Doch wer annahm, dass er nach dem kläglichen Scheitern der Moskauer Mission seine politischen Ambitionen begraben würde, sah sich gewaltig getäuscht. Springer sollte von nun an umso radikaler seine politischen Ideen verfechten, nicht ohne zuvor eine umfassende Neudefinition seines politischen Standpunktes vorgenommen zu haben.10 Statt einer neutralistischen Position bekannte er sich fortan unmissverständlich zur Westbindung. Anstelle einer Verständigung mit der Sowjetunion traten die Unterstützung des US-amerikanischen Antikommunismus und der leidenschaftlich geführte Kampf für Freiheit und Demokratie in Osteuropa. Mit dem neuen politischen Kurs emanzipierte sich Springer zudem von Zehrer, der in seinen Augen die Hauptverantwortung für das Moskauer Fiasko trug. Zwar kam es trotz aller Enttäuschung nicht zu einem persönlichen Zerwürfnis, doch verlor der ehemalige Mentor merklich an Einfluss. Noch 1958 wurde der einst vehemente Befürworter einer deutsch-sowjetischen Verständigung zu einem derart leidenschaftlichen Verfechter der antikommunistischen Linie Springers, dass Augstein Ende 1958 spöttisch feststellte: »Leider will uns aber scheinen, daß Zehrer […] auf den Gefühlswogen seines über Nacht politisch interessierten Herren durchgegangen ist.«11 Darüber hinaus begann Springer, den persönlichen Einfluss auf die Redaktionsarbeit im Sinne seiner politischen Ziele zu verstärken. Vor allem die Berlin-Frage und das Flüchtlingsthema wurden fortan in redaktionellen Kampagnen regelmäßig aufgegriffen, die durch öffentlichkeitswirksame Aktionen, wie der Anstecknadelverkauf »Macht das Tor auf«, und durch persönliche Vorstöße bei maßgeblichen Meinungsträgern flankiert wurden. Wie sehr sich Mitte 1958 die verlegerischen Prioritäten verändert hatten, macht eine bemerkenswerte Notiz deutlich, die Springer im Juni 1958 an den Welt-Chefredakteur richtete: »Wir kriegen einen wildbewegten Herbst. Er wird deshalb für uns besonders anstrengend sein, weil wir nicht nur eine gute Politik zu machen haben, sondern eben auch eine hervorragende Tageszeitung«.12