Der Sprung an die Spree: Vorbereitungen für die deutsche Wiedervereinigung

»Hier in Berlin, an diesem Ort, genügt ein Blick aus dem Fenster, um zu verstehen. […] Hier in Berlin wird der Blick geschärft, und ich […] bin froh, ein Berliner geworden zu sein. Hier ist die Hauptstadt unseres Vaterlandes, die uns Haltung lehrt, die uns mahnt und die uns hoffen läßt. Hier werden wir bleiben, ich und mein Haus«, lautet eines der vielen leidenschaftlichen Bekenntnisse des Verlegers zu Berlin, dem Ort, der im Laufe der 1960er-Jahre zum Mittelpunkt seines Fühlens, Denkens und Handelns, zum Kristallisationspunkt seines unablässigen Eintretens für die Wiedervereinigung und zum Zentrum seines verlegerischen Schaffens wurde.872 Für über 100 Millionen Deutsche Mark errichtete er im alten Berliner Zeitungsviertel, unmittelbar an der Sektorengrenze und am späteren »Todesstreifen«, ein Verlags- und Druckhaus, das schon bei der Grundsteinlegung im Mai 1959 mehr politisches Manifest, als unternehmerische Wirkungsstätte war. In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre wurde die geteilte Stadt zur Heimat des Verlegers, an deren Schicksal er einen höchst persönlichen und sehr emotionalen Anteil nahm. Im Mai 1957 ließ der er durch Hammerich & Lesser eine repräsentative Villa in Berlin-Dahlem erwerben, die, von Rosemarie Springer873 aufwendig eingerichtet, als Wohnsitz und Gästehaus diente. Zudem kaufte Springer 1961 ein 27.000 Quadratmeter großes Grundstück auf der Havel-Insel Schwanenwerder und ließ dort ein gläsernes Teehaus errichten. 1977 erbaute er anstelle des modernen Pavillons ein luxuriöses und hochgesichertes Landhaus, das er zusammen mit seiner fünften Frau, Friede Springer, bis zu seinem Tode bewohnte.

Bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren zog die pulsierende Reichshauptstadt den jungen Springer in den Bann, wenn auch in vollkommen unpolitischer Hinsicht. Theater- und Opernbesuche, die der junge Axel mit seiner Mutter absolvierte, weckten früh seine Begeisterung für die Bühnenkunst und seine Sehnsucht nach einer Gesangskarriere.874 Jahre später genoss der wohlhabende Verlegersohn im Kreise illustrer Freunde und Bekannter das gesellschaftliche und kulturelle Leben Berlins, in dessen Umfeld er nicht zuletzt seine zweite Frau, Erna »Katrin« Küster, ein Mannequin des berühmten Berliner Modesalons Bibernell, kennenlernte.875 In den Kriegsjahren war Springer gern gesehener Gast im Dahlemer Anwesen des väterlichen Freundes John Jahr, der in Berlin über weit verzweigte Kontakte zu nationalsozialistischen Größen, regimekritischen Intellektuellen und unpolitischen Prominenten, wie Max Schmeling und Anny Ondra, verfügte.876 Nach Kriegsende blieb Berlin bis zum Beginn der 1950er-Jahre gleichwohl ein Randthema für Springer. Außer einem Vertriebsbüro, das 1947 aus der Zusammenarbeit zwischen Jahr und Springer im Bereich der Buchverlage entstanden und für die Distribution der Nordwestdeutschen Hefte und der Hör zu zuständig war, gab es kein unternehmerisches Engagement in Berlin.877 In das Blickfeld des unpolitischen Verlegers rückte die Viersektoren-Stadt erst wieder als Absatzmarkt für die Bild-Zeitung, die ab August 1952 in Berlin vertrieben wurde und innerhalb eines Jahres eine Verkaufsauflage von 150.000 Exemplaren erreichte.878 Nach Erteilung einer Drucklizenz durch die westalliierten Militärregierungen und gegen den Widerstand der lokalen Verleger ließ Springer das Blatt ab Dezember 1954 bei der Berliner Druckerei Hentschel, Heidrich & Co. herstellen und beendete damit die teuren Lufttransporte in die ehemalige Hauptstadt. Allerdings ging die Auflage der Bild-Zeitung nach Wiedererscheinen der B.Z. des Ullstein-Verlags deutlich zurück. Im Vorjahr hatte der Berliner Traditionsverlag, einst das größte deutsche Presseunternehmen, seine erste verlegerische Niederlage gegenüber Springer einstecken müssen, als er im Bieterwettstreit um Die Welt dem Hamburger Wettbewerber unterlegen war. In diesem Zusammenhang vereinbarten Springer und die Ullstein AG offenbar eine Abgrenzung ihrer Vertriebsinteressen, die im Juni 1956 für die Verlagsobjekte Bild am Sonntag und B.Z. am Sonntag erneuert wurde.879

Unterdessen reiften verlegerische Visionen, die weit über das bisherige Berliner Engagement hinausgingen. Im Mittelpunkt der Erwägungen stand die Frage nach der Positionierung des Verlagshauses in einem wiedervereinigten Deutschland, dessen politisches, kulturelles und wirtschaftliches Zentrum – davon war Springer überzeugt – nur Berlin sein konnte.880 Spiritus rector der Überlegungen war der einflussreiche Vertraute Hans Zehrer, der bis in die zweite Hälfte der 1950er-Jahre an eine rasche Wiedervereinigung glaubte und mit Springer ausgedehnte Gespräche über die politischen, wirtschaftlichen und verlegerischen Konsequenzen führte.881 In einem denkwürdigen Schreiben fasste Zehrer im April 1953 die bisherigen Gedankengänge zusammen und appellierte an Springer:

»Wenn Sie über die frühere Rolle von Broschek und Hamburger Fremdenblatt hinauswollen […], dann müßten Sie neben der Sicherung der lokalen Hamburger Plattform den Angriff auf die Bundesebene (Einheit) vorbereiten. Denn alle anderen Städte außerhalb Berlins werden dann wieder werden, was sie im Grunde immer waren, nämlich Provinzstädte. […] Daraus ergäben sich: […] Eine stärkere Dependance Springer in Berlin (a) entweder im Zusammengehen mit Ullstein, (b) oder selbständig. Diese müßten sorgfältig, – d.h. einige Monate vorher, – vorbereitet werden, um bereits vor dem run auf Berlin Fuß zu fassen […].«882

Zehrers Worte fielen auf fruchtbaren Boden. Zwei Jahre später, im August 1955, umschrieb Springer den zu erwartenden »run auf Berlin« als »explosionsartige Entwicklung«, welche die Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands zu einem »Brutofen für wirtschaftlich-politischen Optimismus und überschäumende Lebensfreude« machen würde.883 In seinen weiteren Ausführungen skizzierte Springer Pläne für einen Berliner Verlagssitz, der die überregionalen Zeitungen Welt, Welt am Sonntag und Bild herausgeben würde. Wie von Zehrer empfohlen, strebte der Verleger zudem eine Beteiligung am Ullstein-Verlag an. Springers enthusiastische Visionen waren unverkennbar vom »Geist von Genf«884 getragen, der nach den Entspannungssignalen des Genfer Viermächte-Gipfels im Juli 1955 die Hoffnung auf eine Abkühlung des »Kalten Krieges« nährte.

Wie von Zehrer propagiert, sollte der Verleger in den Folgejahren auf zwei Wegen nach Berlin expandieren: Im alten Berliner Zeitungsviertel ließ er ab 1958 für mehr als 100 Millionen Deutsche Mark das bereits erwähnte Druck- und Verlagshaus errichten. Zugleich erwarb er 1956 eine Minderheitsbeteiligung am Ullstein-Verlag und übernahm dreieinhalb Jahre später die restlichen Anteile. Unterdessen rückte die Wiedervereinigung in weite Ferne. Im August 1961 wurde die Berliner Mauer errichtet und der Westteil der Stadt hermetisch abgeriegelt. Zu diesem Zeitpunkt war Springer längst zum politischen Verleger avanciert und hatte den Kampf für die Wiedervereinigung zur Lebensaufgabe erhoben. Auf bemerkenswerte Weise wurden Ende der 1950er-Jahre die ursprünglich rein unternehmerischen Motive für die Expansion nach Berlin durch politische Beweggründe ersetzt, so dass die schwindenden Wiedervereinigungsaussichten das Investitionsvorhaben nicht nachhaltig gefährden konnten.

Gründung der Berliner Verlagsdependance

Nachdem in der zweiten Hälfte des Jahres 1955 der Beschluss über die Gründung eines Druck- und Verlagshauses in Berlin gefallen war, beauftragte Springer Verlagsdirektor Funk mit dem Erwerb eines passenden Bauplatzes. Im November 1955 nahm dieser Verhandlungen mit dem West-Berliner Senat und der Kreuzberger Bezirksregierung über den Ankauf eines 12.500 Quadratmeter großen Trümmergrundstücks des ehemaligen Scherl-Verlags auf.885 Die Dimensionen des Areals an der Kreuzberger Kochstraße ließen erahnen, in welchen Größenordnungen Springer plante. Langwierige Verhandlungen schlossen sich an, in denen Funk zahlreiche bürokratische Hürden überwinden und politische Bedenken gegen Springer ausräumen musste, bevor im Juli 1957 das Areal an der sowjetischen Sektorengrenze für rund eine Million Deutsche Mark von der Stadt erworben wurde und in den Besitz der Berliner Grundstücks Gesellschaft Koch-Straße GbR überging.886 In den folgenden Jahren kaufte die von Springer und der Hammerich & Lesser Verlag GmbH gehaltene Grundstücksgesellschaft weitere Flächen in unmittelbarer Nachbarschaft auf.887 Für die Errichtung und den Betrieb der geplanten Druckerei wurde im Juli 1956 die Berliner Zeitungsdruckerei GmbH (BZG) begründet, die je zur Hälfte in der Hand der Axel Springer GmbH und der Die Welt Verlagsgesellschaft mbH lag.

Nach dem Erwerb der Minderheitsbeteiligung am Ullstein-Verlag drohte das Bauvorhaben am Widerstand des Berliner Traditionshauses zu scheitern.888 Zwar hatten beide Verlagshäuser im September 1956 vereinbart, das Druckereiprojekt fortzusetzen und der Ullstein AG im Gegenzug eine Beteiligungsoption an der BZG einzuräumen, doch wuchs die Furcht, dass Springer einen drucktechnischen Alleingang auf dem Scherl-Grundstück plante.889 Die ablehnende Haltung seines Kooperationspartners veranlasste Springer im Dezember 1956, in einem Vieraugengespräch mit Karl Ullstein seinen Verzicht auf die Errichtung einer Druckerei zu erklären. Allerdings ließ der Verleger die Verhandlungen über den Erwerb des Scherl-Grundstücks nicht abbrechen, sondern ordnete lediglich an, das Bauvorhaben »sehr zögernd« zu behandeln und erst im Falle einer weiteren Verschlechterung der deutschlandpolitischen Lage zu überdenken. Aus unbekannten Gründen vollzog Springer im Herbst 1957 eine Kehrtwende im Umgang mit seinem Kooperationspartner und bekannte sich nicht nur offen zum Bauprojekt auf dem Scherl-Grundstück, sondern lehnte zudem eine von Ullstein geforderte hälftige Beteiligung an der BZG ab.890 Die Konsequenz war, dass die im Vorjahr vereinbarten Pläne für ein gemeinsames Druckunternehmen aufgegeben wurden. Auf diese Weise konnte Springer seine Unabhängigkeit wahren und eine moderne drucktechnische Lösung ohne Rücksicht auf die bestehende Infrastruktur und chronische Kapitalschwäche des Ullstein-Verlags realisieren.891

Im Laufe des Jahres 1958 wurde das Bauvorhaben in einem beschränkten Wettbewerb ausgeschrieben, aus dem die beiden Architektenduos Franz Heinrich Sobotka und Gustav Müller sowie Melchiorre Bega und Gino Franzi als Bestplatzierte hervorgingen.892 Springer vergab schließlich einen Gemeinschaftsauftrag an alle vier Architekten, die auf Basis ihrer Entwürfe einen langgestreckten Druckerei-Trakt mit einem angrenzenden Hochhaus zur Aufnahme der Redaktionen und Verlagsverwaltung konzipierten. Der aus sechs Bauabschnitten bestehende  Masterplan machte deutlich, dass Springers Bauvorhaben weit über die Errichtung eines Druckereigebäudes hinausging. Das im November 1957 berechnete Investitionsvolumen von 7,5 Millionen Deutsche Mark hatte nur für den ersten Bauabschnitt, der Zeitungsdruckerei, Geltung. Die Kosten des Gesamtvorhabens beliefen sich auf ein Vielfaches.893 Für den ersten Bauabschnitt lag bereits eine Zusage für einen ERP-Kredit über drei Millionen vor. Weitere 5,4 Millionen flossen der BZG bis Ende 1960 im Rahmen einer Kapitalerhöhung der beiden Gesellschafter Axel Springer Verlag GmbH und Hammerich & Lesser Verlag GmbH zu.894 Letztere hatte die Anteile an der BZG im Juli 1958 von der Welt-Verlagsgesellschaft übernommen. Mit Blick auf die sich verhärtenden Fronten des »Kalten Krieges« zeigte sich so mancher außenstehende Betrachter verwundert über Springers Investitionsvorhaben an der Kochstraße. Später wurde bekannt, dass er Ende 1957, nach einem persönlichen Krisenjahr, die folgenschwere Wandlung zum politischen Verleger vollzogen hatte. Unter diesen Vorzeichen vergab Springer im Juni 1958 den Bauauftrag und legte im Mai 1959, zwei Tage vor Ablauf des Berlin-Ultimatums895, den Grundstein für das neue Druck- und Verlagshaus, dessen Lage an der sowjetischen Sektorengrenze er nunmehr als »bewusste politische Demonstration«896 verstanden wissen wollte. In Anwesenheit zahlreicher Vertreter des öffentlichen Lebens, darunter Bürgermeister Willy Brandt und der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer, versenkte Springer eine eiserne Kassette mit dem Bekenntnis:

Abbildung 14: Grundsteinlegung für das Berliner Verlagshaus an der Kochstraße (1959)

»Im alten Berliner Zeitungsviertel, das während des Zweiten Weltkrieges völlig zerstört worden ist, legen wir heute, am 25. Mai 1959, den Grundstein zu dem neuen Druckerei- und Verlagsgebäude von Axel Springer. Wir legen diesen Grundstein in einem Augenblick, in dem das Schicksal des noch immer geteilten Berlin zur zentralen Frage der Weltpolitik, zur entscheidenden Auseinandersetzung zwischen West und Ost geworden ist. […] Daß wir heute diesen Stein unmittelbar am Rande der Sektorengrenze legen, ohne ängstlich auf das Ergebnis der weltpolitischen Verhandlungen [Anm.: Deutschlandkonferenz der Außenminister der Vier Mächte in Genf] zu warten, ist der Ausdruck unseres festen Glaubens an die geschichtliche Einheit dieser Stadt und an die geschichtliche Einheit Deutschland.«897

Mythos Ullstein

Als der Verleger im September 1956 seine Berliner Doppelstrategie umsetzte und einen Minoritätsanteil am Ullstein-Verlag erwarb, ließ er aus taktischen Gründen nur eine kurze Meldung über die Verlagsbeteiligung und die damit verbundenen Kooperationspläne verbreiten.898 Erst später stellte er die Übernahme des Ullstein-Verlags in einen politischen und verlagshistorischen Kontext, der bald zur Grundlage eines identitätsstiftenden Mythos für das Gesamthaus werden sollte. Freilich war sich der Verleger schon vor dem Erwerb der Ullstein AG bewusst, welche pressegeschichtlichen Dimensionen eine Beteiligung an einem Unternehmen hatte, das vor dem Krieg das größte und modernste Verlagshaus Deutschlands gewesen war. Nicht frei von wehmütiger Verklärung und verordneter Traditionspflege erinnerte sich Springer in späteren Jahren, welche Faszination von dem Berliner Traditionsverlag auf ihn, aber auch auf ganze Generationen von Zeitungslesern und -machern ausgegangen war:

»Wenn ich mich zurückerinnere, sehe ich […]: der junge Mann aus Altona, noch kaum der Altersstufe eines Heiteren Fridolin-Lesers entwachsen, steht zu Beginn der dreißiger Jahre fassungslos vor dem, wie es mir schien, gigantischen Ullstein-Haus an der Kochstraße. Er bewunderte rückhaltlos die reiche Palette der brillanten, amüsanten, geistvollen, im Handwerk des Zeitungs-, Zeitschriften- und Büchermachens souverän gestalteten Erzeugnisse. Es war ein Eindruck, der sich nie verlor.«899.

Zu Beginn der 1930er-Jahre war das Medienunternehmen auf dem Höhepunkt seiner eindrucksvollen verlegerischen Entwicklung. Mit einem bemerkenswerten medialen Spektrum, das von der Berliner Illustrirten Zeitung, der auflagenstärksten Illustrierten Deutschlands, bis zum intellektuellen Literaturmagazin Querschnitt, von der Berliner Morgenpost, der auflagenstärksten Zeitung des Reiches, bis zur Vossischen Zeitung, dem Inbegriff des liberalen Journalismus, von der Filmproduktion bis zum Nachrichtendienst reichte. Mit diesem medialen Spektrum spiegelte das 1877 von Leopold Ullstein begründete Verlagshaus wie kein anderes die »Hochblüte« des »Zeitschriftenwesens« wider900, die insbesondere »so charakteristisch für das Berlin der Zwanziger Jahre war.«901 Dem jüdischen Gründer und seinen fünf Söhnen, Hans, Franz, Louis, Rudolf und Hermann Ullstein, gelang es, außergewöhnliche schriftstellerische, journalistische, kaufmännische und technische Kräfte für das Unternehmen zu gewinnen; inspiriert durch den berühmten »Geist des Hauses« waren sie Garanten für den eigentlichen Erfolgsfaktor, die beachtliche verlegerische und technische Innovationskraft des Ullstein-Verlags.902 Vicki Baum, die seit Ende der 1920er-Jahre als Journalistin und Romanautorin für Ullstein tätig war, schrieb später über das Verlagshaus:

»Im Ullsteinhaus in Berlin fühlte ich mich wie auf dem Nabel der Welt. Das Leben strömte in Tausenden von Photos, Hunderten von Menschen und in den Stimmen des ganzen Erdballs vorbei. Die Gänge hallten vom Witz und Lachen der schärfsten Gegner der Stadt wider. Die besten und modernsten Autoren jener Tage wurden bei Ullstein verlegt. Sie brachten uns ihren desillusionierten, bitteren Nachkriegs-, Nachrevolutions-, Nachinflationshumor und ihren unbesiegbaren flammenden Idealismus.«903

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 fand der liberale und schöpferische Geist des Ullstein-Verlags sein abruptes Ende.904 Bereits am folgenden Tag wurde altgedienten Berichterstattern der Zugang zur Reichskanzlei verwehrt. Innerhalb des Verlagshauses traten nationalsozialistische Zellen aus der Deckung und übten Druck auf Andersdenkende aus. Mitte Februar 1933 musste die Berliner Abendzeitung Tempo ihr Erscheinen für drei Wochen einstellen. Ein Jahr später folgte die Grüne Post mit einem dreimonatigen Druckverbot nach kritischen Äußerungen über den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Goebbels.905 Am 1. April 1933 folgten nationalsozialistische Schergen dem Aufruf von Hitlers Chefideologen, jüdische Einrichtungen zu boykottieren, und liefen mit dem grölenden Ruf »Juden raus!« durch die Gänge des Verlagshauses.906 Gleichzeitig vollzog sich auf wesentlich subtilere Art die Gleichschaltung und »Arisierung« der deutschen Presse.907 Das Reichsschriftleitergesetz und Bestimmungen der Reichspressekammer untersagten die Weiterbeschäftigung von »nicht-arischen« Redakteuren und Journalisten. Bereits zuvor hatten zahlreiche Juden das Verlagshaus verlassen, als der Vorstand, der im März 1933 gezielt mit Nichtjuden besetzt wurde, die jüdischen Redakteure zur Kündigung drängte.908 Der Ullstein-Verlag musste einen menschlich wie publizistisch schmerzlichen Aderlass seiner besten redaktionellen Kräfte hinnehmen. Die 300 Jahre alte Vossische Zeitung, das große liberale Flaggschiff des Hauses und seit Langem auf millionenschwere Zuschüsse angewiesen, verkraftete den Substanzverlust nicht und wurde angesichts zunehmender wirtschaftlicher Schwierigkeiten eingestellt, ebenso wie die intellektuelle Kunstzeitschrift Der Querschnitt und der avantgardistische Uhu.909 Nach anderthalb Jahren des politischen und wirtschaftlichen Drangsals mussten die vier verbliebenen Ullstein-Söhne erkennen, dass das »Vernichtungsurteil über die größte deutsche Verlegerfamilie« gefallen war.910 In »höchster Eile« verkauften sie im Juni 1934 ihre Anteile an die Cautio GmbH, eine diskret für höchste Regierungskreise agierende Treuhandgesellschaft. Rund 10,6 Millionen Reichsmark erhielt die Familie für das größte deutsche Pressehaus, das auf rund 60 Millionen bewertet wurde und in den Folgejahren »riesige Gewinne« abwarf.911 Während Hans Ullstein 1935 in Berlin verstarb und die restliche Familie mit Ausnahme von Heinz Ullstein unter dem Druck der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Deutschland verließ912, wurde 1937 das gleichgeschaltete Presseunternehmen in Deutsche Verlag AG umbenannt und damit die letzte Erinnerung an das große jüdische Verlegererbe getilgt.913

Fast achtzehn Jahre vergingen, bevor die Familie Ullstein wieder in das angestammte Verlagshaus einziehen durfte. In einem feierlichen Akt wurde im Januar 1952 die Rückerstattung der von den Nationalsozialisten entzogenen Vermögenswerte beurkundet.914 Vorausgegangen war ein dreijähriges Wiedergutmachungsverfahren, das federführend von Rudolf Ullstein, dem einzig überlebenden Sohn des Unternehmensgründers, seinen Neffen Karl und Frederick Ullstein sowie dem eingeheirateten Fritz Ross betrieben wurde.915 Nach einem Vergleich entschied im Januar 1952 die Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Berlin, die Druck- und Verlagshäuser in der Kochstraße und in Tempelhof sowie die Rechte an den alten Zeitungs- und Zeitschriftentiteln an die wiederbegründete Ullstein AG zurückzugeben.916 Zur Tilgung der Schulden der ehemaligen Deutsche Verlag AG musste allerdings das seit Frühjahr 1945 weitgehend in Trümmern liegende Stammhaus an der Kochstraße an das Land Berlin abgetreten werden. Nach Kriegsende war das Druckhaus Tempelhof, das im Krieg weitgehend unzerstört geblieben war, unter der Leitung des altgedienten Chefingenieurs Ernst Strunk und mit Unterstützung der US-Militärbehörde wiederaufgebaut worden.917 Der Treuhänder und spätere Lizenzträger der Militärregierung hatte umfangreiche Lohndruckaufträge angenommen, unter anderem den Druck der Tageszeitungen der US-amerikanischen und britischen Besatzungsmächte.918 Den weitaus größten Druckauftrag mit einem jährlichen Volumen von rund 2 Millionen Deutsche Mark erhielt das Druckhaus Tempelhof 1950 von Springers Gemeinschaftsunternehmen, der Constanze-Verlag GmbH, die ihre Constanze-Modehefte in Berlin herstellen ließ. Daneben wurden auch eigene Verlagszeugnisse vom Druckhaus herausgegeben, darunter Das Blatt der Hausfrau919, das im Sommer 1952 in Brigitte umbenannt wurde. Bereits acht Monate nach Rückkehr der Ullstein-Familie konnte das Wiedererscheinen der seit 1944 eingestellten Morgenpost gefeiert werden. Ein Jahr später wurde nach 10-jähriger Pause die B.Z. wieder herausgegeben. Im gleichen Jahr erfolgte die Gründung der späteren Ullstein Taschenbuchverlag GmbH und der UBO Mode- und Schnittmuster-Verlag GmbH, ursprünglich ein Gemeinschaftsunternehmen mit dem schwedischen Bonnier-Verlag.920 Die revitalisierten Verlagsobjekte, die sich ausweitenden Lohndruckaufträge und die neuerschlossenen Geschäftsfelder bewirkten zwischen 1952 und 1958 ein kontinuierliches Umsatzwachstum von 33,1 Millionen auf 80,9 Millionen Deutsche Mark.921 Die Ertragslage blieb indes höchst unterdurchschnittlich. Die Überschüsse stiegen im gleich Zeitraum sukzessive auf 400.000 Deutsche Mark. Dies entspricht einer Umsatzmarge von unter 1 Prozent. Gleichzeitig schrumpfte die Eigenkapitalquote von 59 auf 37 Prozent. Der Liquiditätsbedarf wurde durch die Aufnahme von Bankkrediten gedeckt. Bis 1958 verdreifachten sich die Bankverbindlichkeiten auf 7 Millionen Deutsche Mark.

Die niedrige Rentabilität war vor allem den Ineffizienzen und Überkapazitäten der Druck- und Verwaltungsbereiche, aber auch der schwierigen Wettbewerbssituation in der wirtschaftlich geteilten und isolierten Stadt geschuldet. Zudem hatte das Verlagshaus nach der Restitution nicht zu seiner alten publizistischen Stärke zurück finden können.922 Die mit der Verlagsführung betrauten Familienmitglieder waren überaltert und zu innovativen Impulsen nicht mehr in der Lage.923 Ein Großteil der weltweit verstreuten Nachkommen des Gründers Leopold Ullstein hatte kein Interesse an der Leitung des Familienunternehmens. Als obendrein Dividendenzahlungen weitgehend ausblieben, wuchs die Bereitschaft der Ullstein-Erben, sich von ihrem zersplitterten Aktienbesitz zu trennen. Der erste familienfremde Anteilseigner wurde Gerd Bucerius, dessen Zeit-Verlag E. Schmidt & Co. GmbH im August 1952 treuhänderisch ein 10-prozentiges Aktienpaket von den Nachfahren des Gründersohnes Hermann Ullstein übernahm.924 Dies war der Startschuss für den zweiten, nunmehr endgültigen Ausverkauf des Traditionshauses.

Erwerb einer Minderheitsbeteiligung am Ullstein-Verlag

Anderthalb Jahre, nachdem Hans Zehrer in seinem denkwürdigen Schreiben ein »Zusammengehen mit Ullstein« propagiert hatte, unternahm Springer erste greifbare Bemühungen um eine Beteiligung am Berliner Traditionsverlag.925 Gemeinsam mit Jahr strebte er Ende 1954 den Erwerb eines 26-prozentigen Aktienpakets an, das offenbar schon länger zum Verkauf stand.926 Die weiteren Hintergründe bleiben weitgehend im Dunkeln. Sicher ist, dass Jahr, der seit 1950 die Constanze-Modehefte in Tempelhof drucken ließ, über gute Kontakte zur Eigentümerfamilie verfügte und entweder Ende 1954 oder aber Anfang 1955 Verhandlungen aufnahm. Auf die Motive Springers für eine Beteiligung an der Ullstein AG wurde bereits eingegangen. Im Mittelpunkt stand das Bestreben, das eigene Verlagshaus auf die bald erwartete Wiedervereinigung vorzubereiten und rechtzeitig in der alten »Zeitungsstadt Berlin«927 zu positionieren.928 Vor allem galt es, den Zugriff auf drucktechnische Kapazitäten abzusichern. Daneben versuchte Springer, Einfluss auf die »beiden marktbeherrschenden Zeitungen« Berliner Morgenpost und B.Z. zu gewinnen, um die Verlagsobjekte verlegerisch weiterzuentwickeln und die schwierigen Berliner Wettbewerbsbedingungen für die Bild-Zeitung zu verbessern.929 Zudem klang bereits an, welche Faszination von dem traditionsreichen Verlagshaus ausging, aus dessen Mythos sicherlich ein ganz emotionales Beteiligungsinteresse erwuchs. Der hart kalkulierende Zeitschriftenverleger Jahr wiederum strebte offenbar eine günstige verlegerische Positionierung im Vorfeld der Wiedervereinigung und einen Zugriff auf das Frauenmagazin Brigitte, einem Konkurrenzblatt der Constanze, an. Die Verhandlungsführer der Inhaberfamilie, die Vorstandsmitglieder Karl Ullstein und Werner Maurer, hatten, so ist anzunehmen, vor allem Interesse an einer Kooperation mit dem innovationsstarken und kapitalkräftigen Axel-Springer-Verlag.930 Die monatelangen Verhandlungen zwischen Jahr und dem Ullstein-Vorstand scheiterten allerdings im Laufe des Jahres 1956 an unterschiedlichen Preisvorstellungen, die nicht zuletzt Ausdruck der begrenzten Finanzkraft des Constanze-Verlegers waren.931 Nachdem die Berliner Verlagsführung Gespräche mit anderen Interessenten aufgenommen hatte, entschied sich Springer für einen Alleingang und verhandelte ohne Beteiligung seines Kompagnons mit der Inhaberfamilie.932 Im Sommer 1956 legte er schließlich für 26 Prozent des Stammkapitals ein Angebot von zwei Millionen Deutsche Mark vor, das von den Eigentümervertretern angenommen, von Jahr jedoch abgelehnt wurde.933 Dem Constanze-Verleger war dies »zu viel Geld«934; zugleich warf er Springer vor, aus taktischen Gründen ein überhöhtes Angebot abgegeben zu haben, um eine alleinige Übernahme des Aktienpakets realisieren zu können.935 Dies wies Springer in deutlicher Form zurück. Über Jahre forderte Jahr von Springer eine Beteiligung am Ullstein-Verlag und gab diesen Anspruch erst im Zuge der Interessenabgrenzung 1960 auf.936 Die Differenzen markierten einen Wendepunkt in der Zusammenarbeit der beiden Verleger. Jahr musste endgültig erkennen, dass Springer kraft und willens war, seine Expansion im Zeitungsbereich ohne den ehemaligen verlegerischen Mentor zu betreiben. Immerhin einigten sich die beiden Geschäftspartner im April 1957 auf einen Verkauf des Ullstein-Frauenmagazins Brigitte an die Constanze-Verlag GmbH.937

Unterdessen übernahm die Hammerich & Lesser Verlag GmbH im September 1956 ein Aktienpaket vom Familienzweig des verstorbenen Louis Ullstein in Höhe von 26 Prozent für den beachtlichen Kaufpreis von 2 Millionen Deutsche Mark, der aus laufenden Einnahmeüberschüssen des Zeitschriftenverlags finanziert wurde.938 Gleichzeitig schlossen die Ullstein AG und Axel Springer, »für sich persönlich und für seine Firmen handelnd«, einen umfangreichen Kooperationsvertrag, der die Partner verpflichtete, »sich gegenseitig in jeder Beziehung weitgehend zu fördern und zu unterstützen«.939 So räumte Springer der Ullstein AG eine Option auf ein Drittel der Anteile der Berliner Zeitungsdruckerei GmbH (BZG) ein, um eine gemeinsame Zeitungsrotation zu errichten, sobald die »Wiedervereinigung Deutschlands in greifbare Nähe« gerückt wäre.940 Zudem sah der Kooperationsvertrag vor, »neue Zeitungs- und Zeitschriftenprojekte für den Berliner Raum […] künftig unter hälftiger Beteiligung«, allerdings finanziert durch Springer, herauszubringen. Darüber hinaus vereinbarten beide Partner eine enge Zusammenarbeit im Bereich des Vertriebs, der Werbung und der Durchführung von Druckaufträgen. »Im Einverständnis mit Herrn John Jahr« und mit seiner nachträglichen Zustimmung sicherte Springer der Ullstein AG die drucktechnische Herstellung der Constanze-Sonderhefte941 und gewisser Teilauflagen der Constanze zu. Zudem gewährten Rudolf Ullstein, Heinz Ullstein und die Erbengemeinschaft von Hans Ullstein, die zusammen 40 Prozent des Grundkapitals hielten, dem Hamburger Verleger ein Vorkaufsrecht auf ihre Anteile.942 Im Januar 1957 wurde die Kooperation auch personell untermauert, als Hans Funk in den Aufsichtsrat der Ullstein AG einzog.943

Die vertrauensvolle Zusammenarbeit, die beide Verlagshäuser mit den weitgehenden Kooperationsbestimmungen zu begründen schienen, wurde allerdings schon bald erschüttert. Auf große Besorgnis stießen Springers Bemühungen um das Scherl-Grundstück an der Kochstraße, die den berechtigten Verdacht nährten, dass der Hamburger Verleger einen Alleingang bei der Errichtung der Zeitungsdruckerei plante.944 Noch weitaus schwerwiegendere Irritationen lösten Springers Ambitionen auf weitere Ullstein-Anteile aus. Sein 1955 formuliertes »Endziel«, 25 Prozent des Stammkapitals der Ullstein AG zu übernehmen, hatte er rasch aufgegeben.945 Nach dem Erwerb der Minderheitsbeteiligung intensivierte Springer die Bemühungen um die Ausweitung seines Einflusses auf den Traditionsverlag.946 Im Februar 1957 setzten Kracht und Arning die Verhandlungen mit Elizabeth und Kurt Ullstein über schließlich nicht realisierte Vorkaufsrechte und Stimmrechtsübertragungen fort. Ende März 1957 vereinbarte Springers Chefjustitiar eine Stimmrechtsbündelung mit Fritz Ross, dem Schwiegersohn des verstorbenen Gründersohns Hans Ullstein. Gleichzeitig hatte Springer auf das 10-prozentige Aktienpaket des Zeit-Verlags eine Option erworben, die ihm nicht nur ein Kaufrecht, sondern auch die uneingeschränkte Stimmrechtsausübung einräumte.947 Im Gegenzug finanzierte Springer seinem Verlegerfreund Bucerius die gerichtlich angeordnete Auszahlung der beiden Zeit-Gesellschafter Ewald Schmidt di Simoni und Richard Tüngel mit einem verdeckten Kredit von 2 Millionen Deutsche Mark.948 Karl Ullstein sah durch Springers Vorstöße die Unabhängigkeit des Ullstein-Verlags gefährdet und protestierte beim Hamburger Verleger mit dem Hinweis, dass das »Familienunternehmen begreiflicherweise nicht gern unter die Kontrolle Ihres Verlages kommen« wolle.949 Springer, der ungeachtet aller unternehmerischen Interessen um ein gutes Verhältnis zur Ullstein-Familie bemüht war, erklärte im Mai 1957 seinen Verzicht auf weitere Zukäufe.

Unterdessen wurde die Herstellung der Berliner Ausgaben der Bild und Welt in die Ullstein-Druckerei nach Tempelhof verlegt, wo beide ab Oktober 1957 vom Band liefen.950 Im gleichen Monat erschien gegen die Widerstände örtlicher Verleger die erste Berlin-Ausgabe der Bild-Zeitung, deren Redaktion ebenfalls in Tempelhof angesiedelt wurde. Einige Monate zuvor hatte die Ullstein AG bereits den Berliner Vertrieb der Welt, der Welt am Sonntag und der Boulevard-Zeitschrift Das Neue Blatt übernommen. Im Herbst 1957 eskalierten erneut die Konflikte um das Druckereiprojekt auf dem Scherl-Grundstück, das Springer im Juli 1957 erworben hatte.951 Nach einer Phase des Zögerns setzte er sich über die Bedenken seines Kooperationspartners hinweg und begann an der Kochstraße, ein Druck- und Verlagshaus zu errichten, das dem »Tempelhofer Riesen«, dem Sitz des Ullstein-Verlags am Teltowkanal, die Existenzberechtigung entziehen sollte.952 Dieser Alleingang ermöglichte Springer, seinen Verlagsstandort an der Sektorengrenze ohne Rücksicht auf die veraltete Infrastruktur und chronische Kapitalschwäche seines Kooperationspartners zu entwickeln. Der Ullstein-Verlag reagierte auf das Scheitern der Gemeinschaftsdruckerei mit eigenen Investitionen am Standort Tempelhof. Auch auf anderen Gebieten wurde die Zusammenarbeit zwischen den beiden Verlagshäusern nicht ausgeweitet. Offenkundig sah Springer nicht nur seine Einflussmöglichkeiten auf das Beteiligungsunternehmen erschöpft, sondern auch die weiteren Potentiale des Kooperationsvertrags. Immerhin vereinnahmte der Hammerich & Lesser-Verlag im Geschäftsjahr 1958 erstmals eine bescheidene Dividende von 100.000 Deutsche Mark, nachdem der Jahresüberschuss bei rückläufiger Liquidität leicht zugelegt hatte.953 Springer wartete derweil auf die Gelegenheit, weitere Anteile der Ullstein AG aus den Händen der überalterten Inhaberfamilie übernehmen zu können.