Hamburger Abendblatt: Aufstieg zum Zeitungsverleger

Mit dem Erscheinen des Hamburger Abendblatts im Oktober 1948 erfüllte sich Springer einen langgehegten verlegerischen Traum, der bereits in den letzten Kriegsjahren »klare Umrisse« angenommen hatte.374 Einen Monat nach der bedingungslosen Kapitulation ließ er die britischen Besatzungsbehörden von seinen Plänen für das Wiedererscheinen einer Tageszeitung im Hammerich & Lesser-Verlag wissen.375 Wenige Wochen später unternahm der verhinderte Verleger einen erfolglosen Vorstoß zur Gründung einer »Zeitung für die Wehrmachtsangehörigen in den nordwestdeutschen Sammellagern«.376 Doch bald wurde deutlich, dass die britische Militärregierung neben der Tageszeitung Die Welt und der Wochenzeitung Die Zeit ausschließlich parteigebundene Tagespresse zulassen würde. Im April 1946 erschienen in Hamburg die christdemokratische Hamburger Allgemeine Zeitung, das sozialdemokratische Hamburger Echo, die FDP-nahe Hamburger Freie Presse und die kommunistische Hamburger Volkszeitung.377

Schon in den folgenden Monaten wurde erkennbar, dass die vier parteigebundenen Tageszeitungen weder die Leserbedürfnisse ausreichend befriedigen, noch die hohen journalistischen Maßstäbe der Engländer erfüllen konnten, auch wenn sich dieser Umstand aufgrund der Wettbewerbssituation vorerst nicht in den Auflagenzahlen niederschlug.378 In der Kritik stand insbesondere die fehlende politische Unabhängigkeit der Parteirichtungszeitungen, deren Lizenzträger und Journalisten als fachlich und persönlich ungeeignet angesehen wurden. Zudem wurde die Mangelwirtschaft und eine übermäßige Bürokratie, darunter auch die der Public Relations/Information Services Control (PR/ISC), für die schwache Entwicklung der Presse verantwortlich gemacht. Die Folgen waren nach Meinung der britischen Beteiligten schwerwiegend: Für sie bestand ein direkter Zusammenhang zwischen den Missständen im Zeitungswesen und den wachsenden Ressentiments deutscher Bevölkerungsteile gegenüber der Besatzungsmacht. Als Reaktion darauf wurden ab Frühjahr 1947 Maßnahmen für eine verbesserte Informations- und Öffentlichkeitsarbeit der britischen Dienststellen initiiert, in deren Zusammenhang auch die Lizenzierung parteiunabhängiger Tageszeitungen erfolgen sollte.379 Im Spätsommer 1947 fiel schließlich die Entscheidung, in der britischen Besatzungszone vier parteiunabhängige Tageszeitungen, darunter eine in Hamburg, zu lizenzieren.380 Die geringe Anzahl der Neulizenzen war dem empfindlichen Mangel an Zeitungspapier geschuldet.

Konzeption einer neuen Regionalzeitung

Als Springer von dem pressepolitischen Paradigmenwechsel erfuhr, begann er sofort mit der Ausarbeitung eines Lizenzantrags und stellte im November 1947 bei den zuständigen britischen Dienststellen ein Zulassungsgesuch für die Herausgabe einer »unabhängigen Tageszeitung aus Hamburg« mit dem Titel »Excelsior«.381 In dem begleitenden Exposé legte er seine bemerkenswerten Ideen für einen neuen Zeitungstyp in Deutschland dar. In den Mittelpunkt seines redaktionellen Konzepts stellte er nicht die Information, sondern die emotionale Wirkung, die konsequente Berücksichtigung des »Bezirks des Seelischen«. Aus dieser Maxime leitete der Verleger zwei Grundsätze für die inhaltliche und stilistische Ausrichtung der neuen Tageszeitung ab: das Lokalprinzip und die Orientierung am Bedürfnis der Leser nach einem harmonischen Zusammenleben. »Das Vertrauen des Lesers wird vor allem durch Nachrichten erworben, die ihn nahe angehen«, die einen lokalen Bezug zum Leser haben. Infolgedessen seien bereits auf der ersten Seite die lokalen Themen den überregionalen vorzuziehen – ein Novum in der damaligen Zeitungslandschaft. Der zweite Grundsatz, der sich später plakativ im Werbeslogan »Seid nett zueinander« offenbarte, folgte aus Springers Überzeugung, dass der Zeitungsleser der Nachkriegsjahre ein »geplagtes, armes Wesen« sei, »geschunden von den Stürmen der Zeit.«382 Entsprechend forderte er von seinen Redakteuren: »Behandelt mir diesen Leser schonend. […] fragt Euch, was diesem Leser wohltut, was er braucht, um seinen Alltag zu verstehen.« Natürlicher Mittelpunkt eines solchen »Alltags« und eines harmonischen Zusammenlebens war für Springer die Familie, auch wenn dies für den Verleger persönlich nur im begrenzten Maße galt. Ziel des Hamburger Abendblatts musste es sein, »Eingang in die Familie« zu finden und von allen Familienmitgliedern – »nach getaner Arbeit«383 – gelesen zu werden.384 Das publizistische Ergebnis der beiden Grundsätze war nach Springer eine »Zeitung, die den Menschen in den Mittelpunkt […] stellt«, eine »Zeitung mit Herz«.385 Zudem beabsichtigte er im Gegensatz zu anderen Tageszeitungen, nicht nur beide Geschlechter, sondern auch unterschiedlichste Bevölkerungskreise anzusprechen und entwickelte die vielzitierte »doppelte Optik«386, die gleichzeitige Ansprache verschiedener Leserbedürfnisse innerhalb einer Tageszeitung. Auf diese Weise sollte es dem Verleger gelingen, eine regionale Massenzeitung zu schaffen, die nicht nur die doppelte Auflage ihres Vorgängerblattes, des Hamburger Fremdenblatts erreichte, sondern zeitweise auch zur größten Tageszeitung Deutschlands wurde.

Eine vieldiskutierte Konsequenz von Springers Anspruch, »die Menschen menschlich« anzusprechen und »in ihrer privaten Sphäre zu verstehen«, war die weitgehende Abkehr von politischen Inhalten387: »Man soll darum den Aufbau einer Zeitung nicht auf die ideologische Spitze stellen, sondern auf die breite Basis des täglichen Lebens.«388 Die Enthaltsamkeit von politischen Beiträgen war jedoch nicht mit dem Fehlen politischer Zielsetzungen gleichzusetzen. Allein schon gegenüber den britischen und später deutschen Lizenzgebern musste Springer die geplante Regionalzeitung in den Dienst der von den Besatzungsmächten verordneten re-education policy stellen. Geschickt verknüpfte er seine Vorstellungen von einem konsequent an den Leserbedürfnissen ausgerichteten Blatt mit der Förderung einer demokratischen Grundhaltung: »Ich glaube, daß man Deutschland nach den Mißerfolgen seit 1919 Demokratie nur wird lehren können, wenn es gelingt, in den seelischen Bereich der Menschen einzudringen.«389 Selbst das »Bedürfnis nach Entspannung und Erbauung«, dessen Ansprache Springer durch das künftige Hamburger Abendblatt für konstitutiv hielt, wurde in einen politischen Kontext gestellt: »Hier soll der Leser bewußt einmal ausruhen, um ihn damit auch aufnahmefähiger für politische Fragen zu machen. Kein Teil des Blattes [Anm.: Unterhaltung und Feuilleton] gibt gleich große Möglichkeiten zu menschlich heilsamem Einfluß.«390 Überdies legte Springer in seinem Exposé ein Bekenntnis zur Westbindung, zur Entmilitarisierung, zum Kampf gegen den Antisemitismus und zu einem liberalen Wertesystem ab. Auch wenn die Bekundungen des Verlegers Teil einer Selbstdarstellung im Zuge des Lizenzierungsprozesses waren, entsprachen sie doch im Wesentlichen seiner politischen Grundhaltung. Die von ihm propagierte »menschliche Zeitung«391, die das Interesse des Lesers an Nachrichten rund um das »tägliche Leben«392 und sein Bedürfnis nach »Entspannung und Erbauung«393 massenwirksam in den Mittelpunkt stellte, bildete die Basis für die Entwicklung eines eigenständigen Human-Interest-Journalismus in Deutschland.394 Diesen aus dem angelsächsischen Raum stammenden Stiltypus, der im deutschen Zeitungswesen bislang eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, kannte Springer durch die von ihm mit »großem Beifall« gelesenen englischen Zeitungen.395 Mit der Bild-Zeitung sollte er den Human-Interest-Journalismus in weitaus stärkerer Anlehnung an die angelsächsischen Vorbilder zur Perfektion und millionenfacher Auflage bringen.

Neben dem redaktionellen Programm, seinem politisch unbelasteten Lebenslauf und seinen weltanschaulichen Bekenntnissen verwies der Verleger im Lizenzantrag mit Nachdruck auf seine »wirtschaftliche Unabhängigkeit« und auf einen »bestehenden Arbeitskreis«, der sich größtenteils aus den festen und freien Mitarbeitern der Nordwestdeutschen Hefte zusammensetzte.396 In der Tat hatte Voss im Herbst 1947 begonnen, mit den erfahrenen Journalisten Otto Siemer und Rudolf Michael die ersten Redakteure für das Zeitungsprojekt einzustellen, auch wenn diese vorläufig im Wesentlichen für die Nordwestdeutschen Hefte tätig wurden.397 Mit den beiden ehemaligen Hamburger Fremdenblatt-Redakteuren sowie Hansemann und Voss erstellte Springer im Dezember 1947 die erste Probenummer des »Excelsior«.398 Der anschließende Probedruck bei der Hanseatischen Verlagsanstalt blieb jedoch ein Intermezzo. Das Hamburger Abendblatt wurde schließlich in der Zeitungsdruckerei der Welt-Verlagsgesellschaft gedruckt, die ihre Rotationen vom Broschek-Verlag gepachtet hatte.

Lizenzvergabe zwischen britischer und deutscher Verantwortung

Während sich Springer um die Zulassung für die parteiungebundene Tageszeitung bemühte, die von der britischen Militärregierung für Hamburg vorgesehen war, zeichneten sich neue pressepolitische Entwicklungen ab. Auslöser waren forcierte Sparmaßnahmen in den britischen Dienststellen, darunter erhebliche Personalkürzungen in der PR/ISC-Gruppe.399 Die Budgetkürzungen mündeten im Oktober 1947 in die folgenschwere Entscheidung der britischen Militärregierung, die Lizenzvergabe an die deutschen Landesregierungen abzugeben.400 Das laufende Verfahren zur Lizenzierung parteiunabhängiger Tageszeitungen wurde durch den Beschluss jedoch nicht berührt und blieb vorerst in britischen Händen. Um parteipolitische Einflüsse auf die zukünftige Lizenzvergabe zu vermeiden, ordneten die Briten in jedem Land die Einrichtung eines Beratenden Ausschusses für das Pressewesen an, dem die faktische Entscheidungshoheit in den Lizenzverfahren zufallen sollte. Zugleich wurde die Gründung eines Zonenpresserats angeordnet, dem die Koordination der Beratenden Ausschüsse für das Pressewesen der Länder und die Unterstützung bei Beschaffungsfragen oblag.401 Als Vorsitzender des vom ihm mitbegründeten Zeitschriftenverlegerverbandes Nordwestdeutschland e. V. wurde Springer im März 1948 vom Hamburger Senat in den Hamburger Beratenden Ausschuß für das Pressewesen berufen, ohne dass jedoch eine unmittelbare Verbindung zwischen seiner Berufung und dem laufenden britischen Lizenzverfahren erkennbar war.402

Unterdessen bemühte sich Springer, auf verschiedenen Wegen die britische Entscheidung zu beeinflussen.403 Von hoher Bedeutung waren dabei seine zahlreichen Verbindungen zu relevanten deutschen und britischen Kreisen sowie das hohe Wohlwollen und Vertrauen, das er gerade bei den Presseoffizieren genoss. Dennoch sollten seine Vorstöße bei den Briten dieses Mal ins Leere laufen. Zu groß waren inzwischen ihre Bedenken vor einer wirtschaftlichen Übermacht des Hamburger Verlegers.404 Vorbehalte bestanden jedoch auch gegenüber den anderen vier Bewerbern um eine Hamburger Lizenz, dem früheren Verleger Karl-Georg Hagemann, dem Zeitungsgeschäftsführer Alsleben, dem ehemaligen Ullstein-Redakteur Wilhelm Schulze405 sowie den beiden Sozialdemokraten Hellmut Kalbitzer und Herbert Wehner.406 Die zuständigen britischen Dienststellen, die nicht unerheblich durch die Interessen der in London regierenden Labour-Partei bestimmt waren, favorisierten das sozialdemokratische Zeitungsprojekt. Einzig die Befürchtungen vor einer »violent reaction by Dr. Adenauer« hielten die Briten von einer solchen Lizenzentscheidung ab. Vor dem Hintergrund der Unentschiedenheit der Briten kam es im April 1947 zu einer überraschenden Wende. Während die restlichen drei unabhängigen Tageszeitungen der britischen Besatzungszone längst durch die Militärregierung lizenziert waren, leitete der britische Regionalkommissar in Hamburg, Hugh Vaughan Berry, die Hamburger Lizenzunterlagen an den frisch konstituierten Beratenden Ausschuß für das Pressewesen weiter und bat um eine Stellungnahme.407 Als Springer Ende Mai 1948 von der Entscheidung der Briten erfuhr, sah er seine Aussichten schwinden und beklagte sich bei Senator August Kirch:

»Sehr unglücklich bin ich allerdings darüber, daß nun noch der Beratende[r] Ausschuß in Hamburg gehört werden soll. […] Ich muß ganz offen gestehen, daß ich nicht weiß, wie sich die Interessenvertreter der einzelnen Zeitungen, die Sie in diesem Ausschuß finden, und die Vertreter der verschiedensten politischen Richtungen sich ausgerechnet auf Axel Springer einigen sollen, von dem sie sicherlich eine gute Zeitung und damit eine wirksame Konkurrenz erwarten. Hinzu kommt, daß ich wohl als einer der ganz wenigen wirklich unabhängig bin. Und das paßt ja auch nicht allen.«408

Gleichzeitig richtete Springer die unmissverständliche Forderung an Senator Kirch und Bürgermeister Brauer, auf den Beratenden Ausschuß im Sinne seiner Zeitungspläne Einfluss zu nehmen. Die Zeilen des Verlegers unterstrichen das enge persönliche Verhältnis zwischen Springer und Brauer, dem alten Freund der Familie. Diese Verbindung sollte sich für den Jungverleger auszahlen, denn der Bürgermeister setzte sich in den folgenden drei Wochen maßgeblich für Springers Zeitungsprojekt ein.409 Überdies hatte dieser dank eines gut gepflegten persönlichen Netzwerkes weitere einflussreiche Fürsprecher aus der Hamburgischen Politik gewonnen. Beispielhaft sei Erich Lüth, der Leiter der Staatlichen Pressestelle, genannt. Nicht zufällig veröffentlichte Springer zusammen mit Lüth ab Ende 1947 eine Schriftreihe über das »Neue Hamburg«, in der auch zahlreiche Hamburger Regierungsmitglieder zu Wort kamen.410 Glaubt man dem Mann der ersten Stunde, Otto Siemer, suchte Springer sämtliche Mitglieder des Beratenden Ausschusses auf, um »sie im Vorwege von der allein richtigen Entscheidung« zu überzeugen.411 Einmal mehr konnte er seine charismatische Kraft für die eigenen unternehmerischen Ziele einsetzen.

Unterdessen hatte Springer Anfang Juni 1948 seinen ursprünglich an die Briten gerichteten Lizenzantrag vom November 1947 neu verfasst.412 Diese zweite Fassung war nicht nur in Hinblick auf die neuen Adressaten leicht verändert worden413, sondern benannte nun auch den endgültigen Zeitungstitel Hamburger Abendblatt, der auf Anregung von Walther Hansemann schon länger den ursprünglichen Titel »Excelsior« abgelöst hatte.414 Sowohl im neuverfassten Lizenzantrag, als auch in weiteren Verlautbarungen und in den persönlichen Gesprächen hob Springer immer wieder seine besondere Eignung als Zeitungsverleger hervor.415 Insbesondere seine journalistische Kompetenz, seine Heimatverbundenheit und die publizistische Unabhängigkeit infolge einer soliden wirtschaftlichen Grundlage seines Verlagshauses finden darin Erwähnung. Zugleich suchte er, die Bedenken vor einer wirtschaftlichen Übermacht seines Verlagshauses zu zerstreuen und dem Eindruck entgegenzutreten, »daß mich das Glück seit 1945 zu sehr ausgezeichnet hat«.416 Drei Wochen später war Springer am Ziel seiner Zeitungsträume. In der zweiten Sitzung zum Lizenzverfahren votierte Mitte Juni 1948 der Beratende Ausschuß für das Pressewesen in der Hansestadt Hamburg nach einer Anhörung und einer Aussprache »mit Mehrheit« und in Abwesenheit Springers für den Lizenzantrag des Hamburger Abendblatts.417 Nachdem die Briten dem Votum formell zugestimmt hatten, erhielt der Verleger im Juli 1948 aus den Händen des Senatspressereferenten Lüth die Urkunde für die Zeitungslizenz »Nr. 1«.418

Redaktionelle und kaufmännische Vorbereitungen

Die Lizenzgewährung für das Hamburger Abendblatt fiel zeitlich mit dem historischen Ereignis der Währungsreform zusammen. Die damit einhergehende Verknappung der Liquidität hatte auch für die Verlagsbranche einschneidende Folgen. Langfristig sahen sich zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften einem drastischen Nachfragerückgang ausgesetzt.419 Das galt nicht nur für den Straßen- und Abonnementsverkauf, sondern gleichermaßen für das Anzeigengeschäft. Andererseits verbesserte sich die prekäre Versorgungslage im Bereich des Zeitungsdruckpapiers; die Beschränkung der Auflagenhöhe, des Seitenumfangs, des Anzeigenanteils und der Verbreitungsgebiete wurden aufgehoben.420 In der Folge konnte der Nachfrageüberhang erstmals bedient werden, so dass kurzfristig viele Zeitungen und Zeitschriften ihre Auflage ausweiteten.

Während die bestehenden Zeitungsverlage mit der allgemeinen Kapitalknappheit nach der Währungsreform zu kämpfen hatten, wurde im Verlagshaus an der Außenalster mit Hochdruck an den Vorbereitungen für das Erscheinen des Hamburger Abendblatts gearbeitet. Die redaktionellen Vorarbeiten lagen vollständig in der Hand des »leidenschaftlich« agierenden Jungverlegers.421 Im verklärenden Rückblick Springers war die Anfangszeit des Hamburger Abendblatts »die Zeit meiner eigentlichen Liebe zum Beruf.«422 In laufenden Redaktionskonferenzen, die schon Anfang 1948 in seiner Privatwohnung an der Elbchaussee begonnen hatten, wurde Springers Hamburger Abendblatt-Konzept weiter verfeinert und zur Umsetzungsreife gebracht.423 Neben dem wachsenden journalistischen Stab waren auch regelmäßig die Leiter der kaufmännischen Bereiche an diesen frühen Redaktionskonferenzen beteiligt, darunter der Vertriebsleiter Szimmetat, der bis zum Kriegsbeginn den Vertrieb von Hammerich & Lesser verantwortete, der Anzeigenleiter Helmuth Klosterfelde424, ein langjähriger Bekannter Springers und ehemaliger Anzeigenleiter des Hamburger Fremdenblatts, sowie der Werbeleiter Hans Heinrich Schreckenbach425, ein profilierter Werbefachmann, den Voss für das Verlagshaus gewonnen hatte. Die Einbeziehung von redaktionellen und kaufmännischen Kräften zeigt, wie ganzheitlich Springer seine Presseprodukte entwickelte, und wie geschickt er die Expertise seines Verlagshauses für diesen Prozess nutzbar machte. Gleiches galt für externe Fachleute, wie den Werbegrafiker Günther T. Schulz426 oder Friedrich Schreck, der den Zeitungskopf des Hamburger Abendblatts entwickelte.427 Das darin integrierte Wappen wurde einem Stadtsiegel von 1241 entnommen, das Walther Hansemann im Museum für Hamburgische Geschichte entdeckt hatte.428 Umrahmt wurde das Signet von einem Sinnspruch des Hamburger Dichters Gorch Fock: »Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen«. Mutmaßlich auf Springers Bestreben wurde der Titel des Hamburger Abendblatts in Frakturschrift gesetzt, die schon die Kopfzeile des Hamburger Fremdenblatts geziert hatte. Die Schrifttype war eines der vielen Elemente, die Springer bewusst von dem Hamburger Traditionsblatt übernahm, um das Hamburger Abendblatt zur legitimen Nachfolgerin des Hamburger Fremdenblatts zu stilisieren. Ungeklärt blieb lange Zeit, wer den Posten des Chefredakteurs übernehmen sollte. Nachdem eine ganze Reihe von Namen diskutiert und wieder verworfen wurde, traf Springer eine gleichermaßen überraschende wie unkonventionelle Entscheidung: Sie fiel auf den langjährigen Ullstein-Korrespondenten und Lizenzmitbewerber Wilhelm Schulze.429 Die Beweggründe des Verlegers bleiben unklar. Darüber hinaus oblag Springer die personelle Besetzung der Redaktion. Bis zum Erscheinen des Hamburger Abendblatts im Oktober 1948 baute er zielstrebig eine mehr als zwölfköpfige Redaktionsmannschaft mit vielversprechenden journalistischen Talenten, wie Wolfgang Köhler, Wilhelm Backhaus und dem späteren Regierungssprecher Günther Diehl auf.430 Der Großteil der Redakteure war einst für das Hamburger Fremdenblatt tätig gewesen.431

Abbildung 5: Urkunde über die Zulassung des Hamburger Abendblattes (1948)

Jenseits des redaktionellen Bereichs verantwortete Voss die kaufmännischen und technischen Vorbereitungen für das Hamburger Abendblatt. Erstaunlicherweise hegte der Verlagsdirektor und Prokurist aus kaufmännischen und biographischen Gründen größte Bedenken gegen die Herausgabe einer Tageszeitung, ohne aber der visionären Kraft, der Entschlossenheit und der Dynamik des zwanzig Jahre jüngeren Verlegers lange standgehalten zu haben.432 Nachdem der schließlich Bekehrte in engster Zusammenarbeit mit Springer die Konzeption und das Lizenzierungsverfahren des Hamburger Abendblatts begleitet hatte, musste ab Juni 1948 innerhalb kürzester Zeit die komplette Infrastruktur für die neue Zeitung geschaffen werden.433 Einzig die räumlichen Voraussetzungen waren zu diesem Zeitpunkt erfüllt, nachdem der Verlag wenige Wochen vor der Lizenzerteilung aus dem muffigen Hochbunker in die oberen Stockwerke eines Hinterhauses der Alten Volksfürsorge an der Außenalster übergesiedelt war.434 Die von den Engländern renovierten Räumlichkeiten, die Springer im April 1948 mit Blick auf die geplanten Zeitungsaktivitäten und unterstützt von Bürgermeister Brauer angemietet hatte, wurden weiter ausgebaut und boten schließlich sowohl der Verlagsverwaltung, als auch der zukünftigen Zeitungsredaktion und -setzerei ausreichend Platz.435 Die Beschaffung der weiteren Betriebs- und Geschäftsausstattung oblag Voss und seinem Stab. Anders als in den Anfangszeiten, war der Verleger nur noch in wenige, besonders wichtige Beschaffungsvorgänge eingebunden. Oberste kaufmännische Doktrin des sparsamen Voss war mit Blick auf die begrenzten finanziellen Mittel das Prinzip der Mietnutzung, das von der Schreibmaschine bis zum Auslieferungsfahrzeug Gültigkeit hatte.436 Auf diese Weise gelang es Voss, die Verlagsinfrastruktur des Hamburger Abendblatts praktisch ohne den Einsatz von Investitionsmitteln aufzubauen. Ein erheblicher Finanzierungsbedarf für die geplante Tageszeitung erwuchs dagegen aus den zu erwartenden laufenden Kosten, denen anfangs nur begrenzte Vertriebs- und Anzeigenerlöse gegenüberstanden. Voss gewann die nötigen Finanzmittel erstens durch einen forcierten Buchabsatz, zweitens durch die laufenden Einnahmeüberschüsse der hochprofitablen Hör zu und drittens durch eine moderate Kreditaufnahme.437 Weitsichtig hatte er in den Monaten vor der Währungsreform die Buchbestellungen ausgeweitet und beträchtliche Belletristikbestände aufgebaut, die ab Juli 1948 gegen Deutsche Mark-Wechsel verkauft wurden.438 Aus dem Wechselgeschäft resultierte ein Diskontkredit bei der Hamburger Vereinsbank, der im Oktober 1948 durch eine beträchtliche Kreditlinie von 150.000 Deutsche Mark unter Abtretung der Hör zu-Erlöse erweitert wurde.439 Bevor im Geschäftsjahr 1950 die Gewinnzone erreicht wurde, belief sich der Finanzbedarf des Hamburger Abendblatts auf rund 900.000 Deutsche Mark, von denen 400.000 Deutsche Mark aus dem Buchgeschäft und der Restbetrag von der Hammerich & Lesser Verlag GmbH getragen wurden.440 Die vielerorts geteilten Bedenken, dass sich Springer mit dem Hamburger Abendblatt finanziell übernehmen und zugleich den Erfolg der Hör zu gefährden würde, sollten sich nicht bewahrheiten.441

Kampf um Broscheks Zeitungsrotationen

Vollkommen ungelöst war dagegen lange Zeit die Frage der Herstellung des Hamburger Abendblatts.442 Während die satztechnische Infrastruktur von Provinzverlagen angemietet wurde, war der Aufbau einer eigenen Druckerei aus finanziellen Gründen ausgeschlossen. Entsprechend war Springer auf einen Pacht- oder Lohndruckvertrag mit einer Hamburger Druckerei angewiesen.443 Aus verschiedenen Gründen fiel die Wahl auf die Zeitungsrotationen von Broschek & Co., die von den Briten für Die Welt gepachtet worden und nur nachts ausgelastet waren. Bereits im ersten Halbjahr 1948 nahmen Springer und Voss Gespräche mit dem Treuhänder des Broschek-Verlags, Kurt Merkel, und der Hauptanteilseignerin Antje Broschek auf, stießen jedoch auf Ablehnung.444 Zu groß war aus Sicht von Merkel und Broschek die Gefahr, dass ein möglicherweise erfolgreiches Konkurrenzprodukt das geplante Wiedererscheinen des Hamburger Fremdenblatts gefährden würde. Dies galt vor allem für einen Wettbewerber, der sich so unverblümt der Traditionen des Hamburger Fremdenblatts zu bemächtigen drohte. Zudem lehnte die Familie eine vertragliche Bindung von Druckereikapazitäten ab, die in einem künftigen Lizenzverfahren für das Hamburger Fremdenblatt unter Umständen von entscheidender Bedeutung gewesen wären. Gleichwohl konnte Mitte 1948 das abschlägige Votum des Treuhänders und der Familienangehörigen nur eine symbolische Wirkung entfalten, da die Broscheksche Zeitungsdruckerei in der Verfügungsgewalt der Briten lag. Springer und Voss konnten damit rechnen, dass sie von der öffentlichen Kritik an der Boykotthaltung der Druckereibesitzer profitieren und die Unterstützung der Militärregierung erhalten würden.445 Vor diesem Hintergrund hatte Springer schon frühzeitig Verhandlungen mit dem britischen Controller der Welt, Steel McRitchie, aufgenommen. Kurz vor dem geplanten Erscheinen des Hamburger Abendblatts im Oktober 1948 schlossen die Welt-Verlagsgesellschaft und die bislang inaktive Druckereigesellschaft Springer & Sohn einen Lohndruckvertrag mit einer Laufzeit von maximal neun Monaten.446 Die Matern sowie das Papier wurden vom Axel-Springer-Verlag geliefert. Bemerkenswert war, dass McRitchie dem Vertrag offenbar erst auf Druck höherer britischer Dienststellen zustimmte.447 Überdies beschlossen die Beteiligten, den Lohndruckvertrag geheim zu halten.448 Diese beiden Punkte zeigen die Ambivalenz, mit der die britischen Stellen agierten. Einerseits sahen sie sich offenbar in der moralischen Pflicht, einen Lizenzinhaber mit verfügbaren Druckkapazitäten zu unterstützen, zumal es sich um einen Verleger handelte, der über zahlreiche Fürsprecher in maßgeblichen Kreisen der Besatzungsmacht sowie über beste politische Kontakte in Hamburg verfügte. Andererseits spürten wohl einige britische Beteiligte eine besondere Verantwortung gegenüber der Familie Broschek, deren Verlagshaus durch die britische Teilrequisition in seinem wirtschaftlichen Entwicklungspotential deutlich beeinträchtigt war.

 

Abbildung 6: Axel Springer am Umbruchtisch des Hamburger Abendblattes (Datum unbekannt)

Nach dem Bekanntwerden der Vereinbarung zwischen Springer und der Welt begann ein erbitterter Abwehrkampf des Broschek-Lagers gegen den Lohndruckvertrag. Der im Oktober und November 1948 eskalierende Konflikt, der in den britischen Besatzungsbehörden bis zur Deutschlandabteilung des Londoner Foreign Office für Unruhe sorgte, ging weit über die Herstellung des Hamburger Abendblatts hinaus.449 Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand vielmehr der Versuch der Erbengemeinschaft, die britische Requisition des Verlagshauses für unrechtmäßig erklären zu lassen.450 Am Tag des Erscheinens des Hamburger Abendblatts, am 14. Oktober 1948, reichte Broschek-Treuhänder Merkel beim Hamburger Landgericht eine Unterlassungsklage ein, die Springer die Herstellung des Hamburger Abendblatts in der Broschek-Druckerei, die Nutzung des Zeitungskopfes Hamburger Abendblatt in Anlehnung an das Hamburger Fremdenblatt und die werbetechnische Bezugnahme auf das Traditionsblatt verbieten sollte.451 Die Unterlassungsklage wurde Ende Oktober 1948 vom Landgericht Hamburg abschlägig beschieden.452 Zudem versuchte Merkel, die Unterstützung der Handelskammer Hamburg zu gewinnen und bat um Ratschläge, wie die »Herstellung des Hamburger Abendblatts in unserem Betrieb« verhindert werden könnte.453 Gleichzeitig bemühte er sich, Voss unter Hinweis auf seine Vergangenheit im gleichgeschalteten Broschek-Verlag öffentlich zu desavouieren. Auch wettbewerbsseitig blieb die Erbengemeinschaft nicht untätig: Am Erscheinungstag des Konkurrenzobjekts kündigte sie in sämtlichen anderen Hamburger Tageszeitungen das baldige Wiedererscheinen des Hamburger Fremdenblatts an. Springer reagierte mit der Einschaltung des Zonenpresserats und forderte die »Abwendung dieser gegen die Neuordnung des Pressewesens gerichteten Bestrebungen« sowie die »Sicherung des weiteren Erscheinens seiner lizenzierten Zeitung und Zeitschriften«.454 In einem daraufhin vom Zonenpresserat Anfang November 1948 initiierten Schlichtungsverfahren konnte sich der Treuhänder Merkel mit seinen Forderungen nicht durchsetzen.455 Vor allem Fritz Sänger, der Vorsitzender des Hamburger Beratenden Ausschusses für das Pressewesen, Erich Lüth, der Leiter der Staatlichen Pressestelle, und Cyril Hart als Vertreter der britischen Militärregierung, zeigten wenig Neigung, den Argumenten der Broschek-Erbengemeinschaft zu folgen. Schließlich musste das Broschek-Lager die bittere Pille schlucken und tatenlos zusehen, wie auf den eigenen, von den Briten gepachteten Rotationen, die Tageszeitung hergestellt wurde, die das spätere Wiedererscheinen des Hamburger Fremdenblatts zu einem wirtschaftlich aussichtslosen Unterfangen machen sollte.

Vom Erscheinen bis zur auflagenstärksten Tageszeitung Hamburgs

Am 14. Oktober 1948 erschien im Hammerich & Lesser-Verlag mit einer Startauflage von 100.000 achtseitigen Exemplaren die erste Ausgabe des Hamburger Abendblatts.456 Springer hatte an diesem Tag nicht nur ein langgehegtes unternehmerisches Ziel erreicht, sondern auch den Grundstein für den größten Zeitungsverlag der Bundesrepublik gelegt. Feucht-fröhlich wurde die neue Tageszeitung aus der Taufe gehoben.457 Der »gewaltige Betrag« von 9.000 Deutsche Mark floss in die Bewirtung der prominenten Gäste, darunter der Hamburger Bürgermeister und die leitenden britischen Presseoffiziere. Das an drei Tagen erscheinende Hamburger Abendblatt erreichte binnen weniger Wochen eine Verkaufsauflage von 60.000 und wurde im Laufe des Jahres 1949 das auflagenstärkste Blatt der Hansestadt.458 Vom Erfolg des auf Lokalnachrichten und menschliche Zwischentöne ausgerichteten Human-Interest-Journalismus wurden die drei großen Hamburger Tageszeitungen, das Hamburger Echo, die Hamburger Allgemeine Zeitung und die Hamburger Freie Presse, allesamt Parteirichtungszeitungen, völlig überrascht.459 Garant für die konsequente Umsetzung des neuen Erfolgsjournalismus war Springer selbst. Mit großer Leidenschaft und Beharrlichkeit setzte er in den täglichen Redaktionskonferenzen oder am Umbruchtisch seine redaktionellen Vorstellungen durch.460 Springers verlegerische Passion und sein charismatisches Auftreten, seine fachliche und persönliche Autorität, geschickte Menschenführung und so mancher cholerischer Anfall trieben die Redaktionsmannschaft und den kaufmännischen Apparat immer wieder zu Höchstleistungen.461 Noch Jahrzehnte später berichteten Führungskräfte von der motivationsfördernden Wirkung seiner Aura und Ausstrahlungskraft, auch als sich Springer längst aus der verlegerischen Tagesarbeit zurückgezogen hatte und nur noch wenig Kontakt zu seinen Mitarbeitern pflegte.462

Der verlegerische Erfolg des Hamburger Abendblatts war naturgemäß nicht allein das Verdienst der Redaktionsmannschaft, sondern auch der Anzeigen-, Vertriebs- und Werbeabteilung, die seit Juli 1948 unter der kaufmännischen Leitung des ehemaligen Scherl-Anzeigenleiters Hans Funk463 standen. Während der Verleger der Anzeigen- und Vertriebsabteilung sowie der kaufmännischen Verlagsleitung weitgehend freie Hand ließ, war die Werbeabteilung eine Domäne, die von seinem Gespür für den Kunden und seinen in den Anfangsjahren stetigen Ideenstrom für Werbebotschaften und -aktionen geprägt wurde.464 Wie im redaktionellen Bereich, beschränkte sich der Verleger nicht allein auf die strategischen Vorgaben, sondern initiierte ganze Werbekampagnen und begleitete deren Umsetzung. Beständig und mit großer Begeisterung sammelte Springer Ideen zu unterschiedlichsten verlegerischen Aspekten. Häufig griff er dabei auf innovative Vorbilder in der ausländischen Presse, vor allem aus den angelsächsischen und skandinavischen Ländern, zurück. Aus Kopenhagen brachte Axel Springer beispielsweise die Anregung mit, zum Frühlingsanfang Blumenbouquets in der Hamburger Innenstadt zu verteilen.465 Fast alle Werbemaßnahmen des Hamburger Abendblatts zielten bis Ende der 1960er-Jahre darauf ab, die von der Regionalzeitung propagierten Werte der Harmonie und Mitmenschlichkeit zu kommunizieren und mit dem Blatt in Verbindung zu bringen.466 Die redaktionelle Ausrichtung des Hamburger Abendblatts kulminierte in dem später allgegenwärtigen Slogan »Seid nett zueinander«, der vom Werbeleiter Schreckenbach entwickelt wurde.467 Die Urheberschaft des Mottos zeigte die befruchtende Wechselwirkung zwischen Springer, der Hamburger Abendblatt-Redaktion und der vom erfahrenen Kommunikationsfachmann Schreckenbach geleiteten Werbeabteilung.468 Die Werbung folgte mithin nicht nur dem redaktionellen Konzept der Tageszeitung, sondern wirkte wiederum prägend für das Hamburger Abendblatt selbst; »Parolen, Aufforderungen, Maximen« der Werbeabteilung setzten sich im Blatt fort.469 Die beschriebene Wechselwirkung war zweifellos ein Produkt des Ende der 1940er-Jahre gelebten Führungsstils von Springer, der erfahrene redaktionelle und verlagskaufmännische Kräfte mit hohem Kreativitätspotential für sein Verlagshaus gewann und diese zum beständigen interdisziplinären Austausch motivierte. Zugleich stand der Slogan »Seid nett zueinander« beispielhaft für die fortschrittliche Kommunikationsstrategie Schreckenbachs, der die damals weit verbreiteten anpreisenden Produktbeschreibungen durch Werbebotschaften ersetzte, die etwas »vom Produkt aussprechen lassen, was gar nicht unmittelbar mit der Ware zu tun hat«.470 Eingebettet war dies in das oberste kommunikationspolitische Ziel, vom Hamburger Abendblatt »reden zu machen«.471 Gleich ob sich die Aktionen um Frühlingsblumen, Hochzeitskutschen, Seifenkistenrennen, 100-DM-Scheine von Herrn Lombard, grüne Pantoffeln zum Nikolaustag, Glückspfennige zu Silvester oder Zebrastreifen für vorbildliches Verkehrsverhalten drehten, Springers kreative Webekampagnen sollten diese Zielsetzung erfolgreich befördern. Weit weniger von Springer beachtet, agierte die Vertriebsabteilung unter der Leitung von Arthur Szimmetat. Ihr Verdienst war die geradezu generalstabsmäßig organisierte Abonnentengewinnung in den ersten Monaten nach Erscheinen des Hamburger Abendblatts.472 Um hohe Zustellkosten aufgrund weit verstreut wohnender Bezieher zu vermeiden, wurde keine flächendeckende Kampagne durchgeführt, sondern Stadtteil für Stadtteil bearbeitet und jeweils gezielt eine kritische Masse an Abonnenten eingeworben. Innerhalb von nur zwei Jahren stieg die Zahl der Bezieher des Hamburger Abendblatts auf 180.000.473

Abbildung 7: Erstausgabe des Hamburger Abendblattes (1948)

Im Anzeigenbereich stand Springer mit Klosterfelde ebenfalls ein erfahrener Fachmann zur Verfügung. Der ehemalige Anzeigenleiter des Hamburger Fremdenblatts und der Hamburger Allgemeinen Zeitung verfügte nicht nur über die entsprechenden Kontakte in die regionale und überregionale Wirtschaft, sondern entwickelte zudem innovative Ansätze zur Steigerung des Anzeigengeschäfts.474 Beispielhaft sei die Einführung von Wort- statt Zeilentarifen bei Kleinanzeigen angeführt. Unter scharfem Protest der Hamburger Zeitungsverlegerschaft warb Klosterfelde weite Teile der Anzeigenabteilung der Hamburger Allgemeinen Zeitung für das Hamburger Abendblatt ab.475 Beflügelt vom rasanten Auflagenwachstum gelang es Klosterfelde rasch, das Hamburger Abendblatt als bedeutendes Anzeigenblatt zu positionieren. In den ersten anderthalb Jahren des Bestehens der neuen Tageszeitung stiegen die Anzeigenerlöse auf rund 2,6 Millionen Deutsche Mark, während die Anzeigenquote auf 36 Prozent zulegte.476 Unterstützt wurde das Anzeigengeschäft ab Mai 1949 durch eine repräsentative Geschäftsstelle am Hamburger Gänsemarkt.477 Die teure Dependance478 in Bestlage zeigte nicht nur die Bedeutung, die Springer und die Verlagsleitung einem aufwendigen Werbeauftritt des Hamburger Abendblatts beimaßen, sondern war zugleich ein Symbol für das Selbstverständnis des jungen Zeitungsverlegers. Im Juni 1949 wurde der Geschäftsstelle auf Empfehlung von Schreckenbach ein Reisebüro angegliedert, das bis 1952 in Kooperation mit Thomas Cook & Son S.A. betrieben und später mit dem Reisebüro der Welt fusioniert wurde.479

Im September 1949 trat das Besatzungsstatut in Kraft, mit dem die westlichen Alliierten die Gültigkeit des Grundgesetzes anerkannten. Da dieser Schritt die Gewährleistung der in Artikel 5 verankerten Pressefreiheit einschloss, hoben die betroffenen Besatzungsmächte einen Großteil der bisherigen Pressegesetzgebung, darunter das Lizenzsystem, auf.480 Während die britische Zone in der Folgezeit fast 200 Zeitungsgründungen zählte, entstand in Hamburg nur eine Tageszeitung von regionaler Bedeutung: die Hamburger Morgenpost.481 Daneben wurden eine Reihe von lokalen Zeitungen und Wochenblättern, wie die Bergedorfer Zeitung oder die Rahlstedter Woche begründet.482 Von ihnen ging zwar keine existenzbedrohende Wirkung für die bestehenden Hamburger Tageszeitungen aus, sie verschärften aber die massiven Auflagenrückgänge, denen die meisten Blätter als Folge der Währungsreform ausgesetzt waren. Das Hamburger Abendblatt setzte dagegen ungeachtet der allgemein sinkenden Zeitungsnachfrage, der Umstellung auf das tägliche Erscheinen oder der Aufhebung des Lizenzsystems seinen Auflagenhöhenflug unvermindert fort. Im Oktober 1949 führte das Hamburger Abendblatt »nach dem täglichen Erscheinen […] mit noch größerem Abstand« den Hamburger Zeitungsmarkt an.483 Während sich Springer aus der täglichen Redaktionsarbeit zunehmend zurückzog, erreichte das inzwischen auf die Axel Springer GmbH übertragene Hamburger Abendblatt 1950 eine durchschnittliche Verkaufsauflage von mehr als 200.000 Exemplaren.484 Zugleich stiegen die Vertriebs- und Anzeigenerlöse von 7 Millionen Deutsche Mark in den Jahren 1948/49 auf 12 Millionen Deutsche Mark im Jahr 1950, was einem Anteil am Verlagsumsatz von 42 Prozent entsprach.485 Erstmals erwirtschaftete Springers Tageszeitung einen Gewinn.

Grafik 3: Entwicklung des Hamburger Abendblatts (bis 1960)486

Im April 1952 wurde Wilhelm Schulze als Chefredakteur des mittlerweile von Springer & Sohn verlegten Hamburger Abendblatts abgelöst, nachdem der Verleger offenbar mit der personellen und inhaltlichen Redaktionsführung unzufrieden gewesen war.487 Es folgte der bisherige Chef vom Dienst, Otto Siemer, der schon in der Konzeptionsphase zu den engsten Mitarbeitern Springers zählte und das »Persönlichkeitsbild« der Tageszeitung »entscheidend mitgeprägt« hatte.488 Zu diesem Zeitpunkt war die Redaktion nicht nur auf über 40 Journalisten angewachsen, sondern hatte sich, wie später erkennbar wurde, längst zu einer »Kaderschmiede« für das Verlagshaus entwickelt. Spätere Führungskräfte, wie Christian Kracht489, Peter Tamm490, Rolf von Bargen491 oder Hans Jürgen Mesterharm492 begannen ihre Karriere als Redakteure beim Hamburger Abendblatt. Unter der Ägide von Siemer erreichte die Zeitung Mitte der 1950er-Jahre ihren höchsten Auflagenstand von durchschnittlich 330.000 Exemplaren, bevor das Blatt bis zum Ende der 1960er-Jahre im Mittel bei rund 310.000 stagnierte und eine schwächere Entwicklung als der Gesamtmarkt verzeichnete.493 Zu diesem Zeitpunkt beherrschte Springer den Hamburger Regionalzeitungsmarkt nahezu konkurrenzlos. Mit Ausnahme der Hamburger Morgenpost und des Hamburger Abendblatts stellten sämtliche Hamburger Tageszeitungen ihr Erscheinen bis zum Beginn der 1960er-Jahre ein. Wesentliche konzeptionelle Änderungen erfuhr das Hamburger Abendblatt in den 1950er-Jahren nicht.494 Bemerkenswert war die folgenschwere Entscheidung des Verlegers, auf eine Expansion in das Hamburger Umland zu verzichten.495 Über die Gründe für diese Selbstbeschränkung kann nur spekuliert werden. Denkbar ist, dass er nicht für ein massenhaftes Zeitungssterben in Schleswig-Holstein und Niedersachsen verantwortlich sein wollte, nachdem in Hamburg ein Großteil der Tageszeitungen verschwunden war. Ungeachtet der Auflagenstagnation stieß das wirtschaftliche Potential des Hamburger Abendblatts nicht an seine Grenzen: Zwischen 1950 und 1960 stiegen die Vertriebs- und Anzeigenerlöse von 12 Millionen auf annähernd 45 Millionen Deutsche Mark.496 Der Zuwachs war vor allem auf das florierende Anzeigengeschäft zurückzuführen, dessen Quote 1960 bei 69 Prozent lag. Zugleich erwirtschaftete das Hamburger Abendblatt ein Betriebsergebnis von fast 6 Millionen Deutsche Mark und eine Umsatzmarge von 13 Prozent. Der Umsatzanteil der ersten Tageszeitung Springers lag Ende der 1950er-Jahre allerdings nur noch bei rund 10 Prozent.