Kapitel 7

»Erika! Wie schön, dich zu sehen! Ich hab mir schon Sorgen gemacht.« Julie begrüßte ihre Freundin noch am selben Tag überschwänglich. »Erzähl! Hast du Reinhard gefunden?«

Über Erikas Gesicht huschte ein kurzes Lächeln. »Ja.«

»Das ist ja wunderbar!« Julie freute sich ehrlich. »Und? Kommt er zurück in die Stadt?« Julie war ganz aufgeregt und zog Erika am Ärmel in den Salon des Stadthauses. »Foni, bring uns bitte etwas zu trinken. Erika, setz dich doch.« Aber das Lächeln auf Erikas Gesicht war bereits wieder verschwunden. »Erika? Ist alles gut?« Erika senkte den Blick und nestelte an ihrem Kleid.

»Nein. Reinhard wird nicht in die Stadt zurückkommen. Er kann nicht.«

Julie sah Erika an, wie tief verzweifelt sie war. Sie verstand zwar nicht, worum es ging, stand aber auf und legte ihrer Freundin tröstend den Arm um die Schulter. »Ach, Erika ...«

Erika weinte nicht, aber ihr Körper bebte, als würde sie einen innerlichen Kampf ausfechten. »Er ... er muss auf Batavia bleiben. Und ich ... ich muss ... irgendwie allein ...«

»Aber du bist doch die letzten Jahre auch allein zurechtgekommen.« Julie wusste nicht, was sie sagen sollte, traute sich aber auch nicht zu fragen, was genau passiert war.

»Ja, aber da habe ich immer gedacht, eines Tages wären wir wieder vereint.«

Die Gewissheit, nun endgültig auf sich allein gestellt zu sein schien für Erika schlimmer als die Jahre, in denen sie es schon gewesen war. Stockend berichtete sie von den Erlebnissen der letzten Tage.

Julie hörte schweigend zu, dann saß auch sie ratlos da.

»Aber du willst doch nicht das Land verlassen, oder?« Sie hatte nicht nur große Angst um Erika und die Kinder, sondern spürte auch ein Unbehagen, dass sie Erika nun ebenfalls verlieren könnte. Sie war schließlich ihre einzige Vertraute hier im Land. Erika aber schüttelte nur schwach den Kopf. »Selbst wenn ich wollte, ich könnte nicht. Ich habe kaum Geld, und so eine Reise mit einem kleinen Kind ... zwei kleinen Kindern«, verbesserte sie sich, »wäre viel zu riskant.«

»Außerdem, wo sollte ich hin? Nach Deutschland? Was sollte ich dort anfangen? Würde ich in die Gemeine zurückkehren, als Witwe, was ich ja aber eigentlich noch gar nicht bin ... es ist kompliziert.«

Julie schwieg einen Moment. »Ach, Erika ... ich wünschte, die Reise wäre anders verlaufen«, sagte sie dann, bevor sie hinzufügte: »Aber ich habe während deiner Abwesenheit auch einiges erlebt. Eigentlich muss ich dir sogar danken, denn durch deine Abwesenheit und meine Vertretung in der Krankenstation ...« Julie erzählte von ihrer Bekanntschaft mit Suzanna.

Erika schaute Julie verblüfft an. »Du meinst, du und die ehemalige Gelie ... von deinem Mann, ihr habt euch getroffen?«

»Na ja, Geliebte ... ich weiß nicht, ob das die richtige Bezeichnung ist. Suzanna hat ihn nicht ... genau genommen war sie ...« Julie wusste nicht, wie sie die komplizierte Situation beschreiben sollte. Das war wirklich zu verworren, und sie hatte sich in den letzten Tagen öfter gefragt, wie stark wohl solche Beziehungen in der Kolonie ausgeprägt waren. Besser, man dachte nicht darüber nach. Sie wurde in ihren Überlegungen unterbrochen.

»Hast du inzwischen etwas von Jean gehört?«

Julie verneinte traurig. »Und leider auch schon einige Zeit nichts mehr von Rozenburg, ich hoffe, da ist alles in Ordnung.« So ganz glaubte sie nicht daran, Pieter war unberechenbar und würde ihre Abwesenheit ganz sicher auf die eine oder andere Art ausnutzen.

»Was willst du jetzt machen?« Erika sah Julie fragend an. »Ich meine, willst du zurück?« Julie zuckte mit den Achseln. »Ich muss zurück, vor allem wegen Henry. Schon bald. Aber ich will erst abwarten, bis bei Suzanna wieder alles in geordneten Bahnen läuft. Ich könnte nicht mit der Gewissheit leben, dass sie und ihre Kinder in Armut leben müssen, nur weil Karl nicht für sie vorgesorgt hat!«

Suzanna ging es stetig besser. Am nächsten und auch am übernächsten Tag ließ Julie sich von Foni allerlei Leckereien aus der Küche des Stadthauses zusammenpacken und nahm sie mit in Suzannas Haus. Minou erwartete sie bereits aufgeregt an der Tür und steckte sofort ihre Nase in den Korb.

Suzanna saß in der Küche, als Julie hereinkam. Heute würde sie mit ihr reden.

»Sie sollten das Kind nicht zu sehr verwöhnen. Wir können nicht ... und wenn Sie dann nicht mehr kommen, wird Minou enttäuscht sein«, sagte Suzanna und blickte ihrer Tochter nachdenklich hinterher, als diese mit einer Hand voll Keksen glücklich die Küche verließ. Dann senkte sie den Blick. »Und wir brauchen keine Almosen.«

Julie setzte sich zu Suzanna an den Tisch. »Suzanna, ich bringe keine Almosen, ich bringe Ihnen etwas zu essen, da Sie krank waren und nicht selbst für sich und Ihr Kind sorgen konnten«, sagte sie eindringlich. »Im Übrigen mache ich das gern«, fügte sie leise hinzu.

»Warum?« Jetzt sah Suzanna Julie an. In ihrem Blick lag ehrliches Erstaunen. »Warum tun Sie das? Sie müssten doch böse auf mich sein.«

Julie lachte auf. »Suzanna! Ich? Ich bin noch nicht einmal vier Jahre in diesem Land. Sie hingegen ... Sie waren doch schon lange vor mir da, auch für Karl.« Sie verspürte nicht einmal Bitterkeit. »Seit wann, wenn ich fragen darf, kannten Sie Karl eigentlich?«

Ein bitteres Lächeln huschte über Suzannas Gesicht. »Ich bin die Tochter von Karls früherer Kinderfrau. Die Tochter einer Sklavin. Als ich geboren wurde, war Karl zehn Jahre alt. Ich gehörte ihm vom ersten Moment an. Meine Mutter starb, als ich zwölf war. Ich blieb bei der Familie Leevken.«

»Oh, und Ihr Vater?«

Suzanna schwieg einen Moment. Dann sprach sie leise weiter: »Wissen Sie, in diesem Land ... ich hatte keinen Vater. Meine Mutter gehörte dem Vater von Karl, der ... Sie verstehen?«

Suzanna war nicht nur schon immer Karls Sklavin gewesen, sondern mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit auch seine Halbschwester! Und ihre Kinder somit ... Julie schüttelte es bei dem Gedanken.

»Grundgütiger ...«, entfuhr es Julie. »Es tut mir leid! Ich wusste ja nicht ...« Sie war ehrlich entsetzt. Betroffen fügte sie hinzu: »Sie waren also schon ... sehr lange bei Karl.«

Suzanna zuckte nur mit den Achseln. »Ja, eigentlich schon immer. Das ist eben so in diesem Land.«

»Und die Kinder?«, Julie musste es genau wissen, »ich meine, ist Karl der Vater?«

Suzanna nickte. »Ja. Beide Kinder sind von Karl.«

Julie schwieg betroffen.

»Karl war übrigens sehr glücklich, als sie ihm einen Sohn geschenkt haben. Wobei ...«

»Wobei was?«

»Na ja, ich bin die letzten Jahre nicht mehr schwanger geworden. Es schien, als ob Karl nicht mehr ... Sie wissen schon. Dass Sie ihm noch einen Sohn geschenkt haben, hat ihn wirklich zufrieden gemacht. Mein Sohn hätte ihn ja nie beerben können.«

»Er hat mit Ihnen darüber geredet?« Das wiederum erstaunte Julie.

»Natürlich, er hat sehr viel von der Plantage geredet.«

Julie kam nicht umhin, diese Frau zu bewundern. Schließlich hatte sie ihr ganzes Leben an der Seite eines Mannes verbracht, für den sie doch nie das sein konnte, was andere Frauen waren. Hatte sie das überhaupt gewollt? Oder war ihre Beziehung zu Karl nur eine reine »Besitzangelegenheit« gewesen?

Jetzt, als Suzanna den Blick senkte und leise fragte: »Ich hörte ... es gab einen Unfall ... und da Karl nicht wiederkam ...«, wurde ihr bewusst, dass diese Frau wirklich etwas für ihn empfunden hatte.

»Ja, einen Unfall ...«, Julie wollte nicht darüber sprechen. »Hätte ich gewusst ... ich hätte Sie benachrichtigen lassen.« Wieder meldete sich das Gefühl der Schuld, das sie so häufig überkam.

Julie kämpfte immer noch mit dem schlechten Gewissen, Martina den Vater genommen zu haben, aber jetzt wurde ihr bewusst, dass sie eine ganze Familie zerstört hatte. Es war Notwehr! Reine Notwehr, versuchte sie sich zu beruhigen.

»Hat Karl Ihnen ... ich meine, hat er Sie irgendwie abgesichert?«, fragte sie vorsichtig.

Suzanna lachte leise auf. »Nein.«

»Und das Haus hier? Gehört es Ihnen?«

»Nein, es gehört zur Plantage. Und Karls Schwiegersohn ... Ihr Schwiegersohn hat mich schon benachrichtigen lassen, dass das Haus bald nicht mehr tragbar sei für die Plantage. Ich soll mich schon mal umsehen.«

»Was hat er?« Julie fuhr hoch. Das sah Pieter ähnlich. »Er kann Sie und die Kinder doch nicht auf die Straße setzen! Ich meine, irgendwie sind wir ja alle ... sind Sie mit Martina ...«

Suzanna winkte ab. »So was zählt hier nicht, verwandt ist man nur, wenn man auch die gleiche Hautfarbe hat.« In ihrer Stimme lag nicht einmal Bitterkeit.

Julie wusste, dass Suzanna recht hatte. Kein Weißer würde zugeben, dass es Abkömmlinge aus gemischtfarbigen Beziehungen gab. Die unfreiwilligen Nachkommen boten sich als Arbeitskräfte an, und die freigekauften Gespielinnen versorgte man eben unter der Hand mit. Aber sich öffentlich dazu bekennen? Nie!

Julie hatte vom Fall eines jungen Mannes gehört, der vor ein paar Jahren gewagt hatte, um die Rechte seiner farbigen Frau zu kämpfen. Nach Monaten der gesellschaftlichen Ächtung und Demütigungen war er mit ihr nach Europa abgereist. Und Julie war sich sicher, dass man in Europa toleranter war als in dieser kleinen Kolonie. Oder besser gesagt: In Europa gab es keine Sklaverei mehr.

Sie war fest entschlossen, Suzanna zu helfen. »Machen Sie sich keine Sorgen, noch habe ich auf der Plantage ein Wort mitzureden.«

Das war zwar gelogen, Julie war von Pieter regelrecht entmündigt worden. Aber jetzt, wo es nicht mehr nur um sie und Henry ging, sondern auch um Suzanna und ihre Kinder, spürte Julie neuen Mut, es mit Pieter aufzunehmen. Sie musste die Plantage aus seiner Hand retten. Und dazu brauchte sie Jean. Sie würde ihn finden.