Als die Kutsche die Einfahrt hinabfuhr, wirbelten die Hufe der Pferde eine Wolke aus rotem Sandstaub auf.

»Wird Zeit, dass es mal wieder regnet. Diese Hitze ...« Jan Vandenberg klopfte sich die feinen Körner vom dunklen Sakko.

Seine Frau Helena, die rücklings zum Kutscher im offenen Wagen saß, streckte die Hand nach ihrer Tochter Juliette aus. »Komm zu mir rüber.«

Doch die neunjährige Julie, wie sie liebevoll von ihren Eltern genannt wurde, schüttelte den Kopf. »Mama, hier kann ich viel besser sehen.« Sie kuschelte sich an den Arm ihres Vaters und hielt ihr Gesicht in den kühlen Fahrtwind.

Seit einigen Wochen lähmte eine drückende Hitze die Menschen und Tiere. Froh, an diesem Juniabend dem stickigen Stall ein paar Stunden zu entkommen, verfielen die Pferde jetzt auf der Straße in einen forschen Trab. Und auf den Straßen Rotterdams erwachte in der lauen Abendluft langsam das Leben.

Julie war auch heute stolz, dass sie ihre Eltern zu einem Dinner bei Freunden begleiten durfte. Es war nicht das erste Mal, und wie immer erfüllte sie die Vorfreude mit einer kribbeligen Nervosität. Ihre Gedanken drehten sich um die feine Gesellschaft, die sie besuchen würde. Hoch konzentriert, sodass sich ihr kleiner Mund verkniffen spitzte, ging sie nochmals die Dinge durch, die sie beachten musste: den höflichen Knicks vor der Gastgeberin, die einzelnen Besteckteile bei Tisch und wie sie zu benutzen waren. Hoffentlich gab es nichts Schwieriges zu essen! Mit Muscheln hatte sie immer Probleme und kleckerte dann oft. Und dass sie sich ja nicht mit dem Ärmel über die Nase wischte! Sie wünschte sich so sehr, dass sie ihre Sache gut machte. Sie hoffte, ihre Eltern würden stolz auf sie sein und sie wegen ihres Benehmens loben.

Julie bewunderte ihre Mutter, die immer mit einer absoluten Selbstsicherheit und stillen Eleganz auftrat. Ihr Vater war, als angesehenes Mitglied der Rotterdamer Gesellschaft, gleichermaßen beliebt und souverän als Gast wie als Gastgeber. Er wusste ein Gespräch immer zu lenken, brachte gerne kleine Scherze ein. Selbst als die Köchin der Werkendams bei einem der letzten Besuche die Dinnersuppe so versalzen hatte, dass die Gastgeberin hochrot anlief und die Gäste husteten, hatte ihr Vater freundlich gelächelt und bemerkt, die Speise sei durchaus exotisch, aber dennoch schmackhaft. Und sein Wort zählte, alle hatten weitergegessen, hinterher aber dem Wein reichlich zugesprochen. Sie wollte eines Tages auch so werden wie ihre Eltern.

»Nun setz dich schon zu deiner Mutter, sonst siehst du gleich aus wie ein Staubmädchen.« Jan Vandenberg schob das blond gelockte Kind hinüber auf die gegenüberliegenden Sitzpolster. Julie tauchte aus ihren Gedanken auf und schaute erschrocken an sich herab. Auf ihrem Kleidchen lag ein leichter rötlicher Schimmer. Nein – mit einem verschmutzten Kleid konnte sie nicht beim Dinner erscheinen.

Helena versuchte, den Schmutz mit sachtem Streichen zu entfernen. »Nicht schlimm Schatz, das sieht man gar nicht!« Dann schob sie ihrer Tochter eine verirrte Locke zurück unter das kleine Hütchen, legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie zärtlich an sich.

»Schau, jetzt werden wir beide gleich ganz sauber ankommen, während dein Vater eher einem Straßenfeger ähneln dürfte. Vielleicht lassen sie ihn so gar nicht rein ...«

Julie hob den Blick und betrachtete besorgt ihren Vater. Das leise Lachen ihrer Mutter aber verriet, dass ihre Worte wohl eher als Scherz gemeint waren.

Niemand von ihnen ahnte zu diesen Zeitpunkt, welch tragisches Ende dieser Sommertag nehmen würde.

Ein paar Straßen weiter hatte ein Kutscher sein Gefährt abgestellt: vier wuchtige Belgische Kaltblüter vor einem Wagen, voll beladen mit Weinfässern. Ein paar kleine Jungen, durch die frische Brise des Abends übermütig geworden, machten sich einen Spaß daraus, eines der Pferde mit einem langen Stock zu kitzeln, bis es gereizt mit dem Schweif schlug, aufstampfte und sich dabei mit einem Hinterbein in der Leine verfing, die der Kutscher am Kutschbock festgeknotet hatte. Die vorderen Pferde bekamen dadurch einen kräftigen Ruck im Maul. Eins von ihnen scheute heftig. Sofort setzte sich das Gespann in unkontrolliertem Galopp in Bewegung. Die Bengel rannten blitzschnell in einen Hinterhof, wohl wissend, dass sie es übertrieben hatten. Der herbeieilende Kutscher konnte seinem Wagen nur noch fassungslos nachschauen. Fässer polterten herab und stachelten die Panik der Pferde noch mehr an. Passanten sprangen beiseite, als die vier schweren Tiere mit dem Wagen in höllischem Tempo die Straße entlangrasten.

Der Kutscher der Vandenbergs registrierte nur ein schnelles Ohrenspitzen seiner Pferde und deren leichtes Zögern, dann stürmte das führerlose Gespann der Kaltblüter bereits um die Straßenecke. Seine Pferde scheuten, hatten aber keine Chance auszuweichen. Die vier massigen Körper der Lastpferde prallten mit voller Wucht in den Zweispänner. Innerhalb eines Wimpernschlags schoben sich Lastenwagen und Kutsche ineinander. Zitternde Pferdekörper, reißendes Leder und berstendes Holz. Der Wagen der Vandenbergs wurde auf die Seite geschleudert. Jemand schrie. Das Letzte, was Julie wahrnahm, war graues Straßenpflaster, das auf sie zuflog. Dann wurde es dunkel.

»Mama?«

Hatte sie geträumt? Angestrengt versuchte Julie, die Augen zu öffnen, doch ihre schweren Lider flatterten wie die Flügel eines Schmetterlings, und der erste kleine Lichtstrahl blendete sie. Hatte sie geschlafen?

»Schhhh ... bleib still liegen«, flüsterte eine Stimme in weiter Ferne.

»Mama?« Julie bekam endlich die Augen auf und blinzelte.

»Nein, ich bin es, Marit.«

Schemenhaft erkannte Julie das schmale Gesicht ihrer Kinderfrau. Diese beugte sich über sie und strich ihr behutsam eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn. »Bleib schön still liegen, Juliette, hörst du!«

»Was ist los?« Ihr war ganz komisch. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber ein jäher Schmerz im Bein ließ sie zusammenzucken.

Marit legte eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie sanft in die Kissen. »Juliette, du musst still liegen bleiben!« Der Ton ihrer Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Julie sank auf die Kissen, und noch bevor ihr Kopf den Bezug berührt hatte, war sie wieder in einen tiefen, traumlosen Zustand geglitten.

Als sie nach Stunden erneut erwachte, gelang es ihr nur mit Mühe, die schweren Lider ihrer Augen zu heben. Julie blickte sich völlig verwirrt um und sah, dass sie in ihrem Zimmer lag. Die schweren Vorhänge, die sonst eigentlich nur zur Dekoration seitlich der Fenster hingen, waren zugezogen, draußen schien es aber hell zu sein. Warum lag sie mitten am Tag im Bett? Als sie versuchte, sich aufzurichten, verspürte sie erneut einen stechenden Schmerz im Bein. War sie verletzt?

Was war passiert? Warum war sie so müde?

Ihr wurde schwindelig, und dann war es wieder dunkel.

Als Dr. Maarten wenig später Juliette Vandenbergs Zimmer betrat, erhob sich Marit leise von ihrem Stuhl. Sie knetete nervös das Taschentuch in ihrer Hand. Mit einem Blick auf Julie flüsterte sie: »Sie war vorhin zweimal kurz wach, jetzt schläft sie wieder.« Die Sorge um das Kind stand ihr im Gesicht geschrieben.

Dr. Maarten nickte, rückte seinen Zwicker auf der Nase zurecht und betrachtete das Mädchen nachdenklich. Das arme Kind, welche Tragödie! Er kannte die Vandenbergs schon lange, Juliette hatte er bereits als Baby in den Armen gehalten.

»Sie hat nach ihrer Mutter gefragt.« Marit wischte sich mit dem Taschentuch über die geröteten Augen. Ihr übermüdetes Gesicht zeigte eine ungesunde blasse Farbe, das graue Hauskleid war zerknittert.

Dr. Maarten legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Marit, ich weiß, dass Juliette das Schlimmste noch bevorsteht, aber sie muss es erfahren, sobald sie wieder bei Bewusstsein ist, wie wir besprochen haben.«

Marit schluchzte leise und nickte.

»Gehen Sie und ruhen Sie sich etwas aus, ich bleibe jetzt ein bisschen bei ihr.« Er setzte sich auf den Stuhl, auf dem Marit an Julies Seite gewacht hatte. Die Kinderfrau stand unschlüssig am Fußende des Bettes.

»Nun gehen Sie schon.«

Julie regte sich, und der Arzt beugte sich vor, um zu sehen, ob sie die Augen öffnete. Aber sie blieben verschlossen. Julies Bewusstlosigkeit schien endlich einem heilsamen Schlaf gewichen zu sein.

Als Julie am nächsten Tag erwachte, gelang es ihr endlich, einige klare Gedanken zu fassen.

»Was ist mit meinem Bein? Werde ich wieder laufen können?«, fragte das Mädchen mit einem Blick auf den dicken Verband besorgt.

»Der Knochen ist gebrochen. Dr. Maarten sagt, es wird gut verheilen.« Marit streichelte liebevoll die Wange ihres Schützlings und zog dann die Bettdecke über den Verband.

»Wie lange dauert das denn?«

»Du wirst noch einige Wochen liegen bleiben müssen, bis der Knochen zusammengewachsen ist«, sagte die Kinderfrau und setzte sich wieder auf den Stuhl neben Julies Bett.

»Wie ist das denn passiert? Und wo ist Mama?«

Julie bekam keine Antwort.

Wenig später trat Dr. Maarten ein. Er lächelte, als er hereinkam, aber seine Stirn lag in tiefen Falten.

»Na, Juliette, wie ich sehe, bist du wieder bei Kräften.« Er trat an ihre Seite und wandte sich an die Kinderfrau:

»Marit? Würden Sie uns bitte einen Moment allein lassen?«

Als Marit das Zimmer verlassen hatte, setzte sich der Arzt auf Julies Bettkante.

»Wie geht es denn heute?« Er faltete die Hände in seinem Schoß, und Julie sah, wie seine Fingerknöchel vor Anspannung weiß wurden.

»Ganz gut, Herr Doktor.«

»Was macht das Bein?«

»Tut nicht so weh.« Sie sprach tapfer und versuchte, den Doktor anzulächeln. Sein ernstes Gesicht aber ließ ihr Lächeln verlöschen.

Er nahm ihre Hand in seine Hände. »Juliette, ich muss dir etwas sagen.« Er schien nach den richtigen Worten zu suchen, dann fuhr er leise fort: »Du und deine Eltern, ihr hattet einen schrecklichen Unfall. Deine Eltern waren schwer verletzt«, der Arzt holte tief Luft, »und manchmal sind Verletzungen so schwer, dass sie nicht mehr heilen können.« Er machte eine Pause.

Plötzlich wurde Julie ganz kalt. Die Worte von Dr. Maarten hallten in ihrem Kopf nach: schrecklicher Unfall ... verletzt ... Ihre Eltern waren schwer verletzt! Aber wo waren sie, sie musste doch zu ihnen, sie ... Ängstlich hob sie den Blick, sah das ernste Gesicht des Arztes und seine dunklen Augen, deren trauriger Blick auf ihr ruhte. Die Erkenntnis traf sie mit voller Wucht, sie spürte, wie eine Woge tiefer Traurigkeit sie durchspülte, so stark und unendlich, dass sie ihr fast die Luft zum Atmen nahm. Dass sie nicht mehr heilen können, hatte er gesagt. »Heißt das, Mama und Papa sind ... tot?«, hörte sie sich fragen. Ihre Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Ebenso wie die von Dr. Maarten: »Ja, mein Kind.« Dann schwanden ihr die Sinne.

Die nächsten Tage verbrachte Julie in einem Dämmerzustand zwischen Wachen und Träumen. Immer wieder hoffte sie, die Tür ginge auf, und sie würde in das fröhliche Gesicht ihrer Mutter blicken. Aber das geschah nicht. Julie verfiel in eine stille Melancholie. Sie wusste nicht, wohin mit ihrem Schmerz, konnte nicht einmal weinen. Auch als sie ihr Krankenlager wieder verlassen durfte, besserte sich ihr seelischer Zustand kaum. Das einstmals so fröhlich lachende Kind war schweigsam und still geworden.

Marit versicherte ihr immer wieder, alles würde gut werden, aber die Abwesenheit ihrer Eltern war allgegenwärtig und fügte Julie fast physische Schmerzen zu. Auch die Hausangestellten, die kündigten und nicht mehr erschienen, und die Möbel, die nach und nach mit weißen Laken abgedeckt wurden, sprachen eine andere Sprache.

Zuversichtlich versuchte Julie sich einzureden, dass alles beim Alten bleiben würde. Aber in ihren Träumen geschahen schreckliche Dinge: Sie saß allein in dem großen Haus, alles war leer und dunkel, niemand war mehr da. Oder sie fand sich in einem Waisenhaus wieder. Mit ihrer Mutter hatte sie einmal eines besucht und den Kinder dort kleine Geschenke gebracht. Die Kinder haben keine Eltern mehr, die sich um sie kümmern, hatte ihre Mutter ihr erklärt. In ihren Träumen saß sie nun selbst zwischen diesen Kindern.

Marit gab sich redlich Mühe, den Alltag des Kindes so vertraut wie möglich zu gestalten. Sie verschwieg Julie jedoch, dass ihr Leben langfristig wohl nicht wie gewohnt verlaufen würde. Niemand mochte dieses Thema ansprechen – bis es eines Tages unumgänglich wurde. Zuvor hatte Marit noch versucht, die Feierlichkeiten anlässlich Julies zehntem Geburtstag im September so schön wie möglich zu arrangieren. Einige Mädchen – Kinder aus dem ehemals großen Freundeskreis der Eltern – waren der Einladung gefolgt und hatten versucht, Julie das Leben für einige wenige kostbare Stunden fast normal erscheinen zu lassen. Dann aber musste auch Marit den Tatsachen ins Auge blicken und dem Drängen des Familienanwaltes der Vandenbergs nachgeben. Entscheidungen mussten getroffen werden.

Da das Erbe der Vandenbergs nicht allein von dem kleinen zehnjährigen Mädchen angetreten werden konnte, oblag es nun ihrem nächsten Verwandten, sich dessen Verwaltung anzunehmen. Und nach Julies Genesung kündigte sich dieser Verwandte schneller an, als allen lieb war.

Eines Morgens im Oktober herrschte plötzlich rege Betriebsamkeit im Hause Vandenberg. Aus der Küche drang das erste Mal seit dem Geburtstag der Duft eines selbst gebackenen Kuchens.

»Was ist los? Bekommen wir Besuch?«

Julie erwischte ihre Kinderfrau in einem der Gästezimmer, wo diese gerade die Fenster zum Lüften geöffnet hatte. Marits Antwort fiel unbefriedigend knapp aus. »Ja.«

Sie schob Julie beiseite, um die Betten aufzuschlagen. Das war eigentlich Aufgabe der Hausmädchen, aber die hatten in den letzten Wochen alle das Haus verlassen und sich neue Anstellungen gesucht. Nur Marit und die alte Köchin waren geblieben.

Julie sah Marits Treiben einen Moment lang verwundert zu. Warum hatte man ihr bis jetzt nichts von einem Gast gesagt, und warum hielt Marit den Namen des Besuchers vor ihr geheim? Seit ihre Eltern ... seit dem Unfall und der Beerdigung war eigentlich gar kein Besuch mehr ins Haus der Vandenbergs gekommen. Wer hätte ihn auch empfangen sollen?

»Juliette, geh auf dein Zimmer. Ich komme gleich und helfe dir beim Ankleiden.« Marit schob das Mädchen zur Tür, und Julie trottete nachdenklich davon.

Kurz darauf half Marit – immer noch wortkarg – Julie in ein hübsches Kleid und steckte ihr die geflochtenen Haare zum Kranz auf. Die Kleine ließ die Prozedur widerstandslos über sich ergehen und zupfte verlegen an ihrem Kleid herum. Es war nicht ganz bodenlang, und unter ihren Strümpfen sah man, dass ihr linkes Bein noch merklich dünner als das rechte war. Der Doktor hatte gesagt, es würde sich mit der Zeit geben. Bisher war ihr das egal gewesen, aber nun, so fein herausgeputzt, fiel es ihr auf, und sie genierte sich etwas. Marit reagierte nicht auf ihren verlegenen Blick und band ihr noch eine Schleife in das goldblonde Haar. »So, und jetzt komm«, sagte sie entschieden und schob Julie zur Tür hinaus.

Unten im Haus waren die Räume sauber und ordentlich aufgeräumt, jemand hatte die Laken von den Möbeln entfernt, und im Salon war bereits die Kaffeetafel gedeckt. Julie war aufgeregt.

Dann hörte sie eine Kutsche vorfahren. Leise drang das Klimpern der Pferdegeschirre bis in den Flur, und sie hörte den Kies der Einfahrt knirschen, als der Wagen zum Stehen kam. Marit ging zur Tür, um zu öffnen, während Julie unschlüssig in der Eingangshalle stand. Sie fühlte sich unglaublich einsam, wie gern hätte sie ihre Eltern jetzt um sich gehabt.

Ihre Anspannung lockerte sich etwas, als sie sah, dass Herr Lammers das Haus betrat. Er hatte als Anwalt und Notar für Julies Vater gearbeitet und die Familie regelmäßig besucht. Nachdem Marit ihn ehrerbietig begrüßt hatte, trat er auf Julie zu. »Mejuffrouw Vandenberg, es freut mich, Sie wieder wohlauf zu sehen.« Julie knickste höflich und bedankte sich, ganz wie sie es gelernt hatte. Trotzdem blieb sie skeptisch. Herr Lammers machte einen verunsicherten Eindruck, geradezu wie ein ängstliches Eichhörnchen, und der Funke seiner fahrigen Nervosität sprang gleich auf Julie über.

Vor dem Haus fuhr deutlich hörbar eine weitere Kutsche vor. Julie blickte fragend zu Marit. Wer kam jetzt noch? Und was wollte Herr Lammers hier?

Doch bevor sich jemand erklärend hätte äußern können, betrat ein weiterer Gast das Haus. Als Julie dem Mann ins Gesicht sah, weiteten sich ihre Kinderaugen für einen kurzen, hoffnungsvollen Moment. Sie schnappte nach Luft, doch dann bemerkte sie den Trugschluss. Die Ähnlichkeit dieses Mannes mit ihrem Vater war frappierend. Aber natürlich war er es nicht.

»Juliette, dies ist dein Onkel Wilhelm Vandenberg.« Marit schob das Kind sanft auf den Mann zu.

»Juliette, es freut mich, dich wiederzusehen«, sagte der Mann übertrieben freundlich. Es schwang aber weder echte Freude noch Herzlichkeit in seiner Stimme mit.

Julie knickste brav und griff dann haltsuchend nach Marits Hand. Sie konnte sich an keinen Onkel erinnern. Sie war sich fast sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. Zumindest nicht leibhaftig. Hatten ihre Eltern von ihm gesprochen? Sie meinte sich daran zu erinnern, dass ihr Vater ihn einmal erwähnt hatte. Oder bildete sie sich das nur ein? Nachdenklich folgte sie Marit, die die Gesellschaft zu Tisch geleitete, wo sie Julies kleine Hand schließlich sanft aus der ihren löste und ihr einen Stuhl zurechtrückte. Jetzt erst bemerkte Julie, dass Marits Gesicht wie versteinert wirkte.

»Danke, Mädchen.« Das Nicken des Onkels war ein klares Zeichen für die Kinderfrau, den Raum zu verlassen. Julie blickte ihr Hilfe suchend nach. Musste sie jetzt etwa mit diesen Erwachsenen allein am Tisch sitzen? Julie bekam Angst: Was, wenn sie etwas falsch machte?

Die Männer aber beachteten sie zunächst nicht. Herr Lammers schob das Kaffeegeschirr beiseite und öffnete seine lederne Tasche. Er entnahm ihr einen Stapel Papiere, die er sorgfältig vor sich auf dem Tisch ausbreitete. Wilhelm Vandenberg blickte sich kurz pikiert nach Personal um und schenkte sich den Kaffee dann schließlich selbst ein. Den Kuchen, dessen Geruch Julie am Morgen noch das Wasser im Munde hatte zusammenlaufen lassen, ignorierten die Männer. Auch Julie war der Appetit vergangen. Sie zuckte auf ihrem Stuhl zusammen, als Herr Lammers sich an sie wandte.

»Da Sie, Mejuffrouw Vandenberg, sich nun wieder einer guten Gesundheit erfreuen«, Herr Lammers zögerte kurz, seine Hände sortierten fahrig die Papiere, »müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie es mit Ihnen weitergehen soll. Ihr Onkel«, er nickte Wilhelm Vandenberg kurz zu, »ist aus Amsterdam gekommen, um Entscheidungen für Sie zu treffen. Er ist als Ihr nächster Verwandter nun auch Ihr Vormund.«

Julie blickte von einem zum anderen. Sie verstand nicht. Vormund?

Was der Begriff »Vormund« bedeutete, erfuhr Julie dann schneller, als ihr lieb war. Bereits wenige Tage später befand sie sich auf dem Weg in ein Internat.

Sie saß neben ihrem Onkel in der Kutsche und starrte aus dem Fenster. Sie fuhr nicht mehr gerne Kutsche, und dies war im Übrigen auch keine Vergnügungsreise.

Die Eindrücke des Abschieds lasteten schwer auf ihr. Sie dachte an Marit, die vor dem Haus gestanden und mit verkniffener Miene versucht hatte, ihre Traurigkeit zu verbergen – und ihr am Ende noch ein paar aufmunternde Worte zugeflüstert hatte. Julie konnte sich eine Zeit ohne Marit gar nicht vorstellen. Marit war immer für sie da gewesen. Und Julie hatte sich glücklich geschätzt, eine so liebevolle Kinderfrau zu haben. Sie kannte die Kinderfrauen anderer Familien, das waren manchmal ziemliche Drachen. Marit hingegen schimpfte nie laut, nicht einmal damals, als Julie sich das neue Kleidchen zerrissen hatte. Sie erzählte ihr vor dem Einschlafen Geschichten und flocht ihr immer schöne Zöpfe, was selbst ihre Mutter nie geschafft hatte. Wer würde Julie jetzt beim Anziehen helfen? Wer würde ihr die Haare machen? Sie konnte das alles doch nicht allein! Und was würde jetzt aus Marit werden?

Der Abschied war viel zu schnell gegangen. Onkel Wilhelm hatte sie ungeduldig zum Aufbruch gedrängt und sie schließlich unsanft in die Kutsche geschoben. Ihr war gerade noch ein letzter Blick auf ihr Elternhaus geblieben. Alles hatte so still und friedlich dagelegen. Sollte sie es jemals wiedersehen?

Nun fuhren sie schon seit Stunden in nördliche Richtung, vorbei an abgeernteten Feldern und kahlen Bäumen. Windige Böen trieben dunkle Wolken am Himmel vor sich her. Sie kamen durch kleine Dörfer, die bereits für den hereinbrechenden Winter gerüstet wurden, und fuhren durch Wälder, in denen das trockene Laub auf den Straßen im Wind tanzte. Julie fröstelte und zog den dicken Mantel enger um ihren Körper. Sie vergrub die Nase hinter dem hohen Kragen. Der Stoff roch nach ihrem Zuhause, nach Bohnerwachs und Mottenkugeln, und Julie meinte, auch einen Hauch des Parfüms ihrer Mutter wahrzunehmen. Als sie nach dem Unfall hatte aufstehen dürfen, war sie heimlich durch das Haus geschlichen auf der Suche nach etwas, was ihr ihre Eltern wieder näherbrachte. An einem Kissen, einem Taschentuch, sogar am Aschenbecher im Salon, wo Papa abends immer seine Zigarre geraucht hatte, hatte sie geschnüffelt. Aber die kurzfristigen, wohligen Gedanken und Gefühle waren rasch einem stechenden Schmerz und einer großen Leere gewichen. Die Erinnerungen waren untrennbar mit ihrem Elternhaus verbunden – und dieses entfernte sich gerade Meile für Meile, Huftritt für Huftritt weiter von ihr. Sie schienen immer mehr zu verblassen und an Klarheit zu verlieren.

Julie fühlte sich nicht wohl in der Gesellschaft von Onkel Wilhelm. Seit seiner Ankunft hatte er ihr nur ein paar knappe Anweisungen zu den Reisevorbereitungen gegeben und sich ansonsten nicht weiter um Julie gekümmert. Weitaus mehr hatte er sich für das Inventar ihres Elternhauses interessiert und jedes Möbelstück gründlich beäugt, während Herr Lammers unablässig in langen Listen geblättert hatte und dienstbeflissen neben ihm hergegangen war. Marit hatte Julie an jenem schicksalsträchtigen Tag schließlich energisch aus dem Raum geführt mit dem Hinweis, die Herren hätten noch wichtige Dinge zu besprechen. Alle weiteren wichtigen Entscheidungen blieben so vor Julie verborgen.

Die lebensfrohe Art ihres Vaters schien ihrem Onkel nicht zu Eigen zu sein, er zeigte sich Julie gegenüber kalt und distanziert. Die große Angst seiner Nichte vor der Zukunft schien ihn nicht zu berühren. Nun blickte Julie einige Male in seine Richtung, doch er hielt den Blick aus dem Fenster gerichtet. Kurz überlegte sie, ihm die eine oder andere Frage zu stellen, die schwer auf ihrem Herzen lastete. Aber es gehörte sich nicht, ungefragt mit Erwachsenen zu reden. So wandte auch sie den Blick wieder aus dem Fenster.

Julie wusste nicht, wo ihre zukünftige Schule lag. Umso verwunderter war sie, als sie die ersten Abzweigungen in Richtung Amsterdam passierten, diesen aber nicht folgten.

Sie richtete einen fragenden Blick auf ihren Onkel. Und dieses Mal bekam sie in der Tat eine Antwort: »Das Mädcheninternat Admiraal van Kinsbergen liegt in Elburg«, kommentierte er kurz.

Julie zuckte zusammen. Elburg? Sie hatte keine Ahnung, wo das war, aber Stunde um Stunde zerfloss ihre Hoffnung, zukünftig in unmittelbarer Nähe ihrer Verwandten leben zu können. Traurig sackte sie in den Polstern der Kutsche zusammen. Obwohl sie diese Menschen kaum kannte und ihr Onkel so ganz anders zu sein schien als ihr Vater, hatte sie sich in ihrer Lage eine gewisse Zuwendung von ihnen erhofft – diese Hoffnung wurde nun jäh zerschlagen.

Als der Abend kam, war die Reise immer noch nicht vorbei. Julie verbrachte eine einsame schlaflose Nacht in einem kleinen, kalten Herbergszimmer. Die Gastwirtin, an deren Rockzipfel mehrere rotznasige Kinder hingen, verspürte das Leid des Mädchens und brachte ihm abends fürsorglich eine warme Milch und zwei Kekse ans Bett. Julie jedoch rührte nichts davon an. Sie bekam keinen Bissen herunter.

Am nächsten Morgen setzten sie ihre Reise fort. Erst am späten Nachmittag lenkte der Kutscher das Gespann über eine Brücke und das Stadttor der kleinen Stadt Elburg, gut eine Tagesreise von Amsterdam entfernt. Julie war hungrig und erschöpft und unterdrückte die aufsteigenden Tränen, sie wollte vor ihrem Onkel nicht weinen. Die Gassen wurden schmaler, und im schwindenden Tageslicht sah Julie zahlreiche dicht gedrängte Häuser. Es schien, als hätte der Erbauer versucht, möglichst viele Gebäude auf engstem Raum anzuordnen. Die unter anderen Umständen vielleicht gemütliche Enge wirkte auf Julie bedrückend und verstärkte ihre Stimmung noch, in die sich nun zusätzlich Nervosität mischte. Die Kutsche bog noch einige Male ab, bis sie endlich vor einem trutzigen Gebäude zum Stehen kam.

Während Julie zögerlich hinter ihrem Onkel aus dem Wagen kletterte, öffnete sich das große Portal des Hauses, und eine hochgewachsene hagere Dame schritt ihnen entgegen. Julies Magen krampfte sich zusammen.

»Mijnheer Vandenberg, es freut mich sehr. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise«, sagte die Dame und knickste höflich, bevor sie einen Blick auf Julie warf, die verlegen neben ihrem Onkel stand.

»Du musst Juliette sein!« Die Stimme der Frau ließ jeglichen Anflug von Wärme vermissen. Überhaupt machte sie einen sehr strengen und resoluten Eindruck. »Mein Name ist Anna Büchner, ich bin die Direktorin hier.« Ihr Blick glitt kurz und abschätzend über Julie, die schüchtern vor der Frau knickste, bevor diese sich wieder an ihren Onkel wandte: »Kommen Sie doch bitte herein, dann besprechen wir kurz alles Weitere.«

»Juliette«, sie klatschte einmal kurz in die Hände, worauf sofort ein Mädchen in Dienstkleidung aus der Tür trat, »Merle wird dich auf dein Zimmer führen, ich komme dann später und hole dich.«

Julie folgte dem Dienstmädchen in das Haus und weiter durch spärlich beleuchtete und scheinbar endlose Korridore. Schließlich hielt das Mädchen vor einer Tür und öffnete sie. Nach einem braven Knicks vor Julie sagte Merle: »Mejuffrouw Vandenberg, Ihr Zimmer.« Das Mädchen ließ Julie eintreten und huschte hinter ihr ebenfalls ins Zimmer. Sie entzündete eine kleine Öllampe auf dem Tisch und schlich dann aus der Tür und über den Korridor davon. Julie blickte sich neugierig um. Im Vergleich zu den Maßen des gesamten Hauses war das Zimmer winzig. Auf jeder Längsseite standen ein Bett und ein Schrank, ein Tisch mit zwei Stühlen war in der Mitte des Raumes und ein Waschtisch in der Ecke hinter der Tür platziert. Ein kleiner Hoffnungsschimmer regte sich in Julie: zwei Betten! Noch schien keines der Betten belegt zu sein, aber vielleicht würde sie nicht allein hier wohnen!

Julie trat an das schmale Fenster heran. Sie blickte auf einen Innenhof, wo gepflegte Kieswege zwischen kleinen Beeten verliefen. Wie ein Klostergarten, dachte sie spontan. Sie setzte sich auf die Bettkante, unschlüssig, was sie jetzt tun sollte. Ihr blieb nichts als zu warten. Sie fror, aber es gab keinen Ofen im Zimmer, und sie war müde, aber die Laken des Bettes waren klamm, und sie widerstand dem Bedürfnis, sich trotzdem einfach ins Bett zu legen und sich die Decke über den Kopf zu ziehen. Nachdenklich starrte Julie auf die abgenutzten Dielen des Fußbodens. Durch dieses Zimmer waren offensichtlich bereits unzählige kleine Füße getrappelt. Ob die anderen Mädchen am Anfang auch so einsam gewesen waren wie sie jetzt? Alles hier erschien ihr trostlos. Es gelang ihr nur mit Mühe, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Sie musste stark sein, das hatte Marit ihr immer wieder gesagt. Und auch ihre Mutter hätte es so gewollt.

Als nach einer scheinbaren Ewigkeit immer noch niemand gekommen war, um sie zu holen, schlich Julie sich auf den Korridor und trat an eines der Fenster. Von dort konnte sie die Straße vor der Schule sehen. Das Gespann des Onkels stand im Dämmerlicht vor dem Portal. Dampfschwaden stiegen von den warmen Pferdeleibern auf und vermischten sich mit dem aufsteigenden Nebel der Nacht. Dann trat Wilhelm Vandenberg aus der Tür. Er stieg in die Kutsche und fuhr davon, ohne sich noch einmal umzusehen.