Kapitel 2

Erika war positiv überrascht. Ihre Unterbringung in einem der Häuser der Brüdergemeine in Paramaribo war wesentlich bequemer als die auf dem Schiff. Sie und Reinhard bekamen eine kleine Wohnung zugewiesen. Ein Schlafraum, ein Wohnraum, das war bei Weitem mehr, als sie erhofft hatte. Insgeheim hatte sie sich schon ausgemalt, in einer Lehmhütte zu leben, schließlich wusste sie nicht viel über den Standard der Kolonie, zudem hatten die Umstände der Überfahrt ihre Fantasie zu wildesten Vermutungen angeregt. Hier in diesen Räumen konnten sie es sich aber mit ihrer wenigen Habe hübsch einrichten.

Äußerst ungewohnt war für sie der Umgang mit Sklaven. Entgegen ihren Vermutungen beherbergten auch die Herrnhuter eine stattliche Anzahl von Haus- und Arbeitssklaven.

»Alles arme Seelen, die sonst niemand haben wollte«, rechtfertigte der Vorsteher der kleinen Gemeine dieses Gebaren. Erika dünkte aber, dass es den Brüdern nicht unrecht war, sich bedienen zu lassen.

Zunächst hatte Erika abgelehnt, als man ihr die Sklavin Dodo zugeteilt hatte. Dodo war von undefinierbarem Alter, hatte krumme Zähne wie ein Pferd und ein blindes Auge. Dann aber musste Erika Dodos Hilfe doch in Anspruch nehmen. Da es nur eine einzige Küche gab, die zudem von den Sklaven beschickt wurde, und Erika viele der vorhandenen Vorräte nicht kannte und sich auch deren Zubereitung vor ihr verschloss, blieb ihr nichts anderes übrig, als Dodo diese Aufgabe zu übertragen. Die alte Sklavin war sichtlich erfreut, endlich arbeiten zu dürfen. Erika war unwohl bei dem Gedanken der Sklavenschaft, wusste sich aber zunächst nicht anders zu helfen.

Dodos Kochkünste überzeugten sie allerdings schnell, die Aufgabe der Essenszubereitung an eine Einheimische zu übertragen. Erika hatte aus ein paar gekochten Bananen nur einen faden Brei zustande gebracht, da sie nicht wusste, wie sie die anderen Lebensmittel zubereiten sollte. Dodo hingegen überraschte ihre neue Herrin mit schmackhaften Suppen, gebratenem Fisch und allerlei Süßkram.

Außerdem verfügte Dodo über eine außerordentlich scharfe Beobachtungsgabe. »Misi muss schließlich gut essen, Misi isst ja für zwei«, bemerkte sie nach einigen Tagen, als sie die Schüsseln auf den Tisch stellte, an dem Erika und Reinhard Platz genommen hatten.

Reinhard sah die Sklavin zuerst fragend an, dann weiteten sich seine Augen, und er strahlte Erika an. »Ist das wahr?« Erika wurde rot, es war ihr unangenehm, dass sie ihrem Mann noch nichts von der Schwangerschaft berichtet hatte. Die ersten Tage in Surinam waren aber auch sehr aufregend gewesen. Reinhard sprang freudig auf, stieß dabei fast den Stuhl um und zog Erika in seine Arme. »Ich freue mich ja so! Wann ist es denn so weit? Wie aufregend, Erika – ich werde Vater!« Er ließ Erika gar nicht zu Wort kommen.

»Reinhard, du erdrückst mich ja.« Resolut schob sie ihn ein Stück von sich weg. Als sie aber in sein strahlendes Gesicht sah, kam sie nicht umhin, sich von seiner Freude anstecken zu lassen. »Bis Oktober wirst du schon noch warten müssen.«

Erika und Josefa wurde die Krankenstation der Gemeine zugeteilt. Erika hatte bisher wenig Erfahrung in diesem Bereich, ihre Ausbildung hatte sich bis jetzt eher auf die Theorie beschränkt. Josefa hingegen kannte sich mit Patienten gut aus, sie hatte bereits als Krankenschwester gearbeitet. Allerdings stellten die Krankheiten und die Umstände der Erkrankten sie in diesem Land vor neue Herausforderungen. Die Patienten waren ausschließlich Sklaven und Mischlinge. Die weißen Kolonisten vertrauten jeweils ihrem eigenen Arzt, der allerdings keine Farbigen behandelte. Für die Schwarzen und Mulatten gab es zwar auch einen Arzt, der sich seine Dienste aber bezahlen ließ und nur einmal in der Woche eine Stunde Zeit für die Armen hatte. Zumal es die Kolonisten vermutlich nicht gerne sahen, wenn ihre Sklaven zu dem vermeintlichen »Negerarzt« gingen.

Die Herrnhuter waren mit ihrer kleinen Krankenstation somit die einzige durchgängig geöffnete Anlaufstelle in dieser Stadt. Die Situation wurde nicht gerade dadurch verbessert, dass einige der Sklaven zunächst lieber zu dubiosen Heilern gingen und erst im unumgänglichen Notfall zu den Herrnhutern kamen.

Josefa ließ schnell von ihrer Scheu und Angst gegenüber diesen Menschen ab, schimpfte aber unablässig vor sich hin. Souverän verarztete sie Wunden, aus denen in der Regel größere Mengen Fliegenlarven und Eiter entfernt werden mussten, pulte den Sklavenkindern unablässig die Eier der allgegenwärtigen Sandflöhe aus den vereiterten Fußsohlen, nicht ohne dabei zu lamentieren, dass dies auch die Mütter erledigen könnten, und lehrte nebenbei Erika, die wesentlichen Verrichtungen allein auszuführen.

Schnell hatte sich herumgesprochen, dass nun wieder zwei Schwestern die Versorgung der Krankenstation übernommen hatten. Ihre Vorgänger schienen sehr froh, der Aufgabe entledigt zu sein, sie waren wohl in vielerlei Hinsicht überfordert gewesen. Die ewig murrende Josefa hatte so manchen Kampf mit den Brüdern auszustehen.

»Bruder Weinert, wie haben Sie bisher solche Wunden behandelt?«

Mit kritischem Blick betrachtete sie die Verletzung eines etwa zehnjährigen Sklavenjungen, der sich mit einem Beil in den Fuß geschlagen hatte. Die Wunde war bereits einige Tage alt und schien ein gewisses Eigenleben entwickelt zu haben. Der Junge wimmerte und weinte, als Josefa den dreckigen Verband abnahm.

Bruder Weinert wich einen Schritt zurück und wandte angeekelt den Blick ab. »Na, Alkohol drübergekippt und den Rest dem Bürschchen einflößen, am besten«, murrte er, während sich eine der Hilfssklavinnen der Krankenstation bereits mit einem entsprechenden Krug bereitstellte.

»Dann ist es ja kein Wunder, dass das so aussieht. Damit ist jetzt Schluss! Erika, ich brauche frisches Wasser und einen sauberen Lappen.«

»Wenn Sie jeden so behandeln wollen, werden Sie viel Zeit brauchen«, merkte Bruder Weinert trotzig an, sichtlich überrascht, dass Schwester Josefa gewillt war, sich intensiver um die Verletzten zu kümmern.

»Das ist ja wohl das Mindeste, was Gott von uns verlangt. Zumal der enorme Alkoholverbrauch der Mission vermutlich auch nicht zuträglich wäre«, erwiderte Josefa schroff. Normalerweise ließ sie auf die Mitglieder der Gemeine nichts kommen, aber hier war offensichtlich lange Zeit nicht richtig gearbeitet worden, und das würde sie nicht dulden. Energisch sorgte sie dafür, dass die Krankenstation in einen ordentlichen Zustand versetzt wurde, dass das vorhandene Material sorgsam gereinigt und verwahrt wurde und auch eine Bestellung mit einigen wichtigen Neuanschaffungen ihren Weg auf ein Schiff nach Europa fand. Sosehr Josefa auf der Überfahrt gelitten hatte, hier entwickelte sie eine erstaunliche Energie.

Auch in dieser Hinsicht murrten die alteingesessenen Brüder.

»Wenn ihr dann hier steht, und ich euch nicht behandeln kann, seid ihr selbst schuld«, erwiderte Josefa störrisch.

»Eigentlich suchen wir in solchen Fällen den Kolonialarzt auf«, beschied ihr Bruder Weinert mit gesenktem Blick.

Josefa gab ein resolutes Schnauben von sich. »Ah, bei den Sklaven vertraut ihr auf das eigene Können, aber nicht bei euresgleichen? Das Geld wird jetzt gespart, Gott wird uns schon helfen, mit Krankheiten umzugehen.«

Erika war klar, dass keiner der Brüder sich freiwillig von Josefa behandeln lassen würde. Aber Josefa hatte von diesem Zeitpunkt an in ihrer Krankenstation freie Hand.