Kapitel 3

Das Streitgespräch beim Abendessen zwischen Martina und Karl wurde jäh unterbrochen, als Aiku per Handzeichen die Ankunft eines Besuchers vermeldete. Julies Herz machte einen kleinen Sprung. Sie vermied es aber tunlichst, sich in der aufgeladenen Stimmung etwas anmerken zu lassen. Herr Riard? Wie viele Wochen hatte sie jetzt warten müssen, ihn wiederzusehen?

Welch willkommene Abwechslung in diesem immerwährenden Streit um die Hochzeitsvorbereitungen. Martina hatte sich gerade wieder inbrünstig über Julie beschwert; ihr gingen die Hochzeitsplanungen nicht schnell genug voran, und sie wollte unbedingt wieder ihre Tante in die Organisation mit einbeziehen, was Karl jedoch aufs Strengste untersagte. Julie war sich keiner Schuld bewusst, schließlich war Martina diejenige, die jegliche Kommunikation abblockte. Die Nörgelei ihrer Stieftochter perlte mittlerweile an ihr ab wie ein Sommerregen. Martina war ein verwöhntes, kindisches Biest. Gerade hatte sich auch Pieter wieder getraut, Partei für seine Zukünftige zu ergreifen, was Karl zusätzlich in Rage brachte. Julie verfolgte die Diskussionen inzwischen etwas gelangweilt. Warum sich ihr Mann aber so vehement gegen die Familie seiner verstorbenen Frau wehrte, war ihr nach wie vor ein Rätsel.

Überhaupt, die Familie seiner Exfrau. Wo auch immer Julie versucht hatte, mehr über sie herauszufinden, traf sie auf eine Mauer des Schweigens. Selbst Amru zuckte jedes Mal merklich zusammen, sobald Julie die verstorbene Hausherrin zur Sprache brachte.

Vielleicht würde sie von Martinas Tante etwas dazu erfahren. Allerdings wusste Julie nicht, ob diese überhaupt mit ihr reden würde. Wenn Felices Familie genauso reagierte wie Karl ...

Als jetzt aus dem Flur Stimmen erklangen, richtete sie ihre Aufmerksamkeit gespannt auf die Tür. Zu ihrer tiefen Enttäuschung aber erhob sich Karl sofort vom Tisch und fing den Buchhalter gleich an der Tür ab, um ihn in sein Arbeitszimmer zu begleiten. Julie sah nicht mehr als Riards hochgewachsene Gestalt, die die Tür passierte. Gleichzeitig schalt sie sich ihrer innerlichen Aufgeregtheit.

Am nächsten Morgen nahm sie ihren Platz auf der Veranda ein, in der Hoffnung, der Buchhalter würde seine Arbeit an der frischen Luft verrichten wollen. Sie wurde nicht enttäuscht. Bald tauchte er, mit einem Stapel Papiere in den Händen, in der Tür auf. Als Riard Julie sah, zögerte er kurz, nahm dann aber ebenfalls am Tisch Platz.

»Guten Morgen, Mevrouw«, sagte er leise.

»Guten Morgen, Mijnheer«, entgegnete Julie etwas schüchtern. Himmel! Julie schalt sich ihrer Zurückhaltung, so zögerlich hatte sie das lang ersehnte Zusammentreffen nicht gestalten wollen. Sie wollte mit ihm sprechen, ihn viele Dinge fragen und am liebsten ... wollte sie, dass er wieder ihre Hand berührte. Aber stattdessen machte sich nun verlegenes Schweigen breit. Julie versuchte, sich auf ihre Handarbeit zu konzentrieren und das Kribbeln in ihrem Bauch abzustellen. Sie wollte auf keinen Fall, dass er merkte, wie nervös sie war. Der junge Mann steckte seine Nase in die Geschäftsbücher.

Julie suchte fieberhaft nach einem geeigneten Gesprächseinstieg, ihr wollte aber nichts Gescheites einfallen. Mitten in ihre Überlegungen erschien Kiri in der Sklaventür. Julie las sofort aus ihrem Gesicht, dass etwas nicht in Ordnung war. »Kiri, ist irgendetwas?«

Auch Riard hatte seinen Blick von den Papieren gehoben.

»Misi Juliette ... ich suche Amru, wissen Sie, wo ...?«

Julie stand auf und legte ihre Handarbeit beiseite. »Ich glaube, Amru ist oben bei Martina. Was ist denn los, Kiri, du schaust so verschreckt? Ist etwas passiert?« Normalerweise behelligten die anderen Sklaven Amru nicht mit Nichtigkeiten. Kiri musste also durchaus ein wichtiges Anliegen haben. Das Mädchen jedoch schüttelte den Kopf und wandte sich zum Gehen. »Moment«, rief Julie und wäre Kiri fast durch die Sklaventür gefolgt, besann sich dann aber doch und schlüpfte schnell durch den richtigen Eingang, um ihre Leibsklavin im Flur hinter dem Esszimmer wieder abzufangen. Sie packte das Mädchen bei den Schultern und schaute ihm eindringlich in die Augen. »Nun sag schon, was los ist.«

Kiri wandte den Blick gen Boden und druckste herum. »Na ja, ich soll Amru holen. Im Dorf ... das eine Mädchen.«

Schlagartig hatte Kiri Julies ganze Aufmerksamkeit. »Was ist mit dem Mädchen? Welches Mädchen meinst du?«

»Amru soll es sich mal ansehen, sie ...«

Julie drehte sich um und lief zur Treppe. Ohne sich lange mit Benimmregeln aufzuhalten, rief sie in das oberste Stockwerk hinauf: »Amru?« Alsgleich erschien die Sklavin am oberen Treppengeländer mit einigen frischen Laken auf dem Arm. Es war ungewöhnlich, dass im Haus so laut gerufen wurde, und sie blickte Julie am Fuße der Treppe verwundert an. »Kiri sagt, du musst sofort ins Sklavendorf, irgendetwas ist mit einem Mädchen passiert!«

Sofort kam Bewegung in Amru. Sie legte die Laken beiseite und hastete hinter Julie her, die durch den Hinterausgang bereits auf dem Weg hinaus war.

Im Sklavendorf deutete Kiri auf eine Hütte. Amru zögerte kurz. »Misi Juliette, Sie warten besser, bitte.« Sie verschwand in der Hütte und ließ Julie ratlos neben ihrer Leibsklavin zurück.

»Was ist denn passiert? Ist das Mädchen krank?«, fragte Julie besorgt. Kiri jedoch gab keine Antwort.

Stattdessen tauchte Amrus Kopf im Eingang der Hütte auf. »Kiri, hol frisches Wasser und saubere Tücher.« Das Mädchen eilte los.

Julie spürte die Spannung, die in der Luft lag. Irgendetwas stimmte nicht, und wenn jemand Hilfe brauchte und sie schon einmal hier war, wollte sie ihre Kraft auch einbringen. Entschlossen folgte sie Amru in das Innere der Hütte. Das Licht war dämmerig, in der Luft lag ein merkwürdiger Geruch von Metall. Julie konnte in einer Hängematte eine Person ausmachen, über die Amru und eine weitere Frau sich gerade beugten. Julie trat näher.

Die Sklavenfrau sah Julie verschreckt an, um den Blick sogleich wieder zu senken. »Misi.«

Amru sah ebenfalls auf und verzog ärgerlich das Gesicht. »Misi sollte das besser nicht sehen«, sagte sie bestimmt.

»Was ist denn?« Julie schob sich neugierig neben die Haussklavin und taumelte sofort erschrocken einen Schritt zurück. In der Matte lag ein junges Mädchen. Julie konnte nicht erkennen, um welches Kind es sich handelte, auch wenn sie sich seit einiger Zeit wirklich bemühte, sich die vielen Namen zu merken. Der Zustand des Mädchens war erbärmlich. Das Gesicht wirkte aufgequollen, die Augen waren zugeschwollen, die Lippen aufgeplatzt und blutig. Trotz der dunklen Hautfarbe waren bis zu den Schultern dunkelblaue Hämatome zu erkennen, ab dort bedeckte ein Tuch den Körper.

»O Gott, was ist passiert?«, stammelte Julie und schlug sich die Hand vor den Mund, als sie sah, dass das Tuch nicht nur im oberen Bereich blutbefleckt war.

Kiri kam in die Hütte und reichte Amru eine Kalebasse mit Wasser und einige saubere Tücher.

Amru drehte sich zu Julie um. »Misi Juliette geht jetzt besser!«

Julie nickte stumm, konnte aber den Blick nicht von dem Mädchen wenden. Starr vor Schreck fixierte sie die Halskette des Mädchens: Sie war grün. Julie wurde auf einen Schlag speiübel, und sie stürzte an Kiri vorbei aus der Hütte. Draußen schnappte sie nach Luft. Als sie ihre Sinne wieder beisammenhatte, wandelte sich ihr Schreck in blanke Wut. Pieter!

So schnell ihre Beine sie trugen, lief Julie in Richtung Haus. Vor der hinteren Veranda kam ihr Jean Riard entgegen.

»Was ist denn passiert?« Seine Miene drückte ehrliche Sorge aus.

Julie wollte an ihm vorbeistürmen, doch er hielt sie am Arm. Sie stockte kurz, dann brach sie in Tränen aus.

Er schob sie behutsam etwas abseits in den Schatten der Bäume. Julie warf sich ungeniert an Riards Brust und schluchzte bitterlich.

»Dieses Schwein ... er ... er ...«

»Alles gut ...«, er nahm sie vorsichtig in den Arm. So standen sie eine kurze Weile schweigend im Schatten der Bäume.

Julie fasste sich schnell wieder, nahm dankend sein dargereichtes Taschentuch und tupfte sich die Tränen aus den Augen. »Danke. Es ist nur ... Ich ...« Sie schien sich innerlich zu schütteln.

»Was ist denn nun passiert?« Die Sorge war Jean Riards Stimme deutlich anzuhören.

Julie zögerte. Unmöglich konnte sie ihm sagen, was passiert war. Zu ... zu ungeheuerlich war das, was sie gerade gewahr geworden war. Sie schluckte und sagte so tapfer wie möglich: »Nichts ... schon gut, ich war nur ...«

Er fragte nicht weiter, schenkte ihr aber ein verständnisvolles Lächeln.

Julie bemühte sich, zumindest nach außen hin, die Fassung zu bewahren. Als sie aber später am Tag den Tisch mit Pieter teilen musste, wühlten Ekel, Abscheu und Wut sie erneut auf. Sie versuchte, ihre Gedanken zu sammeln, und so stand ihr Entschluss schnell fest: Sie musste etwas unternehmen. Es war vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis ihm das nächste Mädchen zum Opfer fiel. Kurz überlegte sie, mit Karl darüber zu reden, verwarf den Gedanken dann aber. Karl stand seinen Sklaven nach wie vor nicht sonderlich wohlgesinnt gegenüber, außerdem hatte er bisher nichts gegen die Vergewaltigung seiner Sklavinnen durch Pieters Sklaven unternommen. Wenn jetzt allerdings publik würde, dass sein zukünftiger Schwiegersohn ... Das würde vermutlich einen Eklat heraufbeschwören. Julie kannte Karls Jähzorn nur zu gut – sie hatte Angst, dass die Geschichte auch auf sie zurückfallen könnte.

In den nächsten Tagen stattete Julie den Sklaven im Dorf häufig Besuche ab. Die letzten Wochen war sie von den unliebsamen Hochzeitsvorbereitungen so eingenommen worden, dass sie wenig Zeit und Muße für die Dorfbewohner gefunden hatte. Mit Argusaugen beobachtete sie die jungen Mädchen. Bis auf das verletzte Kind, das sich langsam erholte, schienen aber alle unversehrt. Ihr Versuch, Amru zu den Geschehnissen zur Rede zu stellen, scheiterte kläglich. Die Haussklavin zuckte mit verbittertem Gesicht nur die Achseln und beschied Julie knapp, das sei Sache der Sklaven. Der Vater des Mädchens habe sein Kind wohl gezüchtigt.

»Ein Vater würde sein Kind wohl kaum ...«, brauste Julie auf, hielt aber inne, als sie den Gesichtsausdruck der Sklavin sah. Aus Amru würde sie nichts herausbekommen. Auch Kiri war keine große Hilfe. Sie schien ehrlich nicht zu wissen, was vorgefallen war.

Der Einzige, der anscheinend nicht die Augen davor verschloss, dass auf der Plantage vieles im Argen lag, war der Buchhalter Jean Riard. Besorgt fragte er wiederholt bei Julie nach. Die aber mochte ihm nicht erzählen, was sie belastete. So saßen sie sich oft schweigend auf der Veranda gegenüber. Julie, die gedankenversunken Nico beobachtete, und Riard, der in seinen Papieren las. Der junge Mann schien das Schweigen brechen zu wollen und sprach schließlich ein anderes Thema an.

»Wie geht es denn mit Mejuffrouw Leevkens Hochzeitsplanungen voran, es sind ja nur noch wenige Wochen bis zum großen Tag.«

Julie ließ ihre Stickerei auf den Schoß sinken. »Sie lässt mich nichts machen«, stieß es aus ihr hervor. »Ich würde ihr ja gern dabei helfen, dieses Ereignis schön zu feiern, aber im Grunde befehligt Karl, was passieren und wie es werden soll, Martina schmollt, und ich stehe zwischen den Fronten.« Julie seufzte. Im gleichen Moment fühlte sie sich erleichtert, so deutlich hatte sie die Problematik noch nie jemandem dargelegt. Wem auch?

Riard schien die Aufgewühltheit seiner Gesprächspartnerin zu spüren. Er runzelte die Stirn, legte den Stift beiseite und schaute nachdenklich in die Ferne. Dann lachte er kurz leise auf. »Mejuffrouw Leevken besteht darauf, dass ihre Tante die Schirmherrschaft übernimmt«, sagte er schließlich. Die kurzen scharfen Wortwechsel zu den Mahlzeiten waren ihm nicht entgangen. »Das ist in der Tat ein Problem, denn so wie ich Mijnheer Leevken kenne, wird er sich da kaum erweichen lassen. Ich glaube, die Zerwürfnisse zwischen den Familien ...«

Julie zuckte nur mit den Achseln. Das war ihr auch schon aufgefallen. »Was ist denn bloß vorgefallen, dass sie sich so überworfen haben?«

Riard beugte sich verschwörerisch zu ihr herüber. »Das sollte ich Ihnen wirklich nicht erzählen«, er seufzte leise, »aber da es anscheinend niemand sonst tut ... Ich finde, Sie haben ein Recht darauf zu erfahren, was damals passiert ist. Also: Um den Tod von Mevrouw Leevken ranken sich viele Gerüchte. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will niemanden beschuldigen und Ihnen auch keine Angst machen, aber man munkelte damals, dass Mijnheer Leevken daran nicht ganz unbeteiligt war. Das sahen wohl auch die Eltern von Mevrouw Leevken so, und es gab sehr viel Streit. Letztendlich hat das den alten Mijnheer Fiamond ins Grab gebracht. Seine Frau führte dann noch einen erbitterten Feldzug gegen Mijnheer Leevken, um die damals gegebene Mitgift wieder zurückzubekommen. Und um das Kind, Mejuffrouw Leevken, hat man sich auch gestritten. Die Fiamonds wollten Martina damals zu sich nehmen, sie bekamen aber nur ein Besuchsrecht zugesprochen. Daher fährt Mejuffrouw Leevken auch heute noch in die Stadt zu ihrer Tante. Die Großmutter lebt noch, ist aber stets leidend.«

»Oh!« Julie hatte nichts von der Dramatik der Ereignisse nach Felices Tod gewusst. »Also ... habe ich gar keine Chance, etwas zu bewirken«, sagte sie niedergeschlagen.

»Aber Mevrouw Leevken, natürlich bestünde diese Möglichkeit! Ich meine, Ihre Beziehung zu Mejuffrouw Leevken ist zwar nicht die beste, aber ...« Julie gab ein verächtliches Lachen von sich. »... aber Sie könnten doch, nun ja, ich weiß ja nicht, ob sie das annehmen würde ...«

»Nun sagen Sie schon.« Julie war in der Tat über jede Idee dankbar, die die Situation auflockern konnte.

»Na, sehen Sie doch einfach zu, dass Mejuffrouw Leevken ihren Willen bekommt. Fahren Sie mit ihr zu ihrer Tante in die Stadt und beziehen Sie sie in die Planungen ein. Mijnheer Leevken muss ja nicht ... er muss es ja nicht so direkt mitbekommen. Sie hätten damit eine große Last weniger, und Mejuffrouw Leevken würde sich vielleicht etwas umgänglicher zeigen.« Und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: »Mevrouw, Valerie Fiamond ist eigentlich eine ganz nette Frau, Sie brauchen keine Angst vor ihr zu haben. Sie sind immerhin die Letzte, die sich Vorwürfe machen muss. Sie haben mit der ganzen Geschichte schließlich nichts zu tun.«

Julie grübelte einige Tage über Riards Vorschlag nach. Im Grunde war die Idee nicht schlecht. Martina würde ihren Willen bekommen, sie ersehnte sich nichts mehr als eine standesgemäße Hochzeit und hing ja offensichtlich sehr am Wort ihrer Tante. Die Gefahr, dass sie den Plan an Karl verraten würde, schätzte Julie inzwischen als gering ein.

Julie vermutete, dass es Martina im Laufe der Jahre bei den Besuchen in der Stadt bei der Familie ihrer Mutter besser ergangen war als auf der Plantage, wo ein junger Mensch stupider Langeweile ausgesetzt war. Auch wenn Martina materiell sicher nie etwas hatte entbehren müssen. Aber Karl war vermutlich kein sich sorgsam kümmernder Vater gewesen. Martinas Bindung an ihre Tante war also durch vielerlei zu erklären, Julie konnte sie in gewisser Weise sogar verstehen. Vage erinnerte sie sich an ihre erste Zeit im Internat, ohne Familie und ohne wirkliche Freundinnen. Manchmal hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht als eine heile Familie, eine Mutter, Schwester oder Base, an die sie sich vertrauensvoll hätte wenden können.

Vielleicht würde sich der Kontakt zu Martina sogar verbessern. Martina hatte nie Zweifel aufkommen lassen, dass sie ihre Stiefmutter nicht mochte. Aber immerhin, sie war ihre Stieftochter. Vielleicht war es Zeit, jetzt etwas daran zu ändern. Die Hochzeit würde Ende März stattfinden. Karl hatte einfach den alten Termin wieder anberaumt, er hatte ja auch keinen Überblick über den Aufwand dahinter. Julie wäre es lieber gewesen, wenn die Feier erst nach der großen Regenzeit stattgefunden hätte, aber im August würde Martinas Baby schon da sein, und eine Geburt vor der Hochzeit war undenkbar. Also blieb nicht viel anderes übrig, als die Hochzeit jetzt noch abzuhalten. Die Zeit drängte. Theoretisch war zwar alles organisiert, aber die praktische Umsetzung war noch nicht weit gediehen.

Und es gab noch weitere Argumente, die Julie für den Plan begeisterten: Pieter würde es sich nicht entgehen lassen, mit in die Stadt zu reisen und sich somit von den Mädchen fernhalten. Sie würde selbst endlich auch mal wieder von der Plantage wegkommen und in der Stadt ... Und wenn sie schon mal da war, vielleicht konnte sie da Jean Riard treffen.

In Julie reifte der Entschluss, seine Idee in die Tat umzusetzen. Noch wusste sie zwar nicht, wie der Vorschlag bei Martina und vor allem bei Pieter ankommen würde, aber sie hoffte, dass sie ihn durchsetzen konnte.

Als wenig später Riards Abreise bevorstand, begleitete sie ihn zum Ufer, wo das Boot wartete.

»Mijnheer Riard, werden Sie ... ich meine ... in der Stadt?« Julie war unsicher, wie sie ihr Anliegen formulieren sollte.

Er aber schien verstanden zu haben und lächelte sie munter an, wobei seine blauen Augen vor Freude kleine Funken versprühten. »Natürlich werde ich Sie besuchen, wenn Sie in der Stadt sind, es ist doch schade, dass Sie bisher kaum mehr als die Plantage kennengelernt haben.«

Julie wurde von einer herrlichen Wärme durchströmt, und in ihrem Bauch schienen tausend Schmetterlinge zu flattern.

»Ich freue mich darauf. Machen Sie es gut.«

»Martina, können wir reden?«

Julie traf ihre Stieftochter allein im Damensalon, wo Martina für ihren zukünftigen Nachwuchs bereits einiges an Leibchen gehäkelt hatte. Noch sah man nichts von der Schwangerschaft, und da die Hochzeit schon in einigen Wochen vollzogen werden sollte, würde Martina nicht in die prekäre Lage geraten, ihren Bauch großartig verstecken zu müssen. Dies war Karls größte Sorge, denn eine Hochzeit aus eindeutigem Grund schien ihm eine hochnotpeinliche Angelegenheit zu sein.

Martina sah auf und funkelte Julie sofort wieder mit ihrem katzenhaft lauernden Blick an. »Na, welche tolle Idee hatte Vater jetzt wieder für die Hochzeit?«

Martina und Julie hatten in den letzten Wochen nur kommuniziert, wenn es die Situation verlangte. Und das war meistens dann, wenn Karl etwas bestimmte und Julie die leidliche Aufgabe hatte, es ihrer Stieftochter mitzuteilen. Was meistens im Streit endete, obwohl Julie an Karls Anweisungen im Grunde keine Schuld trug. Hätte Karl Martina direkt angesprochen, wäre seine Tochter wohl weniger aggressiv gewesen, er schien sich aber einen gewissen Spaß daraus zu machen, Julie mit der zänkischen Martina zu konfrontieren.

»Nein, Martina. Ich möchte dir einen Vorschlag machen.« Julie setzte sich ihr gegenüber. Sofort versteifte sich Martina auf ihrem Sessel. Julie tat, als hätte sie es nicht gesehen. Sie hoffte, Martina jetzt klarmachen zu können, dass sie ihr im Grunde nichts Böses wollte, und fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Martina, ich weiß, dass du eigentlich generell gegen alles bist, was ich zu deiner Hochzeit beitrage. Das bringt aber weder uns noch die Hochzeit weiter, und ich will doch auch, dass es ein schönes Fest wird. Du willst unbedingt deine Tante in die Planungen mit einbeziehen. Dein Vater duldet das jedoch nicht, wofür ich übrigens nicht unbedingt Verständnis habe.« Julie holte tief Luft: »Da einige Dinge jetzt ja auch in der Stadt erledigt werden müssen, könnten wir es so machen, dass wir beide für einige Zeit nach Paramaribo reisen, um uns dort offiziell um die Hochzeitsangelegenheiten zu kümmern. Von mir aus kannst du das Ganze dann gerne mit deiner Tante organisieren. Nur offiziell, und vor allem deinem Vater gegenüber, sollten wir so tun, als ließen wir sie außen vor ... verstehst du? Ich möchte keinen Ärger mit Karl, und ich denke, auch du hast keine Lust, dich ständig mit deinem Vater zu streiten.«

Mutig nahm Julie Martinas Hand in die ihre und drückte sie freundschaftlich. »So hätten wir es doch beide einfacher, oder?«

Martina schien aufbrausen zu wollen, dann sah man ihrem Gesicht aber an, dass die Verlockung dieses Vorschlages deutlich überwog. »In die Stadt? Zu Tante Valerie? Und du würdest Vater nichts verraten?« In ihrem Blick lag Misstrauen.

Julie schüttelte nachdrücklich den Kopf und blickte Martina fest in die Augen. »Das bliebe unter uns, Martina«, versprach sie.

Plötzlich erhellte ein Strahlen Martinas Gesicht, wie es Julie in all den Monaten noch nicht gesehen hatte. »Wirklich? Wann fahren wir?«

Karl hingegen war weniger leicht davon zu überzeugen, dass die Hochzeitsvorbereitungen eine Reise in die Stadt nötig machten. Obwohl er weniger mit Martinas Plänen zu hadern schien als mit Julies Wunsch, sie in die Stadt zu begleiten.

»Könnt ihr das nicht von hier aus regeln?«, brummte er missmutig. Julie grollte innerlich. Hatte Karl sie etwa in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft in der Stadt herumgereicht und in den folgenden Monaten zu sämtlichen Nachbarn geschleppt, um sie dann nachfolgend auf immer und ewig auf der Plantage gefangen zu halten? Warum stellte er sich so an, wenn es darum ging, dass sie auch mal in die Stadt wollte? Hier auf der Plantage brachte sie ihm schließlich nichts. In der Stadt konnte sie wenigstens das repräsentative Püppchen spielen, das er sich doch offensichtlich gewünscht hatte.

Martinas Argumente überzeugten ihren Vater dann doch. Vielleicht wäre es wirklich nicht schlecht, wenn sie sich mit ihrer Stiefmutter in der Stadt sehen ließ. Der Rat, sich der Gesellschaft der Kolonie wieder etwas mehr zuzuwenden, weshalb er sich die junge Frau überhaupt ins Land geholt hatte, hallte leise in seinem Kopf nach. Und die Zeiten wurden nicht besser. Die Hochzeit sah er als notwendiges Übel, aber auch als passende Gelegenheit, sich jetzt wieder vermehrt geschäftlichen Kontakten zu widmen. Dieser Buchhalter hatte erneut keine Zweifel offengelassen: Die Plantage lief erneut nicht gut. Es war Zeit, jetzt an die Reserve zu gehen – und die bestand aus Juliettes Mitgift und Erbe.