Kapitel 1

Julie rannte mit dem Brief in der Hand durch die Gänge des Internats. Eine Treppe hoch, um eine Ecke, einen weiteren Korridor entlang. Sie kannte das Gebäude inzwischen in- und auswendig. Seit über acht Jahren war sie nun hier. Aber erst seit dem Amtsantritt von Frau Koning vor drei Jahren und dem fast zeitgleichen Einzug von Sofia in ihr Zimmer fühlte sie sich einigermaßen wohl. Das Internat war ihr ein Zuhause geworden, aber keine Heimat.

Frau Koning hatte die Führung des Internats übernommen, nachdem ihre Vorgängerin, die Julie damals empfangen hatte, nach endlosen Querelen gezwungen worden war, das Amt aufzugeben. Frau Büchners Abberufung war für Julie ein Segen gewesen. Der neuen Direktorin brachte sie Bewunderung und Ehrfurcht entgegen. Was hatte sich durch Frau Koning alles geändert – nicht zuletzt für sie persönlich!

Das Mädcheninternat Admiraal van Kinsbergen war vor vielen Jahren in den Gemäuern eines ehemaligen Klosters als Pendant zu einer ebenfalls in Elburg ansässigen Jungenschule gegründet worden, die einen ausgesprochen guten Ruf besaß. Allen Erwartungen zum Trotz konnte das Mädcheninternat jedoch nie an den Erfolg der Jungenschule heranreichen. Als die Schülerzahlen stagnierten, berief man die erfahrene Pädagogin Büchner zur Direktorin. Die Rettung der Schule ließ sich tatsächlich zunächst gut an. Was aber den dann folgenden Sinneswandel der Dame hervorrief, war allen ein Rätsel. Direktorin Büchner verfiel nach kurzer Zeit, noch vor Julies Ankunft, in einen religiösen Eifer, der dem Ansehen der Schule mehr schadete denn nützte. Die Familien meldeten ihre Töchter nach und nach von der Schule ab, bis nur noch die Mädchen dort wohnten, die keine andere Bleibe hatten. Julie hatte sich mehr als einmal gefragt, ob ihr Onkel wohl um den Ruf der Schule wusste. Sie hatte freilich nie gewagt, ihn selbst um eine Antwort zu bitten. Er hatte sie damals lediglich hier abgegeben und sich nicht weiter um sie gekümmert. Er sorgte dafür, dass ihr Schulgeld pünktlich gezahlt wurde, und einmal im Jahr musste Julie ihn für drei Wochen besuchen, mehr aber auch nicht. Die Familie ihres Onkels blieb ihr fremd. Die kurzen Aufenthalte brachten keine Vertrautheit.

Julie hätte sich im Übrigen nie angemaßt, die Zustände in der Schule zu bemängeln. So durchlitt sie fast fünf Jahre lang die zahlreichen und immer gleichen Gottesdienste in der eiskalten Klosterkapelle, die einen Großteil ihres Alltags bestimmten, und besuchte geduldig die ihr unendlich erscheinenden Gebetsstunden.

Als dann kurz vor dem endgültigen Aus der Schule die Zügel an Alida Koning übergeben wurden, änderten sich zahlreiche schulische und alltägliche Abläufe im Internat. Die neue Direktorin führte einen modernen Lehrplan ein und erlaubte ihren Schützlingen regelmäßigen Ausgang. Ganz zu schweigen von den neuen Öfen, die sie installieren ließ ... Ihr Handeln trug schon bald Früchte, schnell kamen wieder neue Schülerinnen hinzu. Unter ihnen auch Sofia. Julie hatte die Veränderungen, die sich um sie herum vollzogen, damals im Stillen bestaunt. Es war ihr vorgekommen, als hätte jemand erst lange die Zeit angehalten, um dann die Uhren schneller laufen zu lassen. Innerhalb weniger Wochen hatten sich die dunklen, zugigen Korridore in helle, warme und belebte Flure verwandelt. Fasziniert lauschte sie den Mädchenstimmen, hörte sogar leises Lachen, sah bunte Kleider. Trotzdem war Julie zunächst zu schüchtern gewesen, sich der neuen Stimmung hinzugeben.

Alida Koning verfügte über ein unfehlbares Gespür für Menschen, und Juliette Vandenberg hatte ihr von Anfang an Sorge bereitet. Das junge Mädchen wirkte stets in sich gekehrt und schien jegliche Lebensfreude verloren zu haben. Was an und für sich nicht verwunderlich war bei der Vorgeschichte und dem mittelalterlichen Gebaren, das in dieser Schule geherrscht hatte. Es war eine weise Entscheidung gewesen, die muntere Sofia als Zimmergenossin zu Juliette zu stecken. Sofia war es mit ihrer herzlichen Art gelungen, das Mädchen aus seiner Schüchternheit zu schälen. Juliette hatte sich langsam geöffnet.

In ihren ersten Jahren in Elburg war Julie mit ihren jugendlichen Sorgen und Nöten allein gewesen. Sie wäre eher vor Scham im Boden versunken, als sich jemandem anzuvertrauen. Zumal ihr die ehemaligen Mitschülerinnen immer sehr gottgefällig vorkamen, an ihnen schienen insbesondere die körperlichen Veränderungen vorbeizugehen. Sie selbst hingegen hatte lange beschämt versucht, ihren fraulich werdenden Körper zu verstecken. Die Wandlung vom Kind zur Frau hatte ihr Angst bereitet. Und mit wem hätte sie solche Ängste besprechen sollen? Weder ihre Mitschülerinnen noch Frau Büchner wären ihr eine Hilfe gewesen, im Internat war zu jener Zeit zudem jegliche Zerstreuung um Themen wie Mode oder gar junge Männer strengstens untersagt. Als die neuen Schülerinnen eintrafen, öffnete sich vor Julie plötzlich die Welt junger Damen – für sie eine völlig neue Erfahrung, verlockend und beängstigend zugleich. Zögerlich fand Julie Anschluss. Erst Sofia vermittelte ihr die Erfahrung, dass junge Mädchen durchaus froh waren, wenn ihr Busen wuchs. Und auch die allmonatliche »Schande« war plötzlich ganz normal und nicht mehr Anlass für tagelange Gebete. Julie erinnerte sich noch gut an den Tag, als Sofia sie beiseitegenommen und beschämend offen über gewisse Dinge des Lebens gesprochen hatte. Julie war krebsrot geworden, aber Sofia hatte ihr beschieden: Alles ganz normal.

Julie hatte zum ersten Mal Freundschaften geschlossen und in der Direktorin eine erwachsene Vertrauensperson gefunden, die ihr die Mutter zwar nicht ersetzen konnte, aber immerhin Leitfigur auf dem Weg ins Erwachsenenleben sein konnte, an dessen Schwelle sie jetzt stand. Ihr wurde immer häufiger bewusst, dass sie sich um ihre Zukunft Gedanken machen musste. Die anderen Mädchen überlegten bereits seit einer ganzen Weile, was sie nach ihrer Schulzeit tun würden. Julie hatte keine Ahnung, wo ihr Weg hinführen sollte. Lehrerin werden, das konnte sie sich vorstellen. Ihr Onkel hatte sich dazu noch in keiner Weise geäußert. Sollte sie das etwa selbst entscheiden? Wohl kaum. Von einer Hochzeit träumen wie die anderen jungen Mädchen, daran dachte Julie nicht einmal. Wo sollte sie schon einen passenden jungen Mann finden? Meistens schob sie die Gedanken schnell beiseite, doch ganz verdrängen ließen sie sich nie.

Jetzt polterte Julie atemlos durch die Tür zu ihrem Zimmer. Sofia schrak hoch. »Juliette? Was ist denn passiert?«

Julie streckte ihr wortlos den Brief entgegen. Ihre blonden Locken hatten sich aus dem streng gebundenen Knoten gelöst und fielen nun wirr auf ihre geröteten Wangen. Mit einer fahrigen Geste strich sie sich die Strähnen hinter die Ohren. »Lies! Sie wollen nicht, dass ich mit zu dir komme. Ich muss zu ihnen!«

Während Sofia mit fragendem Blick das Papier entgegennahm, setzte Julie sich auf die Kante ihres Bettes und versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. »Nun lies schon!«, drängelte sie ungeduldig.

Sofia setzte sich in ihrem Bett auf und faltete das Blatt Papier auseinander. Julie bemerkte, wie sich in Sofias Gesicht erst Überraschung und dann Ärger ausbreitete. »Juliette ... aber ...? Du solltest doch ...? Wir hatten uns doch schon so gefreut!« Entsetzt blickte Sofia ihre Freundin an.

Julie zuckte nur ergeben mit den Schultern. »Ich war genauso überrascht, als Frau Koning mir eben dieses Schreiben überreichte. Ich hätte nicht gedacht, dass sie es ablehnen. Ich will da nicht hin!«, seufzte sie. »Du weißt, ich hasse diese jährlichen Zwangsbesuche. Wenn ich doch nur mit zu dir kommen könnte!« Traurig schaute Julie ihre Freundin an. Sie hatten es sich so schön ausgemalt: Julie sollte das erste Mal auch in den Winterferien mit zu Sofia. Eine Vorstellung, die ihr wesentlich besser gefiel als ein Aufenthalt bei ihrem Onkel. Schriftlich hatten sie um Erlaubnis gebeten. Die entsprechende Antwort aber fiel jetzt unerfreulich aus.

»Ach komm, so schlimm wird’s wohl nicht werden. Letztes Jahr war es doch auch ... nett.« Sofia versuchte, die Situation zu retten. Sie wusste, was der Aufenthalt bei ihr zu Hause für Julie bedeutete. Aber wenn der Onkel sich sperrte, würde daraus nichts werden.

Als nach Alida Konings Amtsantritt die ersten Sommerferien vor der Tür gestanden hatten und alle Mädchen, bis auf Julie, betriebsam ihre Sachen packten, hatte sich die Direktorin auch hier etwas einfallen lassen.

»Juliette? Fährst du nicht zu deinem Onkel im Sommer?«

Julie hatte betrübt mit dem Kopf geschüttelt. »Nein, ich darf dort nur im Winter hin, im Sommer fährt die Familie in die Sommerfrische. Und ich ... sie möchten nicht ...«

Der Direktorin hatte das Mädchen leidgetan. Sollte Juliette die schönste Zeit des Jahres in diesen dunklen Mauern verbringen?

»Du könntest doch vielleicht mit zu Sofia. Ich werde die de Weeks fragen«, hatte sie spontan vorgeschlagen. Und Julie mit dieser Idee zum ersten Mal seit langem in den Genuss von familiärer Geborgenheit gebracht.

Sofias Familie war sofort begeistert gewesen. Wohl auch, weil Sofia selbst unter ihren drei älteren Brüdern immer etwas einsam war. Herzlich hatten die de Weeks Julie aufgenommen. Diese hatte sich zwar erst etwas unwohl gefühlt, sie wollte sich niemandem aufdrängen, aber die Scheu war schnell von ihr abgefallen, und sie hatte den Aufenthalt bei Sofia in vollen Zügen genossen. Seitdem hatte Julie jede Ferien, bis auf die jeweiligen drei Wochen im Winter, bei Sofia und deren Familie auf dem seit vielen Generationen in Familienbesitz befindlichen Landgut Hallerscoge verbracht. Es war ein wunderschönes altes Herrenhaus inmitten geheimnisvoller Wälder, umgeben von Kreeken, auf denen Enten dahinpaddelten, und Weiden voller prachtvoller Pferde. Dieses Haus war erfüllt von Leben und Liebe. Sofia hatte eine große Familie, und immer herrschte reges Treiben. Sie machten gemeinsam Ausflüge zum Picknick, häufig kam Besuch, und den Höhepunkt des Sommers bildete stets die große Jagdgesellschaft. Für Julie waren die Wochen auf Hallerscoge wie ein Traum. Dort hatte sie ein eigenes Zimmer, durfte hübsche Kleider tragen und wurde voll in das Familienleben einbezogen. Sofias Mutter hatte nie einen Unterschied zwischen Julie und ihren eigenen Kindern gemacht. So manchen Abend vor dem Einschlafen hatte Julie Alida Koning im Stillen für ihren Einsatz gedankt.

Jetzt war der Traum vom winterlichen Aufenthalt bei Sofia geplatzt.

Wie immer, wenn es Sorgen oder Probleme zu beraten gab, zog es Sofia und Julie aus der Enge des Internats hinaus in die Natur. Julie hatte während ihrer ersten fünf Jahre nichts von der Schönheit des Städtchens Elburg mitbekommen, sie hatte einzig den Ausblick aus den Fenstern und den Weg zur Kirche gekannt. Umso mehr hatte sie während der vergangenen drei Jahre die Freiheit genossen.

Es war Anfang Dezember, und die Luft war merklich abgekühlt. Die Mädchen hatten sich warm angezogen, ihr Atem bildete kleine weiße Wolken, und ihre Füße stoben raschelnd durch das gefallene Laub der alten Eichen. Nachdenklich gingen sie nebeneinander auf dem breiten Weg zwischen der alten Stadtmauer und der tiefen Gracht, die Elburg gänzlich umgab.

Vom Internat aus war dieser Weg außerhalb der Stadtmauer in wenigen Gehminuten erreichbar, und viele Bewohner Elburgs kamen hierher, um zu flanieren und durchzuatmen, was auf den kleinen, dicht befahrenen Gassen innerhalb der Stadt kaum möglich war. Im Sommer trafen sich Familien hier zum Picknick, und Kinder spielten auf den Rasenflächen. Junge Galane ruderten ihre Auserwählten in kleinen Booten über das Wasser, und manchmal zogen sich die frisch Verliebten in aller Heimlichkeit in den Schatten der großen Bäume zurück. Den jungen Mädchen aus dem Internat waren derartige Beobachtungen immer eine beliebte Zerstreuung. Aber jetzt im Winter und bei frostigem Wetter fanden sich nur wenige Menschen ein.

Julie seufzte. »Ich weiß nicht, warum mein Onkel unbedingt möchte, dass ich wieder zu ihm komme.« Es war ihr in der Tat ein Rätsel, warum ihr Onkel jedes Jahr aufs Neue darauf bestand, dass sie den Jahreswechsel in seinem Haus verbrachte. Julie kam weder mit ihm noch mit seiner Frau oder seinen Töchtern gut aus. »Vielleicht plagt ihn ja sein schlechtes Gewissen, weil er mich hierhin abgeschoben hat«, grollte sie.

Sofia legte einen Arm um ihre Freundin. Sie selbst hatte sich sehr auf die Ferien mit Julie gefreut und konnte deren Enttäuschung gut nachempfinden. »Ach, Juliette ... ich glaube, sie meinen es nur gut.« Sie spürte selbst, wie leer ihre Worte klangen. Als sie den alten Wehrturm erreichten, dessen Grundmauern ihnen als Aussichtspunkt dienten, setzten sie sich auf eine Bank. Einige Enten versuchten, über das dünne Eis ans Wasser zu gelangen, und zwei große Schwäne saßen ruhend unter den tief hängenden, vom Frost weißgepuderten Ästen einer Weide am Ufer.

»Es sind doch nur drei Wochen«, setzte Sofia erneut an.

»Es sind seit acht Jahren immer nur drei Wochen, aber die reichen mir wirklich«, widersprach Julie heftig. Dann kam ihr eine Idee: »Vielleicht ... wenn ich krank wäre, könnte ich doch zumindest hierbleiben?«

»Meine Güte, Juliette, du bist jetzt achtzehn Jahre alt, stell dich doch nicht an wie ein Kleinkind! Zum Jahreswechsel gibt dein Onkel doch immer eine große Gesellschaft, hm? Da hast du wenigstens ein bisschen was, worauf du dich freuen kannst. Schöne Kleider, Tanz, Musik, interessante Leute ... und zu Ostern kommst du ja wieder mit zu uns.« Sofia ließ sich ihre eigene Traurigkeit über die geplatzten Pläne nicht anmerken. Für Julie war es schwer genug.

Julie grollte immer noch, aber Sofia hatte recht, die alljährliche Feier im Hause des Onkels war bisher immer ein kleiner Höhepunkt gewesen und entschädigte zumindest ein wenig für die restliche Zeit. Nicht zuletzt, weil der Rest der Familie Tage vorher und hinterher von Julie abgelenkt war. Nicht dass sie sich sonst sonderlich um sie gekümmert hätten, aber das lästige, unehrliche Gerede über das »arme Kind« verstummte dann zumindest zeitweise. Da aus der Familie des Onkels niemand außer ihrem Cousin Wim so recht Zugang zu Julie fand oder sich gar darum bemühte, beschränkte man sich darauf, Julie immer und immer wieder zu bedauern, weil sie ihre Eltern und ihr Heim verloren hatte und überhaupt ... Dieses geheuchelte Mitleid spendete ihr keinen Trost – kaum war sie wieder im Internat, vergaß diese Familie sie erneut für ein Jahr.

»Amsterdam ist doch eine wundervolle Stadt! Dort gibt es tolle Einkaufsstraßen, und du wirst wieder viele neue Leute kennenlernen. Das ist doch aufregend!« Sofia machte einen erneuten Ansatz, die Freundin aufzumuntern, aber allmählich gingen ihr die Argumente aus. Julie machte indes immer noch ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. »Und dein Cousin ist doch auch noch da ... dieser Wim.«

Ja, Wim. Ein kleiner Lichtblick, das musste Julie sich eingestehen. Ihr Cousin Wim, Wilhelms Sohn, war der Einzige aus dieser Familie, den sie mochte. Als Julie damals, nach über einem Jahr im Internat, das erste Mal nach Amsterdam gerufen worden war, war er noch ein kleiner, ziemlich frecher Bengel gewesen, aber jetzt war er zu einem jungen Mann gereift. Als Kind hatte sie sich gesträubt, sich dem zwei Jahre jüngeren Wim anzuschließen, auch wenn sie dankbar beobachtet hatte, dass der Junge seinen großen Schwestern und seiner Mutter offensichtlich ebenso wenig abgewinnen konnte wie sie selbst. Mit ihm hatte sie sich eigentlich immer gut verstanden, außerdem brachte er etwas Abwechslung in den ansonsten langweiligen Alltag im Hause ihres Onkels.

Unwillkürlich musste sie lächeln. Im Geiste sah sie jetzt seinen blonden Schopf und seine verschmitzten Augen vor sich, als er ihr damals, sie mochte zwölf Jahre alt gewesen sein, vorgeschlagen hatte, ein Stück vom frisch gebackenen Kuchen aus der Küche zu stibitzen. Julie hatte sich geziert, sie wollte nicht unangenehm auffallen im Haus ihres Onkels und schon gar nicht durch einen Diebstahl. Dann war sie der süßen Verlockung und Wims Drängen aber doch erlegen – es war ein prickelndes, aufregendes Gefühl gewesen. Und erwischt worden waren sie auch nicht – wie von Wim vorausgesagt.

Die Zeit bis zu den Ferien verrann viel zu schnell.

»Juliette? Nun komm, ich glaube, die Kutschen sind schon da.«

Sofia stand abreisefertig in der Tür.

Julie lag lesend auf ihrem Bett, bereits in Reisegarderobe, aber keineswegs sonderlich zur Eile gewillt. Müßig klappte sie unter Sofias drängendem Blick das Buch zu und legte es auf das kleine Nachttischchen. Seufzend stand sie von ihrem Bett auf, strich zuerst die Decke glatt und dann ihr schlichtes braunes Kleid, um sich anschließend prüfend im Spiegel zu betrachten.

Bei ihrer Ankunft in Elburg hatte ihr ein kleines Mädchen aus diesem Spiegel entgegengeblickt, jetzt betrachtete Julie die Silhouette einer jungen Frau. Julie war zwar nicht so hochgewachsen wie Sofia, zeigte dafür aber an den richtigen Stellen etwas mehr weiche Kurven als ihre schlaksige Zimmergenossin.

Die anderen Mädchen befanden Julie immer für hübsch, mit ihrem goldblonden Haar, ihren fein geschnittenen Gesichtszügen und der kleinen, etwas zu spitzen Nase. »Du siehst aus wie eine echte Aristokratin«, witzelte Sofia gerne.

»Ja, ja, und eines Tages kommt ein Prinz auf seinem Pferd und rettet mich«, sagte Julie dann stets, während sich eine steile Falte zwischen ihren eisblauen Augen bildete, wie immer, wenn sie ungehalten war. Auch jetzt zeigte sich dieser unverkennbare Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie seufzend das Hütchen auf ihrem Haar zurechtrückte.

Sofia hatte in den vergangenen Tagen immer und immer wieder versucht, Julie die Vorzüge von Amsterdam schmackhaft zu machen. Allerdings nur mit geringem Erfolg. Der Schatten von Julies Onkel schwebte über Amsterdam, und das machte Julie eher Angst, als dass sie sich auf diese Reise freuen konnte. Er war ein Fremder, er war in Julies Leben gepoltert und hatte sie damals aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen. Manchmal war sie furchtbar wütend auf ihn. Und er war wohl mehr an ihrem Erbe als an ihr interessiert, da war Julie sich inzwischen ziemlich sicher. Sie machte sich nicht viel aus Geld und hatte damals nicht verstehen können, wie es sich mit dem Erbe ihrer Eltern verhielt. Sie schien aber versorgt, Frau Koning hatte ihr gegenüber angedeutet, sie brauche sich in finanzieller Hinsicht keine Sorgen zu machen. Aber jedes Mal, wenn sie nach Amsterdam musste, war sie auf der Hut. Sie fürchtete, ihr Onkel könnte ihr wieder etwas wegnehmen oder sie gar irgendwohin schicken, wo sie nicht hinwollte. Die Erinnerungen an den lieblosen Abschied vor acht Jahren und der Schmerz saßen noch tief. Ihre Eltern, die hatte ihr das Schicksal genommen. Ihrer Heimat aber, ihrem Elternhaus, allen ihr Vertrauten hatte er sie entrissen. In Julies Herz hatte sich eine unauslöschbare Kälte gegenüber diesem Mann gebildet. Er mochte sie nicht, und er wollte sie nicht. Das hatte sich im Laufe der Jahre nie geändert.

Sofia, die jetzt bemerkte, dass Julie in Grübelei verfiel, legte tröstend, aber mit resolutem Nachdruck den Arm um Julies Schultern. »Nun komm. Wir schauen mal, ob die Wagen schon da sind.« Sofia schob ihre Freundin zur Tür.

Als Sofia durch das Fenster im Korridor die Kutsche ihrer Eltern erspähte, rannte sie mit gerafftem Rock, so schnell wie es sich gerade noch geziemte, davon. Julie freute sich kurz für ihre Freundin. Sofias Eltern waren wirklich herzensgute Menschen.

Als Julie kurz darauf vor das große Portal des Internats trat, zog sie ihren Umhang fester um sich. Es war der 20. Dezember, früh am Morgen und bitterkalt. Vor dem Haus herrschte rege Betriebsamkeit. Sofias Mutter kam gleich mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. »Juliette, wie schön, dich wiederzusehen, wie geht es dir?«

»Danke, gut, Mevrouw de Week«, sagte Julie freundlich, auch wenn ihre Worte nicht ganz der Wahrheit entsprachen. Als sie sich jetzt auf dem Vorplatz der Schule umschaute, sah sie auch die Kutsche ihres Onkels. In großen, verschnörkelten goldenen Lettern stand »WV« für Wilhelm Vandenberg auf der Tür. Der Kutscher zog ein mürrisches Gesicht, er hatte schließlich eine ganze Weile auf Julie warten müssen. Julies Mitleid allerdings beschränkte sich auf die Pferde, die so lange in der Kälte hatten stehen müssen. Sie verdrängte den Anflug von schlechtem Gewissen, winkte ihrer Freundin noch einmal wehmütig zu und straffte sich schließlich, um ihren Pflichtbesuch anzutreten.