Kapitel 17

Julie spähte sehnsüchtig zum Horizont. Bald sollte Land in Sicht kommen. Trotz des angenehmen Seewindes spürte sie, wie das Klima sich jetzt deutlich verändert hatte. Die Reise hatte sie vom kalten niederländischen Winter durch eine frühlingshafte Zone geführt, bis hierher, wo es so warm war wie nur selten in den niederländischen Sommern. Kichernd hatten die anderen Frauen Julie bereits Ratschläge gegeben, wie man sich das Leben unter tropischer Hitze etwas erträglicher gestalten konnte. Julie errötete, als ihr bewusst wurde, dass die meisten Ratschläge sich auf die Unterbekleidung bezogen. Sie konnte doch nicht ... nein! Wenn das jemand bemerkte!

Sie sehnte sich nach festem Boden unter den Füßen. Allmählich hatte sie keine Lust mehr, sich das Geschwätz der anderen Frauen auf dem Oberdeck anzuhören. Es drehte sich immer eintönig um die gleichen Themen: Haushalt, Kinder, Sklaven. Wilma zeigte sich auch nicht mehr ganz so redselig wie zuvor. Und Erika ... aber seit Karl ... Sie hatte mit Erika nur noch einmal kurz in Angst und Eile gesprochen und ihr manchmal über das Deck zugewunken. Dann hatte Julie es vorgezogen, keine Aufmerksamkeit mehr zu erregen und sich vom vorderen Deckbereich ferngehalten.

»Keine Sorge, Juliette, ich kümmere mich schon weiter um Aiku«, hatte Erika ihr versprochen und mit einem kurzen bestürzten Blick auf Julies noch leicht blau gefärbtes Auge hinzugefügt: »Es ist wohl besser, wenn Sie Ihrem Mann keinen Anlass zur ... zur Sorge mehr geben.«

Und überhaupt, Karls Verhalten ihr gegenüber, die Sache mit Aiku, der Schlag ... Julie versuchte, ihm seitdem aus dem Weg zu gehen, was in der Enge der Kabine ein fast unmögliches Unterfangen war. Traurig musste sie sich eingestehen, dass ihre anfängliche Verliebtheit bereits erloschen war und einer schleichenden Angst vor diesem Mann Platz gemacht hatte. Julie war ständig auf der Hut vor ihm und bemühte sich, seine Stimmung vorherzusehen. Wenn Karl sie jetzt schon so behandelte, wie würde es dann erst auf der Plantage werden? Julie versuchte, den Gedanken daran zu verscheuchen. »Lagerkoller ...« Vielleicht hatte diese Reise Karl wirklich mehr zugesetzt, als sie vermutete. Julie seufzte leise und setzte all ihre Hoffnung auf die baldige Ankunft in Surinam.

Ab und an sah man jetzt bereits Vögel durch die Luft ziehen. Große Vögel in schillernder, rosaroter Farbe und mit lustigen langen Beinen. Angeblich flogen sie in Richtung Land. Julie konnte aber noch nichts dergleichen entdecken.

Enttäuscht ging sie wieder zu den anderen Frauen, die nach wie vor seelenruhig ihren Handarbeiten nachgingen.

»Ein bisschen dauert es noch.« Wilma sah Julie die Ungeduld an. »Genießen Sie die letzten Tage bei guter Seeluft, Sie werden sie bald vermissen.« Wieder lachten die anderen Frauen zustimmend.

Nach und nach zeigten sich auch die Männer an Deck. Selbst Karl flanierte des Öfteren mit Julie an der Reling entlang. Gehorsam ließ sie sich von ihm führen. Seine Stimmung hob sich zusehends, je näher sie der Küste kamen. Julie traute sich sogar wieder, kleinere Gespräche mit ihm anzufangen. Sie blieb auch dabei immer auf der Hut, um ihn nicht zu vergrämen.

»Die Stadt Paramaribo liegt einige Stunden von Rozenburg entfernt«, erklärte er ihr, als sie zaghaft fragte, ob sie die anderen Frauen wohl wiedertreffen würde.

»Na ja, aber ab und an werde ich doch vielleicht eine Kutsche nehmen können und ...«.

Karl lachte. »Dann müssten die Pferde aber schwimmen.«

»Schwimmen?«

»Es gibt auf Rozenburg keine Kutsche. Es führt keine Straße bis zur Stadt, der einzige Weg ist der Fluss. Und da ich nicht dauernd Neger zum Rudern abkommandieren kann ... Du wirst dich schon zu beschäftigen wissen auf der Plantage, und meine Tochter Martina ist ja auch noch da.« Bei der Erwähnung ihrer Stieftochter wurde Julie ganz flau im Magen. Wie würde das Mädchen auf sie reagieren? »Wir bleiben zunächst noch zwei Tage in der Stadt, ich habe dort einiges zu erledigen, dann fahren wir weiter nach Rozenburg.«

Inzwischen stand ein Matrose am Bug des Schiffes und lotete unentwegt die Wassertiefe aus. Das Gewässer war tückisch hier, die nahe Flussmündung des Surinam und die Sandbänke führten zu stetigen Veränderungen der Wassertiefe. Als endlich Land in Sicht kam, war Julie enttäuscht. Sie hatte sich die Küste irgendwie anders vorgestellt, mit breiten Sandstränden und Palmen. Aus der Ferne sah man aber nur das blaue Meer nahtlos in ein grünes Dickicht übergehen. Nicht einmal, als sie näher kamen, war eine klare Grenze zwischen Wasser und Wald auszumachen.

Bald darauf erblickte Julie weitere Schiffe. »Die Schiffe müssen warten, bis die Flut eintrifft, erst dann kann man den Fluss mit der Tide bis zur Stadt hinauffahren«, erklärte ihr ein Matrose.

Als sie schließlich, nach einigen weiteren, endlos lang anmutenden Stunden, in den Fluss einfuhren, stand Julie an Deck und versuchte, so viel des neuen Landes aufzusaugen wie nur möglich. Schon jetzt roch die Luft ganz anders als auf See oder gar in den Niederlanden, sie war würziger und voller. Vom Ufer hörte sie unbekannte Tierlaute. Es sollte hier Affen geben und Papageien, das hatte sie aus den Gesprächen der Frauen erfahren. Sie versuchte, im grünen Gewirr etwas zu erkennen, aber ohne Erfolg. Bald tauchten die ersten Plantagen zwischen dem dichten Grün des Waldes auf. Julie sah große Herrenhäuser, die ihre Front zum Fluss gewandt hatten, begleitet von unzähligen kleineren Gebäuden, die blendend weiß in der Sonne lagen. Der erste Eindruck der Plantagen beeindruckte Julie. Würde sie bald auch auf so einem ansehnlichen Anwesen leben?

Am Nachmittag des 13. März im Jahr 1859 schob sich die Zeelust langsam den Surinam-Fluss hinauf. Die gleichmütige und bisweilen gereizte Stimmung, die in den letzten Wochen auf dem Schiff geherrscht hatte, verwandelte sich in ein aufgeregtes Durcheinander.

Als der Hafen in Sicht kam, war Julie erneut verwundert. Sie hatte einen richtigen Hafen wie in Amsterdam erwartet. Der von Surinams Hauptstadt Paramaribo war aber kaum als solcher auszumachen, es war eher eine natürliche Bucht. Einige große Schiffe ankerten in der Flussmitte, und überall dazwischen wimmelte es von kleinen Booten. Korjale, erinnerte sie sich, so hatte Karl diese kleinen Boote genannt. Schwarze Männer saßen in diesen Nussschalen und stießen sie mit kräftigen Ruderschlägen durch das Wasser.

Während Julie noch auf das bunte Treiben um das Schiff herum schaute, trat Karl an ihre Seite. »Willkommen in Surinam.« Er verschränkte die Arme und stützte sich auf die hölzerne Reling. Er schien guter Dinge.

Und plötzlich wusste Julie, dass dies der richtige Zeitpunkt war. Seit ihrer Abfahrt hallten Wims Worte in ihrem Kopf und nagten bohrend an der Frage in ihr, warum Karl sie geheiratet hatte. Bestimmt nicht aus Liebe, da war sie sich inzwischen sicher. Sie hatte während der Reise gehofft, dass Wim sich getäuscht hätte, aber Karls Verhalten bestätigte immer mehr ihren Verdacht. Plötzlich spürte sie, dass sie Surinam nicht betreten wollte, ohne zuvor eine Antwort auf diese so entscheidende Frage bekommen zu haben.

»Karl?« Sie zögerte. Zwar schien Karl heute bester Stimmung, aber das konnte sich schnell ändern, so gut kannte sie ihn inzwischen. Allerdings standen inzwischen etliche Passagiere an Bord, da würde er wohl kaum ... »Hast du mich nur wegen meines Erbes geheiratet?« Nun war es raus, und Julie wich unwillkürlich ein Stück vor ihm zurück.

Karl aber gab nur ein süffisantes Lachen von sich und antwortete, ohne sie dabei anzusehen. »Juliette, es wäre doch schade gewesen, so ein hübsches Ding wie dich im Kloster zu wissen. Sei mir eine gute Frau, und du bekommst alles, was du brauchst.« Dann schaute er sie kurz an, und dieser Blick, aus dem bloßes Kalkül sprach, gab Julie die Gewissheit. Sie war in eine Falle getappt. Der Schiffsboden wankte unter ihren Füßen, aber sie fiel nicht.