Kapitel 3

Julies Magen rebellierte. Sie war froh gewesen, das nachhallende Wogen der Atlantiküberfahrt überstanden zu haben – und nun hatte Karl sie am Morgen wieder in ein Boot gesetzt. Und dieses war nicht nur klein, es schwankte auf dem Fluss auch bedrohlicher als ein großes Schiff auf dem Meer. Julie beobachtete mit einem mulmigen Gefühl, wie sich die Stadt immer weiter entfernte.

Sie würden Stunden unterwegs sein. Mit der Flut, wie sie erfuhr, denn wenn die Tide vom Meer in den Fluss drückte, ließ es sich am besten flussaufwärts fahren. Über das Heck des Bootes spannte sich als eine Art Pavillon eine gewachste Plane, unter der man, vor Sonne und Regen geschützt, auf einigen weichen Matten und Kissen sitzen konnte. Diese sogenannten Tentboote waren die einzigen wirklichen Verkehrsmittel außerhalb der Stadt.

Julie sehnte sich schon bald danach, aufzustehen und sich die Beine zu vertreten, doch das schien ihr in dem unsicheren Gefährt unmöglich. Sie versuchte, die Beine zumindest immer wieder umzulegen, aber bald schmerzte ihr ganzer Körper. Karl hatte sich neben ihr ausgestreckt und schnarchte schon seit einiger Zeit vor sich hin. An den Ufern zog dichter Tropenwald an ihnen vorbei, hier und da waren Plantagen sichtbar. Der Fluss war aber so breit, dass man außer den Gebäuden nichts erkennen konnte.

Mittig im Boot saßen Aiku und die zwei schwarzen Burschen und ruderten ohne Unterlass. Manchmal murmelten die beiden Vorderen leise miteinander. Julie beobachtete, wie ihre kräftigen Muskeln gegen das Wasser arbeiteten, ihre glänzende tiefschwarze Haut zeigte nicht einmal ansatzweise Anzeichen von Schweiß. Julie hingegen fühlte sich schon wieder, als wäre sie begossen worden. Ihre Kleidung klebte unangenehm am Körper, und ihre Haare lagen ihr im Nacken wie ein zu warmer, wollener Schal.

Als sie die Hand ins Wasser streckte, um sich wenigstens etwas Abkühlung zu verschaffen, drehte Aiku sich zu ihr um und schüttelte mit Nachdruck den Kopf.

Erschrocken zog Julie die Hand zurück. Gab es im Fluss etwa gefährliche Tiere?

Sie ließ ihren Blick über das Gepäck schweifen, das zwischen ihr und den Ruderbänken der Burschen lag, bis er vorne im Bug hängenblieb – dort saß zusammengekauert Kiri.

Meine Sklavin ..., dachte Julie bei sich, wobei sich das Wort Sklavin immer noch unangenehm anfühlte. Darüber schien etwas Böses, Gewalttätiges zu schweben. Und nach dem, was sie bisher in diesem Land erlebt hatte, waren die Weißen zu ihren Sklaven auch nicht wirklich gut.

Julie hatte es in der Stadt zur Genüge beobachtet. Die Schwarzen waren nichts als zweibeinige Arbeitstiere, die ihrem Herrn folgen mussten wie ein Hund und ihm bei jeder erdenklichen Gelegenheit dressiert zu dienen hatten. Julie fragte sich verwundert, wieso es in der niederländischen Kolonie überhaupt noch Sklaven gab, wo die Sklaverei im Heimatland doch bereits vor fünfundvierzig Jahren abgeschafft worden war. Sie vermutete, dass es etwas mit der Arbeitskraft und dem hier herrschenden Lebensstil zu tun hatte. Außerdem ... wer in Europa interessierte sich schon für eine Horde Schwarzer am anderen Ende der Welt? Solange die feinen Damen ihren Kaffee, ihren Zucker und ihre feine Baumwolle bekamen, war es ihnen zumindest nicht unrecht.

Karl hatte sie mehr als einmal mürrisch angewiesen, gefälligst kein Mitleid mit diesem Volk zu zeigen. »Neger sind im Allgemeinen faul, dumm und hinterlistig. Man muss sie ordentlich bei der Stange halten, sonst tanzen sie einem auf der Nase herum.« Julie hatte entsetzt erwidert, dass die Schwarzen aber doch auch Menschen seien, woraufhin Karl genervt geschnaubt hatte: »Hast du das bei deinem frechen Cousin aufgeschnappt?«

Julie hatte im Folgenden auf eine Diskussion mit Karl verzichtet.

Seit ihrer Ankunft in Surinam gab Karl sich ganz dem bequemen kolonialen Leben hin, was bedeutete, dass er jeden überflüssigen Handgriff vermied – schließlich gab es dafür Sklaven. »Deine Kiri wird das auf der Plantage auch schnell lernen, ich habe dort erfahrene Frauen, die sie anleiten werden«, hatte Karl gesagt.

Julie allerdings wusste gar nicht, ob sie das wollte, bisher war sie auch ganz gut allein klargekommen. Natürlich fand sie das Leben mit Dienstpersonal ganz angenehm, aber so wie das hier zelebriert wurde? Bereits auf dem Schiff hatte sie von den anderen Frauen gehört, dass es ganz normal war, dass die Sklaven ihren Herrschaften auch bei der Körperpflege und beim Ankleiden halfen. Sich von einem Dienstmädchen das Kleid schließen zu lassen oder seine Hilfe beim Frisieren anzunehmen, war für Julie ja noch in Ordnung – aber das Übertragen sehr intimer Handgriffe auf eine Sklavin?

Besorgt blickte sie nun auf Kiri im Bug des Bootes. Hatte sie dem Mädchen vielleicht gar keinen Gefallen getan, sie auszuwählen? Was bedeutete es jetzt für Julie, nun eine Misi zu sein, welche Aufgaben würden auf sie zukommen?

Irgendwann wurde das Gemurmel der Burschen lauter, und auch Karl rappelte sich auf. Sie näherten sich der Plantage. Zunächst konnte Julie nicht viel erkennen, ein wahres Pflanzendickicht versperrte die Sicht. Aber dann, ganz in der Nähe des Ufers, öffnete sich hinter dem Grün der Blick auf eine Ebene. Dort lag ein Garten. Nein, ein kleiner Park mit niedrigen Hecken, blühenden Büschen und hohen Bäumen. Leider währte der Blick nur kurz – die Uferböschung wurde höher. Julie konnte es kaum erwarten. War das Rozenburg? War das ihre zukünftige Heimat?

Aufgeregt kletterte Julie mit steifen Gliedern aus dem Boot und folgte Karl einen Weg die Uferböschung hinauf. Der Blick, der sich ihr oben zeigte, entschädigte sofort für die unbequeme Fahrt.

»Willkommen auf Rozenburg.« Auf Karls Gesicht zeigte sich zufriedener Stolz.

Julie war wahrhaftig entzückt. Am Ende der baumdurchsetzten Gartenanlage, auf der vereinzelt Gruppen niedriger Büsche und üppig blühender Pflanzen wuchsen, ragte das Plantagenhaus empor. Das Herrenhaus war ein breiter, ausladender, weiß getünchter Holzbau mit grünen Fensterläden. Es stand auf steinernen Sockeln errichtet – vielleicht als Schutz gegen das Hochwasser? Im vorderen Bereich gab es eine große Veranda, zu der mittig eine Treppe führte. Über der Veranda lag wiederum ein Balkon, dieser war allerdings wesentlich breiter als der des Stadthauses. Julie war überwältigt. Der Begriff »herrschaftlich« traf den Anblick durchaus. Ein Weg, gesäumt von Zitronen- und Orangenbäumen, führte dorthin.

Ihre Ankunft war nicht unbemerkt geblieben. Kaum hatten sie die ersten Schritte auf das Haus zugemacht, strömten die ersten Sklaven zur Begrüßung der Ankömmlinge dahinter hervor. Zu Ehren des heimgekehrten Masra stimmte die Gruppe ein kurzes Lied an. Karl bedachte die Schar Schwarzer mit einem kurzen Nicken und ging, noch bevor der Gesang beendet war, weiter auf das Haus zu. Julie war enttäuscht, dass Karl die Bemühungen dieser Menschen auf diese Weise missachtete. Sie verweilte einen Moment vor dem Begrüßungskomitee, bis der Gesang verstummt war und nickte den Sängern lächelnd zu, musste sich dann aber beeilen, Karl einzuholen, der bereits vor dem Haus stand.

Julie erschrak heftig, als auf dem Weg zum Haus ein großer grüner Papagei angeflattert kam und sich neben ihr auf dem Boden niederließ. Mit schief gelegtem Kopf schritt er um ihre Beine und schaute zu ihr hoch.

Karl drehte sich um und betrachtete den Vogel sichtlich verblüfft. Dann schritt er auf ihn zu und stieß ihn mit dem Fuß beiseite, was der Vogel mit aufgeregtem Gekecker, ausgebreiteten Flügeln und einem drohend geöffneten Schnabel quittierte.

»Beachte ihn nicht, der tut nichts«, murmelte Karl und ging weiter, bevor er schnurstracks durch die Eingangstür verschwand.

Julie versuchte, ihre Beine außer Reichweite des Tieres zu bringen und schlug einen Bogen um ihn. Der Vogel beruhigte sich, als Karl sich entfernte und wackelte mit putzig nickendem Kopf hinter Julie drein.

Vor der Veranda hatten sich einige neugierige Sklaven versammelt. Plötzlich polterte eine weitere Tür der Veranda auf und eine große, stämmige Schwarze baute sich an der Balustrade auf. »Habt ihr nichts zu schaffen? Aiku! Bring das Gepäck ins Haus«, bellte sie harsch in Richtung der Sklaven, die sich sofort vom Vorplatz trollten. Kurz musterte die Frau Kiri, die ratlos vor dem Haus stehen geblieben war, und bedeutete ihr, den anderen Sklaven zu folgen. Dann wandte sie sich an Julie, die vor der Tür verharrte. »Misi«, sagte sie demütig und hielt Julie die Tür auf.

Julie fand sich in einer kleinen Eingangshalle wieder, von der links und rechts Türen abgingen. Geradeaus führte eine sich im Verlauf teilende Treppe in die oberen Stockwerke. Julie war überwältigt. Sie hatte nicht damit gerechnet, ein Haus in einem fast europäischen Stil vorzufinden. An den Wänden prangten goldgerahmte Spiegel, und über den Anrichten aus dunklem Holz hingen zahlreiche Gemälde.

»Juliette, kommst du?« Karl erschien in einer Tür links neben Julie. Sie riss ihren Blick von den Wänden los und folgte ihm in einen ansprechenden Salon. »Setz dich, Juliette.« Karl selbst ließ sich in einem der bequemen Sessel nieder. Auf sein Rufen erschien gleich die Sklavin, die bereits auf der Veranda aufgetaucht war, in der Tür. Sie war hochgewachsen, hatte ein breites Gesicht mit einer flachen Nase, üppige weibliche Rundungen, tiefschwarze Haut und ihre Augen leuchteten wachsam. Julie hatte sofort Respekt vor dieser imposanten Frau. »Amru, das ist Misi Juliette, meine neue Frau. Richte das Essen an, wir haben Hunger. Und morgen wirst du ihr das Haus und die Plantage zeigen.«

Die Sklavin nickte.

Nach dem Abendessen entschuldigte Karl sich mit den Worten, er habe noch im Arbeitszimmer zu tun. Er wies Amru an, Julies Zimmer herzurichten.

»Juliette, du kannst solange auf der Veranda warten. Amru führt dich hinauf, sobald das Zimmer bereit ist.«

Julie ließ sich erschöpft auf einem der Stühle auf der vorderen Veranda nieder. Von hier hatte sie eine herrliche Aussicht bis zum Fluss, der tiefschwarz im Abendlicht dahinzog. Die Luft war etwas besser als in der Stadt, aber auch hier verzog sich die Schwüle des Abends nur langsam. Über den Büschen, die vor dem Haus gepflanzt waren, flatterten einige Schmetterlinge. Julie staunte über ihre Größe. Alles in diesem Land schien prachtvoller, üppiger und größer zu gedeihen als in Europa.

Sie erschrak, als der grüne Papagei wieder angeflattert kam. Er setzte sich auf die Balustrade der Veranda, stolzierte elegant darauf herum und beäugte Julie von allen Seiten.

Julie hatte Scheu vor diesem Tier, war aber erleichtert, als er keine Anstalten machte, sie anzugreifen. Sie betrachtete den Vogel genauer. Seine Federn schillerten in sattem Grün, und seine frechen schlauen Augen schienen sie unablässig zu erforschen. Ab und an öffnete er seinen Schnabel, gab aber keinen Laut von sich. Ein hübsches Tier.

»Na, du?«, sagte sie leise. Der Vogel hielt sofort inne, dann wippte er mit dem Kopf auf und ab, als ob er nicken wollte. Julie lächelte – wenigstens die Tiere schienen ihr hier wohlgesinnt.

Aus der seitlichen Tür trat Amru auf die Veranda. »Misi, Ihr Zimmer ist hergerichtet.« Auch die schwarze Frau blickte kurz verwundert zu dem Vogel. »Nico!«, rief sie erstaunt aus, dann aber schüttelte sie kurz den Kopf, murmelte etwas Unverständliches und deutete Julie an, ins Haus zu gehen.

Julie stand auf, um der Frau zu folgen, doch diese versperrte ihr vor der Tür, aus der sie selbst gekommen war, den Weg. »Nein!« Sie schüttelte belustigt den Kopf. »Sklaven hier«, sie zeigte auf die rechte Tür, »Misi diese Tür«, und öffnete für Julie die linke.

Julie war irritiert. Es gab also zwei Eingänge zum Haus, wovon einer den Weißen vorbehalten schien. Sie fand das alles ziemlich kompliziert.

Amru geleitete sie in das obere Stockwerk. Von einem Flur links der Treppe gingen vier Türen ab. Amru steuerte Julie an der ersten vorbei und sagte knapp, auf die Tür zu ihrer Linken deutend: »Masra Karl«. Vor der zweiten blieb sie stehen. »Misi Juliette, bitte ...«

Julie betrat den Raum. Es war ein helles Zimmer, der halbe Raum wurde durch ein großes Bett auf der rechten Seite eingenommen. An der linken Wand registrierte Julie eine weitere Tür, die vermutlich in das Nebenzimmer führte, wo »Masra Karl« schlief. Schnell lenkte sie sich von dem unangenehmen Gedanken ab, die ihr diese Tür brachte. Karl würde bestimmt ... Julie trat an das große Fenster. Sie hatte von hier aus eine noch bessere Aussicht in Richtung Fluss als von der Veranda unten. Mit einem Nicken entließ Julie die Sklavin. »Amru, ich komme nun allein zurecht.«

Julie war zutiefst erschöpft, die Reise war sehr anstrengend gewesen. Es dauerte allerdings noch eine Weile, bis sie sich zur Ruhe begeben konnte. Zunächst brachte Amru ihr einen Krug frisches Wasser auf das Zimmer, dann erschien sie wenig später mit der kleinen, qualmenden Schale gegen die Mücken.

Erwartungsvoll blieb Amru dann neben Julie stehen. Julie wusste nicht recht, was die Sklavin jetzt noch von ihr wollte, bis diese auf Julies Kleid deutete. Schnell schüttelte Julie den Kopf. »Nein, ich ziehe mich selbst aus, du kannst gehen, Amru.«

Die Sklavin zuckte die Achseln und verließ den Raum. Julie atmete erleichtert auf. Selbst wenn es normal war in diesem Land – es wäre ihr unangenehm gewesen, sich von dieser ihr noch fremden Frau entkleiden zu lassen.

Während sie sich nun auszog und etwas erfrischte, fiel ihr Blick nachdenklich auf die Tür zum Nebenzimmer. In der Stadt war Karl nachts nicht zu ihr gekommen. Ob er hier jetzt wohl wieder ...? Ein kalter Schauder lief über ihren Rücken.

Allen Befürchtungen zum Trotz hatte Karl Julie in der Nacht nicht besucht. Insgeheim war Julie sehr froh darüber. Als sie am nächsten Morgen nach unten kam, war er bereits fort. »Masra Karl ist unterwegs zu den Feldern«, teilte Amru Julie mit, während sie ihr Kaffee einschenkte.

Nach dem Frühstück zeigte Amru Julie die Plantage. Vor dem Haus wartete neben dem Papagei vom Vorabend auch Kiri auf ihre neue Herrin. Die kleine Sklavin hatte neue Kleidung bekommen, sah aber immer noch müde und erschöpft aus. In Julie regte sich ein schlechtes Gewissen, sich gestern nach der Ankunft nicht um Kiri gesorgt zu haben. Wo mochte man sie wohl untergebracht haben? Jetzt schlich das Mädchen langsam, aber mit aufmerksamem Blick hinter den beiden erwachsenen Frauen her. Schließlich musste auch Kiri ihr neues Zuhause kennenlernen.

Von der vorderen Hausseite führte eine kleine Orangenallee um das Haus herum. Die Bäume trugen pralle Früchte und verströmten einen süßlichen Duft. Auf der Rückseite des Hauses gab es ebenfalls eine Veranda und darüber eine schmale, über eine Holztreppe erreichbare, offene Galerie – vermutlich der Sklavenzugang zum oberen Stockwerk.

Aufgrund der vielen Gebrauchsgegenstände, die auf der Veranda lagerten, schloss Julie, dass Letztere nur zu hauswirtschaftlichen Zwecken genutzt wurde. Auf einigen Matten am Boden saßen zwei Mädchen und schrubbten Töpfe. Beide begrüßten die neue Misi ehrerbietig. Julie nickte freundlich zurück.

Julie staunte über das riesige Areal hinter dem Haupthaus. Wo sich in Europa zumeist Gartenanlagen erstreckten, öffnete sich hier ein weitläufiger Wirtschaftskomplex. Von der Verandatreppe führte ein Weg schnurgerade zwischen gepflegten Beeten hindurch, die Julie fast an einen Klostergarten erinnerten. Hier standen verschiedene Pflanzen und Bäume, die voller Früchte hingen. Amru zeigte auf einzelne Pflanzen und benannte sie beim Namen: »Ananas, Mango, Banane und Orangen.« Julie konnte damit allerdings wenig anfangen. Bis auf die Orangen kannte sie die Früchte nicht. Ob sie sich das alles merken konnte? Die Auswahl erschien ihr mehr als reichlich.

Zur Linken stand ein Haus, das ein wenig wie eine Miniaturausgabe des Haupthauses wirkte. Amru erklärte Julie, dort gäbe es weitere Gästezimmer. In dem Gebäude gegenüber befand sich die Küche, aber bei gutem Wetter wurde auch die Kochstelle vor der hinteren Veranda genutzt. Direkt an die Küche schloss sich ein großer, angenehm kühler Lagerraum an, über dessen Dach ein riesiger Baum Schatten spendete. Nachdem sich Julies Augen an das schummrige Licht im Innern gewöhnt hatten, bemerkte sie, dass die Regale gut gefüllt waren.

Neben der Küche befand sich ein Stallgebäude, auf dessen Rückseite diverse Nutztiere Auslauf hatten. Julie sah ein paar Schweine, Hühner und einige andere huhnartige Vögel. Direkt im Anschluss lag der Pferdestall, in dem Karls Pferde untergebracht waren. Zwei braune Stuten dösten im Schatten einiger Büsche. Julie strich über den Zaun hinweg der einen Stute zärtlich über die weichen Nüstern. Früher, bei den Besuchen bei Sofias Familie, war sie immer gerne geritten. Sofia hatte sie, als geübte Reiterin, zwar oft getadelt: »Juliette, den Oberkörper mehr aufrichten, halt die Hände ruhiger«, aber nichtsdestotrotz hatte es ihr Vergnügen bereitet. Ob sie hier wohl auch einmal auf ein Pferd steigen durfte? Die dicken Bäuche der Stuten ließen darauf schließen, dass sie trächtig waren. Ein Hengst war jedoch nirgends zu sehen, vermutlich hatte Karl ihn mit auf seinen Ritt genommen. Vor dem Pferdestall saß ein Schwarzer und polierte ein ledernes Kopfstück. Als er die Frauen sah, sprang er auf und zog seinen schlappen Hut.

Amru hatte bisher die Führung mit ernster Miene abgehalten, nun lächelte sie zum ersten Mal. »Misi Juliette, das ist mein Mann Jenk. Er kümmert sich um die Pferde und die andere Tiere.« Jenk war gut einen Kopf kleiner als Amru, und der kurze vertrauensvolle Blick, den er jetzt seiner Frau zuwarf, sprach von echter Zuneigung. Er begleitete sie ein Stück.

Im Stall nebenan standen, zwischen einigen kräftigen Ochsen, sechs Maultiere. Julie hatte davon gehört, dass diese Tiere sehr genügsam und leistungsfähig waren. Allerdings sahen sie im ersten Moment eher lustig aus mit ihren überdimensionalen Ohren. »Gute Tiere sind das, starke Tiere«, bestätigte Jenk.

Von den Ställen aus lagen links und rechts des Weges weitere Wirtschaftsgebäude. Julie sah eine Schreinerei, einen Bereich, in dem Fässer hergestellt wurden und einige weitere Werkstätten, deren Nutzen sich Julie nicht erschloss. Hinter diesen Gebäuden bogen sie links auf einen weiteren Weg ab und gelangten kurz darauf zur Zuckermühle. Diese stand zwar gerade still, aber Amru erklärte, bis zur nächsten Ernte würde es nicht mehr lange dauern. Die Erntezeiten schienen irgendwie mit dem Mond und den damit auftretenden Springfluten des Flusses zusammenzuhängen. Ganz konnte Julie Amrus Erklärungen nicht folgen, noch haperte es am Verständnis der Sklavensprache, außerdem hatte sie keinerlei Vorkenntnisse bezüglich der Zuckerherstellung.

Julie lugte neugierig in das große, düstere Gebäude. Darin standen verschiedene Maschinen, Fässer und große Bottiche, und es roch süßlich verbrannt.

Hinter der Zuckermühle führte ein Kreek, vom Fluss kommend, direkt bis an das Gebäude. Damit wurde die Mühle betrieben, verriet Amru Julie. Das Wasser war grünlich trüb. Einige Wasservögel flatterten erschrocken auf, als Julie ans Ufer trat, was der hinter ihr watschelnde Papagei ebenfalls mit Flügelschlagen und entenartigen Geräuschen quittierte. Julie und Kiri erschraken gleichsam, was Amru wiederum zum Lachen brachte. Julie betrachtete die Sklavin neugierig. Inzwischen fühlte sie sich wohl in ihrer Gegenwart, außerhalb des Hauses wirkte Amru weniger streng und hatte eine ruhige, herzliche Art an sich. Julie hatte Zutrauen zu der Sklavin gewonnen.

Sie folgten dem Weg zurück zum Wirtschaftshof und trafen von dort auf einige Holzhütten. Amru erzählte, dass hier die Aufseher wohnten. Julie erschrak über das wütende Hundegebell aus einer der Hütten, und auch Amru und Kiri zuckten kurz zusammen. Amru führte Julie schweigend schnell weiter zu einem großen Gebäude, das eigentlich nur aus einem Dach und stützenden Pfosten bestand, dem Gemeinschaftshaus der Sklaven.

Julie sah weder Bänke noch Tische, aber auf dem Boden lagen viele Matten. Sie hatte noch keine Vorstellung davon, wie viele Sklaven auf der Plantage arbeiteten und lebten, aber als sie hinter dem Gemeinschaftshaus durch eine Hecke schritten, wurde ihr bewusst, dass es sich um eine große Anzahl handeln musste. Hinter diesem natürlichen Sichtschutz lag ein richtiges Dorf. Unzählige Hütten standen entlang des Weges, Hühner flatterten umher, knochige Hunde lagen an Stricke gebunden vor den Hütten. Die Behausungen waren allesamt recht einfach gebaut, die Wände bestanden aus Holzgeflecht, welches zusätzlich mit großen Palmwedeln abgedeckt war, auch die Dächer schienen gänzlich aus Palmwedeln zu bestehen. An der Vorderseite gab es jeweils einen offenen Bereich mit einer Feuerstelle.

Im ganzen Dorf herrschte emsige Betriebsamkeit. Stimmen ertönten von hier und da, jemand sang, eine Frau rief nach ihrem Kind, ein Kind weinte, andere lachten. Vor einigen Hütten saßen Frauen und schrubbten Töpfe oder flochten große Körbe. Die meisten hatten ein Baby auf der Brustseite oder auf dem Rücken in einem Tuch, einige halb nackte Kinder tollten um ihre Mütter herum.

Als sie Julie sahen, verstummte das ganze Dorf. Julie erschrak vor der plötzlichen Stille, und sie überkam sofort das Gefühl zu stören. Gehorsam sprangen die Frauen auf und begrüßten die Misi mit gesenktem Blick, musterten sie jedoch neugierig aus den Augenwinkeln. Julie grüßte die Frauen freundlich, sie hatte sich schließlich vorgenommen, nett zu den Sklaven zu sein. Das wiederum brachte Amru zum Lächeln, und Julie kam für einen Moment der Gedanke, sie könnte wieder etwas falsch gemacht haben. Sie bedeutete den Frauen, mit ihrer Arbeit oder was sie sonst gerade getan hatten, fortzufahren.

Julie besann sich auf Kiri, welche die ganze Zeit still hinter ihnen hergelaufen war. »Kiri, hast du auch eine Hütte bekommen?«

Das Mädchen nickte verlegen.

»Zeigst du sie mir?« Julie hoffte, zwischen ihr und der kleinen Sklavin bald das Eis brechen zu können, schließlich würden sie länger miteinander zu tun haben.

Kiri lief einige Meter voraus und blieb dann vor einer heruntergekommenen alten Hütte stehen.

»Oh!«, entfuhr es Julie. »Die ist ... na ja ... ist das Dach dicht?«

Amru legte Kiri den Arm um die Schulter und drückte das Mädchen aufmunternd. An Julie gewandt erklärte sie rasch: »Misi, die Männer werden Kiri helfen, die Hütte zu reparieren. Es war nur keine andere Hütte mehr frei, Misi.«

Julie nickte, nahm sich aber fest vor, in den nächsten Tagen zu kontrollieren, ob Kiris Behausung wirklich instand gesetzt worden war.

Alles in allem war Julie überrascht. Nirgends konnte sie Anzeichen erkennen, dass diese Menschen schmutzig, faul oder gar wild erschienen. Alles war einfach, aber sauber und ordentlich.

Hinter den Hütten lagen zahlreiche gepflegte Kostäcker. Ihr Weg führte sie weiter an einen Kreek, der diesmal quer zum Weg verlief und mit einer breiten Holzbrücke überspannt war.

Amru blieb stehen und deutete in die Ferne. »Die Zuckerrohrfelder.«

Julie hatte keine Vorstellung von der genauen Größe der Plantage, aber als ihr Blick jetzt dem geraden Weg folgte, der die Felder durchzog, sah sie kein Ende. Bisher hatte Julie nur eine vage Vorstellung vom Zuckerrohranbau, gerne wäre sie jetzt weiter in die Pflanzungen hineingegangen, vielleicht hätte sie dort sogar die Arbeiter beobachten können. Aber Amru geleitete Julie wieder zurück zum Herrenhaus, wo die Führung weiterging.

Diesmal stiegen sie die Stufen zur rückwärtigen Veranda hinauf. Die beiden Mädchen, die dort immer noch mit den Töpfen beschäftigt waren, verstummten, und Nico, der Papagei, setzte sich auf die Holzbalustrade und wackelte ein paarmal mit dem Kopf. »Nico Zucker«, sagte er dann plötzlich klar und deutlich.

Julie sah den Vogel verblüfft an. »Der kann ja sprechen!«

Sie hatte von sprechenden Papageien gehört, aber dass jetzt ein Tier vor ihr saß, das tatsächlich menschliche Worte aussprach, faszinierte sie.

Die beiden schwarzen Mädchen kicherten.

»Er spricht aber nicht mit jedem, Misi«, antwortete Amru lachend. Dann betrachtete die Haussklavin nachdenklich das Tier. »Wir haben Nico lange nicht gesehen«, sagte sie nachdenklich.

Auch auf der hinteren Veranda gab es zwei Türen. Julie gelangte durch die ihre in einen kleinen Flur, Amru tauchte, mit Kiri im Gefolge, durch eine Tür zu ihrer Linken wieder auf und wies auf die Tür zur Rechten von Julie. Julie fand dahinter einen weiteren Salon.

»Das Zimmer der Misi«, klärte Amru sie auf.

Es gab also einen Damensalon. Julie sah sich schüchtern um. Die Polstermöbel waren mit zartgeblümten Stoffen bezogen, und filigrane Häkeldeckchen lagen auf dem Tisch und den Kommoden, in einem Wandregal standen einige Bücher. Wieder überkam sie das Gefühl, Gast im Hause einer fremden Frau zu sein. Einer Frau, die gerade erst eben den Raum verlassen hatte. Dann gab sie sich einen Ruck. Sie war jetzt die Frau in diesem Haus!

Vom Damensalon führte eine Tür wieder in die Eingangshalle. Amru deutete auf eine weitere Tür zur Rechten.

»Masra Karls Arbeitszimmer«, sagte sie, machte aber keine Anstalten, die Tür zu öffnen.

Das nächste Zimmer kannte Julie bereits. »Gästesalon« benannte Amru diesen Raum.

Auf der gegenüberliegenden Seite erstreckte sich das Speisezimmer. Die dahinterliegenden Räume schienen zum Wirtschaftsteil zu gehören, Amru aber schlug den Weg zur Treppe ein und bestieg jetzt den rechten Flügel. Auch dort gab es einen Flur mit vier Türen. Amru deutete nach links: »Misi Martinas Räume«, und dann nach rechts: »Gäste«.

Über die Galerie der Treppe gelangten sie zum linksseitigen Flur, wo auch Julies Schlafzimmer lag. Amru steuerte die zweite Tür auf der rechten Seite an, und Julie fand sich in einem Waschzimmer – mit einem Badezuber! Julie war erfreut. Eine anständige Waschgelegenheit hatte sie bisher vermisst. Eine weitere Tür führte von dem Baderaum zu der außen liegenden Stiege, die hinab zur hinteren Veranda führte.

»Wenn Misi Juliette baden möchte, bringen wir das Wasser hoch.« Dabei bedachte Amru Kiri, die den Frauen immer noch wie ein Schatten folgte, mit einem gewichtigen Blick, worauf das Mädchen eifrig nickte.

Auf dem Weg zurück blieb Julie vor der Tür des Flures stehen, hinter die sie noch keinen Blick geworfen hatte.

Amru sah Julie und auch Kiri mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck an. »Misi, dieses Zimmer ist tabu für alle, sagt Masra Karl.« Julie runzelte die Stirn. Tabu? Warum denn das? Bevor sie Amru aber danach fragen konnte, lenkte die Sklavin eilig ab: »Möchte die Misi jetzt auf der vorderen Veranda eine Erfrischung einnehmen?« Und an Kiri gewandt fügte sie hinzu: »Kiri, du gehst und füllst die Waschschüssel im Zimmer der Misi auf.«

Die Führung schien beendet.

Diese Besichtigung entpuppte sich bald als Höhepunkt von Julies erster Woche auf Rozenburg. Die Tage auf der Plantage verliefen schnell in einem einschläfernden Gleichmaß. Karl war morgens bereits vor dem Frühstück unterwegs. Begleitet wurde er stets von Aiku. Der Sklave tappte früh morgens leise durch den Flur, damit alles zur Zufriedenheit seines Herrn war, wenn dieser aufwachte. Julie konnte schon nach ein paar Tagen die Schritte auf dem Flur auseinanderhalten. Sie hörte ein leises Huschen von nackten Füßen, Aiku machte dabei große Schritte, Amru eher kurze, feste und Kiris waren leicht und schnell.

Karl kam dann nach seinem Kontrollritt durch die Zuckerrohrfelder kurz zurück und frühstückte gemeinsam mit Julie, las dabei allerdings vornehmlich in einer Zeitung. Diese war zwar nie tagesaktuell, da ein fahrender Händler sie lediglich einmal wöchentlich mit seinem Boot vorbeibrachte, aber Karl blätterte beharrlich jeden Tag eine der Ausgaben durch.

Nach dem Frühstück ging er an seinen Schreibtisch. Die Aufseher und Vorarbeiter, die Basyas, durchweg Mischlinge, kamen und lieferten ihre Berichte ab, und die zu erledigenden Arbeiten wurden besprochen, bis es am Mittag wieder eine kleine Mahlzeit gab. Die Temperaturen stiegen unterdessen draußen auf ein unerträgliches Maß. Bis zum frühen Abend wurde im Haus geruht. Karl pflegte vor dieser Ruhe einen Dram, einen kräftigen Schnaps aus gebranntem Zuckerrohr, zu sich zu nehmen und begann die Abendstunden dann ebenfalls mit einem Glas dieses Getränks, bevor sie ein reichhaltiges Essen zu sich nahmen. Aiku wusste um die Vorlieben seines Herrn und stand stets mit dem Tablett bereit.

Um Julie scherte sich niemand. Brav kam sie jeweils zu den Mahlzeiten zu Tisch, in der Hoffnung, Karl würde ein paar Worte mit ihr wechseln.

Sie hatte sich ihre Ankunft irgendwie anders ausgemalt. Aufregender, betriebsamer. Sie hatte davon geträumt, dass Karl sie in das Plantagenleben mit einbeziehen würde oder sie Aufgaben im Haus übernehmen könnte. Aber nichts dergleichen geschah.

Als das Treiben eines Tages deutlich unruhiger wurde und eine gewisse Spannung in der Luft lag, fragte Julie die Haussklavin neugierig, was los sei.

»Misi, heute beginnt die Ernte«, erklärte Amru.

Julie war froh, endlich ein wenig Abwechslung! Geschwind zog sich um. Im Haus trug sie lediglich ein leichtes Kleid, für draußen aber war das vermutlich nicht angemessen.

Gerade als sie das Haus verlassen wollte, um an der Zuckermühle zum ersten Mal die Ernte zu beobachten, fing Karl sie ab. »Wo willst du hin?«

»Ich dachte ... ich könnte vielleicht zur Mühle«, sagte Julie leise.

Karl aber machte ihre Hoffnungen zunichte: »Nichts da! Während der Ernte bleibst du im Haus. Du würdest da nur im Weg stehen, außerdem ist es gefährlich.«

»Aber ich wollte doch nur zugucken«, warf Julie vorsichtig ein.

»Juliette – ins Haus!« Karls Kommando duldete keine Widerrede. Julie trottete missmutig zurück ins Haus.

Sie langweilte sich. Was machten die Frauen auf solchen Plantagen nur den ganzen Tag? Nach ein paar Tagen war sie mehr als ausgeruht, und auch an das Klima hatte sie sich ansatzweise gewöhnt. Außer den Sklaven bewegte sich aber nicht viel den ganzen Tag. Im Haus gab es für Julie keine Aufgaben. Julie stellte sich oft die Frage, ob sie hier überhaupt als Misi akzeptiert würde, und wusste immer noch nicht, was als Misi von ihr verlangt wurde. Wenn Karl ihr wenigstens gesagt hätte, welche Aufgaben sie übernehmen sollte! Dieser Haushalt war jahrelang ohne eine Misi ausgekommen, Amru hatte alles problemlos im Griff, und es gab keinen Grund für Julie, der Sklavin in irgendetwas hineinzureden.

In ihrer Langeweile wünschte Julie sogar, dass Martina aus der Stadt zurückkehren würde. Zwar war ihre erste Begegnung nicht gerade vielversprechend abgelaufen, aber Julie hoffte, hier auf der Plantage vielleicht doch Zugang zu ihrer Stieftochter zu finden. Das Mädchen musste sich doch auch langweilen!

Aus der Not fing Julie sogar bald an, mit Nico zu sprechen. Das Tier freute sich sichtlich darüber. Immer, wenn Julie das Haus verließ, tauchte es sofort in ihrer Nähe auf und folgte ihr beharrlich.

Ebenso wie Kiri. Das Sklavenmädchen wirkte inzwischen erholter, machte einen munteren Eindruck und verfolgte alle Tätigkeiten von Julie aufmerksam. Kiri war von Amru angewiesen worden, sich stets in Julies Nähe aufzuhalten, falls die Misi etwas wünschte. Aber meist stand Kiri tatenlos herum, während ihre Misi versuchte, sich von dem eintönigen Tagesablauf abzulenken. Nach einigen Tagen wusste sie bereits, wie Julie ihr Haar gerne trug, welche Kleidung sie bevorzugte und wann Julie ein Getränk wünschte. Julie bedachte Kiri immer häufiger mit kleinen Aufgaben, denn es tat ihr leid, dass das Mädchen den ganzen Tag für sie zur Verfügung stehen musste. Es war für Julie sehr ungewohnt, zwar einsam, aber nie recht allein zu sein.