Kapitel 4

Kiri war aufgeregt. Nicht wegen der bevorstehenden Reise in die Stadt, nein – die Frauen aus dem Dorf warteten auf die Boote der Buschneger, die diverse Waren aus dem Hinterland liefern sollten. Kiri hoffte, dass Dany dabei war. Sie hatte ihn lange nicht gesehen, in ihren Träumen aber tauchte immer wieder der muskulöse Körper des jungen Mannes auf, dessen Tätowierungen zu tanzen schienen.

Kiris Hoffnungen wurden nicht enttäuscht. Bei der Ankunft der Boote sprang Dany als Erster behände ans Ufer und schenkte Kiri ein strahlendes Lächeln. Schlagartig verschwanden aus Kiris Kopf alle Worte, die sie zu ihm hatte sagen wollen.

Zunächst aber hatten die Männer genug mit dem Entladen der Boote zu tun. Die Frauen wuselten um sie herum wie eine Schar aufgeregter Hühner und kommentierten jede Ware, die an Land gebracht wurde, mit aufgeregtem Geschnatter. Die Handelsbeziehungen zu den Buschnegern waren für die Plantagensklaven die einzige Möglichkeit, an Dinge zu kommen, die es auf der Plantage nicht gab. Das Reisen war ihnen untersagt und Passierscheine, die vom Masra ausgestellt werden mussten, so gut wie nicht zu erhalten. Lediglich die Rudersklaven, die die Herrschaften in die Stadt oder zu anderen Plantagen brachten, hatten Kontakt zur Außenwelt. Aber deren Möglichkeiten, Hunderte von Menschen mit den gewünschten Dingen zu beliefern, waren begrenzt, schließlich konnten sich die weißen Herrschaften während ihrer Reisen nicht auf bunte Stoffballen oder Ähnliches hocken. Also bestellten die Sklaven größere Mengen an Gütern über die Buschneger. Von diesen durften einige die Stadt bereisen, andere wiederum hatten ein florierendes Netzwerk auf den Flüssen zu den Plantagen aufgebaut. Zwar sahen es die weißen Kolonisten nicht gerne, wenn die Buschneger Kontakt zu den Plantagensklaven hatten, vom Rang her stand dieses gottlose Urwaldvolk in der Bevölkerung des Landes noch weit unter den einfachen Arbeitern, aber so wurden die Kolonisten wenigstens von dem Übel entbunden, auch noch Güter wie Stoffe und dergleichen für ihre Arbeitssklaven beschaffen zu müssen. Die meisten Plantagenbesitzer begnügten sich also damit, lediglich einmal im Jahr einfachen Tuchstoff an die Leute auszugeben, die sich dann zusätzlich mit dem bunten Tand der Buschneger eindeckten. Bei Letzteren war der Erwerb auch billiger, Tauschgeschäfte bestimmten den Handel.

Dementsprechend ging es an diesem Morgen am Flussufer hoch her. Es wurde gefeilscht, was das Zeug hielt, die Frauen schimpften drakonisch, lachten aber mindestens genauso viel, und unterm Strich wusch eine Hand die andere.

Kiri beobachtete, etwas abseits stehend, das Treiben. Sie hatte zwar auch eine Kette gefertigt, aus kleinen rosafarbenen Muscheln, die es weiter oben am Fluss nicht gab, weshalb Schmuckstücke daraus bei den Frauen der Buschneger und den Arbeitssklaven im Hinterland durchaus begehrt waren, aber jetzt dachte sie nicht daran, diese gegen etwas Nützliches einzutauschen. Sie saß gedankenverloren auf einem Baumstamm und ließ die zerbrechliche Kette zwischen ihren Fingern hin und her gleiten. Eigentlich brauchte sie nichts von den Waren. Als Haus- und Leibsklavin der Misi standen ihr einige Vergünstigungen zu, die unter anderem den Erhalt abgelegter Kleidung aus dem Haushalt beinhaltete, die sie sich zu eigenen Stücken umnähen konnte. Die entsprechende Umänderung war dabei ungeschriebenes Gesetz – kein Sklave durfte in der Kleidung der Weißen herumlaufen, außer es handelte sich um eine Hausuniform, die aber wohl kaum ein Weißer je tragen würde.

Natürlich schürten diese Vergünstigungen manchmal den Neid der anderen Mädchen und Frauen, aber da Kiri bescheiden war und auch gerne einen Streifen Stoff abgab, hielt sich der Unmut in Grenzen.

Als sich die Frauenschar jetzt langsam auflöste, um ihre Errungenschaften in das Dorf zu bringen, schlenderte Dany auf Kiri zu. Kiri spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen.

»Na, Kleine!«, sagte er neckisch, während er sich neben sie setzte und ein Stück Cassavabrot abbrach, das er soeben erhandelt hatte. Er bot es ihr an. Kiri nahm es und versuchte ein Lächeln.

»Und? Hat das Huhn geholfen?«, fragte er zwinkernd.

Kiri wusste erst nicht, was er meinte. Dann fiel ihr siedend heiß die Nacht ein, in der sie das Ritual für die Misi abgehalten hatte. In ihren Erinnerungen drehte sich das Ereignis meist eher um etwas anderes. Sie hatte sofort ein schlechtes Gewissen, denn noch hatte die Opferung des Huhns nichts geholfen, vielleicht glaubte sie auch einfach nicht genug daran. Oder war sie gar zu sehr abgelenkt gewesen?

Kiri zuckte als Antwort lediglich mit den Achseln und biss schnell in das Brot, aus Angst, ihre Stimme würde kratzig klingen vor Nervosität. Als Dany sich nun näher zu ihr beugte, verschluckte sie sich fast.

»Bist du heute Nacht wieder beim dansi?«, flüsterte er heiser.

Kiri wusste gar nichts von einem Fest, das war aber nicht ungewöhnlich, normalerweise sprachen die Sklaven untereinander nicht über ein solches Ereignis, in der Regel wussten nur die Beteiligten davon. Zu groß war die Gefahr, dass die Weißen etwas mitbekamen. Trotzdem nickte Kiri jetzt. Sie würde schon herausfinden, wie und wo ...

»Gut, dann sehen wir uns ja!« Ein breites Grinsen überzog Danys Gesicht, er stand auf, zwinkerte Kiri zu und lief den anderen Männern hinterher ins Dorf.

Kiris Herz pochte bis zum Hals.

Es war nicht schwer, tief in der Nacht den wenigen Sklaven zu folgen, die sich aus dem Dorf schlichen. Kiri hatte hellwach jedes Geräusch verfolgt und sich ebenfalls in den Wald begeben.

Niemand stieß sich daran, als sie sich mit an das Feuer schlich, und Dany wählte gleich den Platz neben ihr. Jenk wusste vielleicht von Dany, dass er Kiri erwartete. Kiri grübelte kurz ängstlich, ob sie sich zu offensichtlich verhielt, wenn sie jetzt ohne triftigen Grund hier am Feuer Platz nahm. Die anderen Plantagensklaven waren aber zu sehr mit sich selbst beschäftigt, dass keiner sie eines Blickes würdigte. Wieder schien es um ein Beschwörungsritual zu gehen, wieder waren zwei Paare sowie die Buschneger und Jenk als Schamane dabei. Vermutlich hatten die Buschneger das notwendige Zubehör besorgt, manchmal bedurfte es für ein spezielles Ritual etwas ausgefallenerer Dinge. Affenschwänze oder gar eine große Leguanhaut zum Beispiel waren auf dem Grund der Plantage schwer zu bekommen. Dany grinste sie wieder an, und einige Zeit saßen sie schweigend nebeneinander, das knisternde Feuer erhitzte die Haut ihrer Gesichter, und die Beschwörungsformeln des Medizinmannes lullten sie in eine unwirkliche Stimmung.

Irgendwann brach Dany das Schweigen und flüsterte Kiri zu: »Sag mal, du bist nicht von der Plantage, oder?«

Kiri schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin mit der neuen Misi hergekommen.«

Er nickte und schwieg wieder einen Moment. Dann fragte er: »Und? Hast du Sehnsucht nach dem Ort, wo deine Nabelschnur begraben liegt?«

Kiri war erstaunt, dass Dany dieser alte Glaube etwas zu bedeuten schien. Dieser Glaube, der besagte, dass jeder Mensch an den Ort gebunden war, wo seine Nabelschnur begraben lag. Er war stets einer der Gründe, warum Sklaven überwiegend eben an genau diesem Ort, einer Plantage, ihr Leben lang festhielten und nicht daran glaubten, dass es einen anderen Ort für sie gab. Was sie selbst betraf, gab es bezüglich dieses Glaubens allerdings ein kleines Problem. »Ich weiß gar nicht, wo meine Nabelschnur begraben liegt«, brachte sie leise hervor und senkte den Blick, denn im Grunde stimmte sie das ein wenig traurig. Wieder wurde sie gewahr, dass sie eigentlich keine Heimat hatte und auch keine Familie.

Dany zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Du weißt es nicht? Oh, das ist schade.«

Kiri war es peinlich, nicht genau zu wissen, woher sie stammte. »Wo liegt denn deine?«, fragte sie neugierig, nicht zuletzt in dem Versuch, von ihrer eigenen Situation abzulenken.

»Meine? Na, hier!« Er deutete mit dem Blick in den Wald.

Jetzt lachte Kiri. »Hier? Im Wald? Kommst du gar aus No-Meri-Mi-Kondre?« Sie kicherte.

No-Meri-Mi-Kondre war eine beliebte Geschichte unter den Sklaven im Land. Es bedeutete so viel wie Lass-mich-in- Ruhe-Dorf und bezeichnete einen Ort, von dem man nie wieder fortkam, denn wenn man wusste, wo er lag, musste man dort bleiben. Dort wohnten böse Geister, so sagte man, und Buschneger, die Menschen jagten und in dieses Dorf brachten. Tante Grena hatte Kiri als kleines Mädchen oft die Geschichte erzählt, vermutlich um sie am Fortlaufen in den Wald zu hindern.

Dany schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Nein, nicht von dort, obwohl ... als Kind habe ich manchmal versucht, dieses Dorf zu finden«, sagte er nachdenklich. »Nein, von hier meine ich, von Rozenburg«, fügte er schließlich lächelnd hinzu.

Jetzt war Kiri wirklich überrascht. »Wie? Du kommst von der Plantage, lebst aber im Wald bei ... das verstehe ich nicht.«

Er nickte. »Ist ’ne längere Geschichte ... beim nächsten Mal.« Er schaute sie verschwörerisch an und erhob sich dann. Kiri bemerkte, dass auch die anderen im Aufbruch waren.

Ihre Gedanken kreisten jedoch weiter um das Gehörte. Wenn Dany von der Plantage kam, musste er doch Familie dort haben? Und wie war er zu den Buschnegern gekommen? Sie fand das alles sehr merkwürdig und tappte grübelnd im Dunkeln am Rand der Zuckerrohrfelder zurück ins Sklavendorf.