Kapitel 11

Bereits nach wenigen Tagen unter Deck war Erika überzeugt, dass dies die erste wirklich schwere Prüfung in ihrem Leben war, die Gott ihr auferlegt hatte. Eingepfercht wie Vieh saßen die Passagiere im Zwischendeck fest. Reinhards optimistische Ansicht, der Kapitän würde sie schon schnell an Deck lassen, bewahrheitete sich nicht. Lediglich die Tür zum Deck wurde tagsüber geöffnet, um den Gestank etwas abzumildern. Aber an der Stiege stand stets ein Matrose, der darüber wachte, dass keiner das Deck betrat. Erika stellte viele Mutmaßungen an, warum man sie nicht an die frische Luft ließ. Ein Blick in die Ecke der Holzfäller und auch auf Josefa aber waren ihr Antwort genug. Während die Holzfäller sich zu jeder Tages- und Nachtzeit am mitgebrachten Alkohol, ihrem scheinbar einzigen Gepäck, gütlich taten und sich die Zeit mit Kartenspiel vertrieben, lag Josefa in ihrer Hängematte und kämpfte mit der Seekrankheit. Auch Bruder Walter war noch blasser geworden, widerstand aber jeglichem Brechreiz stoisch. Reinhard hingegen schien die Schiffsreise körperlich nichts anzuhaben. Zwar hatte auch ihn die bedrückende Stimmung unter Deck inzwischen stiller gemacht, auch ihn hatte die Langeweile ergriffen, aber er sprach immer noch leise mit euphorischen Worten zu Erika, vornehmlich über das wundervolle Land, welches sie erwartete. Jeden Tag aufs Neue versprach er Erika, dass heute der Tag wäre, an dem sie Zutritt zum oberen Deck bekommen würden.

Der Matrose Ferger, dem im hinteren Teil des Zwischendecks die Bewachung der Tür zu den Laderäumen oblag, gab dann jedes Mal nur ein belustigtes Schnauben von sich. »Das vergiss man, Jungchen«, tönte er hochnäsig aus seiner Hängematte. »Bis wir aus dem Kanal raus und an England vorbei sind, lässt der Kapitän keinen hoch. Das letzte Mal haben ihm nämlich die Landarbeiter fast die Aufbauten zerstört, besoffen wie die waren. Und die Bauern, die er verschiffen sollte, haben tagelang das Deck vollgekotzt. Da hält er jetzt lieber alle hier unter Deck, die einen können sich an ihren Fässern festhalten, die anderen an ihren Eimern.« Mit einem schadenfrohen Grinsen deutete er auf Josefa, die einen ebensolchen umklammerte und ununterbrochen leise vor sich hinwürgte.

Erika seufzte. »Wie lange dauert es denn noch, bis wir an England vorbei sind?«

Ferger zuckte nur die Achseln und legte sich wieder in seine Matte.

Erika dünkte, dass er nicht ganz freiwillig diesen Wachposten angenommen hatte. Andererseits brauchte er hier unten nicht schwer zu arbeiten. Zweimal am Tag erhob er seinen massigen Körper, wuchtete sich die Stiege hoch und kam nach einiger Zeit mit einem großen Topf Essen wieder herunter. Ein kleiner, schmächtiger Schiffsjunge folgte mit einem Korb voller Schiffszwieback. Die tägliche Suppe war dünn, Fleisch schwamm nie darin, aber wenigstens einiges an Gemüse. Die Versorgung war karg, aber ausreichend.

»Wir fahren ja auch nicht erster Klasse«, beschied Reinhard Erika, als sie mit hochgezogenen Augenbrauen in der dünnen Brühe herumrührte. »Außerdem bekommen wir bald ganz viele exotische Köstlichkeiten.«

... wenn wir bis dahin nicht einem starken Mangel erliegen, dachte sich Erika im Stillen, löffelte dann aber hungrig ihre Ration.

Ferger schaufelte sich immer eine besonders große Portion in seine Schale und schickte dann den Jungen mit dem Rest, der noch im Topf war, hinunter in die Laderäume. Immer wenn er wieder hochkam, war er blass um die Nase und wirkte verängstigt. Erika konnte sich keinen Reim darauf machen, was der Junge dort unten mit den Suppenresten zu schaffen hatte, und fragte irgendwann den Matrosen nach der Antwort. »Vieh ... zwei Stück Vieh«, grunzte Ferger und grinste. »Schweine?« Erika bekam keine Antwort, ihr fiel aber ansonsten auch kein Vieh ein, welches sich auf einem Schiff verstauen und mit Suppenresten füttern ließe.

Als die Passagiere des Zwischendecks nach vierzehn Tagen endlich an die frische Luft durften, war Erika enttäuscht von der Aussicht, die sich ihr bot. Meer, nur die Weite des Ozeans, kein Land mehr in Sicht, keine bestrandete Küstenlinie. Die unendliche Grenzenlosigkeit des Ausblicks bot Josefa gleich wieder Anlass zu jammern. Ihr Mann verfügte, man solle doch am besten eine kleine Andacht halten, auch um die Gefahren und Übel der weiteren Reise vielleicht zu mildern. Während sich also die Meute aus Holzfällern an der Spitze des Decks zwischen Tauen und Tampen niedergelassen hatte und bereits wieder reichlich dem Schnaps frönte, suchten sich die Herrnhuter ein windgeschütztes Plätzchen.

Erika konnte den Worten von Bruder Walter nur schwerlich folgen. Neugierig hob sie immer wieder vorsichtig den Kopf, um sich auf dem Schiff umzusehen. Reinhard warf ihr einen tadelnden Blick zu. Schließlich war es ihre Pflicht, dem Gebet nachzukommen, aber im Grunde schien er eher froh, dass sich seine Frau auf See nicht zu so einem jammernden Bündel wie Josefa entwickelt hatte.

Es hatte vor der Abreise durchaus Spannungen zwischen den beiden gegeben. Allzu viele Dinge waren in allzu kurzer Zeit zu erledigen gewesen. Da hatte schnell das eine Wort das andere gegeben. Reinhard hatte Erikas Bedenken nicht nachvollziehen können. Erika hatte sich schnell darauf besonnen, ihre Gedanken bezüglich der Missionsreise für sich zu behalten. Es stand ihr nicht zu, zu klagen.

Als sie jetzt langsam den Blick über das Schiff schweifen ließ, sah sie im hinteren Bereich nochmals einen Deckaufbau. Ihre Aufmerksamkeit wurde von den Personen, die sich dort aufhielten, magisch angezogen. An der Reling saßen Damen in feinen Kleidern auf richtigen Stühlen. Kurz traf ihr Blick auf den einer jungen Frau, die wiederum die Passagiere auf dem vorderen Deckbereich neugierig zu beobachten schien.

Wie es wohl ist, auf so einem Schiff in einer besseren Klasse zu reisen?, schoss es Erika durch den Kopf. Ob die Passagiere dort wohl in Betten oder auch in schwankenden Matten lagen? Vermutlich schliefen sie in Betten, und bestimmt gab es auch bessere Speisen als eine dünne Suppe. »Denk an die armen Menschen in Indien«, hallten die Worte ihrer Mutter in ihrem Kopf. Ihre Mutter, Gott habe sie selig, hatte Erika immer getadelt, wenn sie begehrliche Gedanken nach etwas Luxus hatte aufkommen lassen. Sie schalt sich nun selbst: Solche Wünsche sollte sie nicht haben. Es war recht, wie sie untergebracht war, und es mangelte schließlich an nichts ... außer frischer Luft, Privatsphäre und gesunder Kost.

Schnell senkte Erika wieder den Kopf und konzentrierte sich auf Bruder Walters Worte.

Fortan durften die Zwischendeckpassagiere jeden Tag für ein paar Stunden an Deck. Erika wartete immer sehnsüchtig auf den Moment, in dem der Matrose die Luke öffnete. Sie dürften sich jedoch nur im vorderen Teil des Schiffes aufhalten, dahinter wolle der Kapitän sie nicht sehen, da dies die gehobenen Schiffsgäste störe, hatte der kleine Schiffsjunge Erika mit wichtiger Miene auf ihre Frage erklärt, warum das Deck durch ein Tau unterteilt sei. Erika konnte es dem Kapitän nicht einmal verübeln. Die Holzfäller benahmen sich nicht gerade vorbildlich, und je länger die Reise dauerte, desto unzufriedener und aufmüpfiger wurden sie. Unter Deck kam es fast jeden Tag zu Streitereien, nicht nur unter den Arbeitern, sondern auch mit Bruder Walter, der sich in seiner Ruhe gestört fühlte. Reinhard hingegen versuchte, Kontakt zu den gestandenen Männern zu knüpfen, musste dafür aber auch einiges einstecken. Mit einem »Pfaffen« wollten diese Arbeiter nichts zu tun haben. Zudem wollte Reinhard nichts trinken und verstand sich nicht aufs Kartenspiel.

Nach einigen Tagen ruhiger Überfahrt wurde die See wieder rauer. Man schloss die Luke, da bereits Wellen über das Deck schwappten. Josefas Magen drehte sich erneut unablässig um, und unter dem Geschaukel behielten auch einige der Holzfäller ihre Getränke nicht mehr zuverlässig bei sich. Nachdem dann auch noch die Aborteimer aus ihren Ecken geschleudert wurden und außer Erika und Reinhard niemand Anstalten machte, die stinkende Brühe aufzuwischen, wurde auch Erika flau im Magen.

»Ich brauche frische Luft!« Mit dem Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen, stürmte sie die Stiege empor. Ob sie sich heute auf Deck aufhalten durfte oder nicht, war ihr egal. Sie musste raus aus dem Gestank.