Kapitel 13

Julie lernte, Karls aufbrausendes Temperament durch ihr Verhalten zu beschwichtigen. War er auf der Plantage, spielte sie die brave Ehefrau, versuchte den Anschein zu erwecken, sie hätte inzwischen die Verwaltung des Haushaltes vollständig übernommen, betrieb freundliche, kurze Konversation mit ihm und lag bei seinen nächtlichen Besuchen klaglos da. Im Stillen aber dankte sie für jede Stunde, in der sie ihm nicht nahe sein musste, und seine Abfahrt in die Stadt nahm ihr jedes Mal eine große Last vom Herzen. Dann konnte sie für kurze Zeit sie selbst sein.

Mit Beginn der heißen, trockenen Jahreszeit kam Anfang Oktober auch Martina aus der Stadt wieder auf die Plantage – in Begleitung von Pieter.

Martina erzählte ihrem Vater in den ersten Tagen bei Tisch gern von den Ereignissen im Hause ihrer Tante. Karl ging aber nie näher darauf ein, was Julie verwunderte. Er schien zu der Familie seiner verstorbenen Frau keinerlei Kontakt mehr zu wünschen. Oder wünschte sie es nicht? Julie wusste es nicht. Martina zumindest schien dort gern gesehen zu sein und wohlwollend aufgenommen zu werden. Das Leben in der Stadt schien ihr zu gefallen, und Julie vermutete, dass Karl beizeiten verlangte, dass sie sich wieder auf die Plantage zurückbegab. Hier hatte er immerhin ein Auge auf seine Tochter – und Pieter.

Julie hörte eines Tages eher zufällig, wie Pieter und Karl darüber sprachen, dass Martina im kommenden November achtzehn Jahre alt wurde. Julie musste die aufkeimende Wut unterdrücken. Martina, Martina! Karl hatte ihren Geburtstag nicht nur vergessen, er war sogar an dem Tag in der Stadt geblieben. Seiner Tochter allerdings würde er bestimmt ein pompöses Geschenk machen. Doch dann nahm das Gespräch eine ungeahnte Wendung: Man könne doch im März, wenn das Wetter angenehm sei zwischen der kleinen und großen Regenzeit, die Hochzeit von ihm und Martina arrangieren, schlug Pieter vor. Karl schien nicht abgeneigt, und wenige Tage später verkündete er offiziell seinen Entschluss. Pieter machte einen zufriedenen Eindruck, und Julie musste, um Karl nicht zu verärgern, zähneknirschend ihre Freude kundtun.

Martina war begeistert. »O Vater, wir werden eine große Feier ausrichten, Tante Valerie wird sich darum kümmern!«

Karl brauste unerwartet auf. »Das fehlt mir noch, die Feier wird hier abgehalten!«

Martina stieg sofort die Zornesröte ins Gesicht. »Aber wir können doch nicht auf der Plantage feiern, wir haben keinen Saal! Und die Anreise, den Gästen gegenüber ist das ...«

Karl unterbrach sie donnernd. »Keine Diskussion, du bist meine Tochter, und wenn du heiratest, dann auch auf meinem Grund und Boden. Wir brauchen Valerie nicht!« Er deutete auf Julie. »Juliette ist deine Stiefmutter, sie kann das ebenso organisieren.« Damit war für Karl das Thema erledigt.

Martina verkroch sich, wie so oft, sofort schmollend in ihrem Zimmer. Pieter ignorierte die Szene und trank mit Karl auf die beschlossene Sache, und Julie saß da und wusste nicht, wie ihr geschah. Eine Hochzeit für ihre widerborstige Stieftochter auszurichten war das Letzte, was sie sich wünschte.

Bis März waren es nur noch fünf Monate.

Julie zerbrach sich den Kopf, wie sie es anstellen könnte, eine standesgemäße Hochzeit auszurichten. Sie kannte sich mit den Sitten in diesem Land doch kaum aus und mit Hochzeiten an sich schon gar nicht. Ihre eigene konnte sie wohl kaum als Vorlage werten. Andererseits ... Ob sie wollte oder nicht, dies war auch die ideale Gelegenheit, sich gegenüber Karl zu profilieren. Sie würde das schon irgendwie hinkriegen. Und wenn Martina und Pieter erst mal verheiratet waren, würde Pieter Martina wohl auch mit in die Stadt nehmen. So hoffte Julie. Schließlich arbeitete er von dort aus. Sie würde sich jetzt also einige Monate intensiv mit Martina auseinandersetzen müssen, aber dann ...

»Na, da haben Sie sich ja Großes vorgenommen.« Jean Riard lachte, als er bei seinem nächsten Besuch von Julie erfuhr, dass sie sich um die Feierlichkeiten kümmern sollte.

Wie immer, wenn er zum Arbeiten nach Rozenburg kam, hatte es Julie auf die Veranda gezogen, wo sie ihm Gesellschaft leistete.

»Ach«, Julie winkte ab. »Wir haben ein großes Haus, eine gute Küche, genügend Personal und mit Amru wohl auch die beste Haushaltsvorsteherin, die man sich wünschen kann. Ich denke, so eine Feier mit ein paar Gästen sollte man hier wirklich ausrichten können.«

»Ein paar Gäste?« Riard legte den Stift beiseite und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er schien belustigt. »Ihnen ist hoffentlich klar, dass es nicht bei ein paar Gästen bleiben wird«, sagte er schmunzelnd. »So eine Hochzeit ist immer ein großes Ereignis, die halbe Kolonie wird zu Gast sein, ganz abgesehen davon, dass die Enkelin der Familie Fiamond heiratet ... weiß die überhaupt schon davon? Ich meine ... sie wird nicht erfreut sein, bei den Vorbereitungen außen vor zu bleiben.«

»Fiamond?« Julie sah ihn überrascht und fragend an.

Riard seufzte. »Felice Fiamonds Mutter stammte aus einer der größten und einflussreichsten Familien Surinams. Wussten Sie das etwa nicht?«

Julie schluckte. »Na ja ... Martina ist oft in der Stadt bei ihrer Tante ... Ich dachte ... Ich wusste ja nicht ...« Julie wusste selbst nicht so genau, was sie gedacht hatte. Bisher hatten sich ja alle in Schweigen gehüllt, wenn es um Karls erste Frau – Martinas Mutter – ging.

Jetzt beugte Riard sich über den Tisch und dämpfte seine Stimme. »Ich will nicht, dass Sie in die Falle tappen, Mevrouw Leevken. Sie sollten sich vorher genau informieren, wie es zwischen der Familie Fiamond und Mijnheer Leevken steht. Sie sind noch neu in der Kolonie, das ganze gesellschaftliche Geflecht hier ist ziemlich verworren und kompliziert. Ich weiß auch nicht genau, was damals passiert ist, es war vor meiner Zeit in der Stadt. Aber ab und an hört man Getuschel darüber, also ... die Fiamonds werden bei der Hochzeit zugegen sein müssen, auch wenn das weder Ihnen noch Ihrem Mann gefallen wird. Ich will sie nur vorwarnen: So einfach wird das nicht.« Julie blickte ihn verwirrt an. Das konnte ja heiter werden! Zumal ihr die wichtigsten Informationen offensichtlich fehlten. Wie gut, dass er sie zumindest vorgewarnt hatte. Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu und entschuldigte sich auf ihr Zimmer. Julie fühlte sich wieder einmal schrecklich allein.

Martina tat natürlich ihr Übriges, die Situation zu verschärfen. Sie war nicht gewillt, mit Julie auch nur einen Satz über die Hochzeitsplanungen zu wechseln. Nach wenigen Tagen zweifelte Julie ernsthaft daran, dass sie es schaffen würde, die Hochzeit auf ausdrücklichen Wunsch Karls, aber gegen Martinas Willen, zu organisieren. Als Martina ihr eröffnete, dass ihre Tante Valerie bei den Marwijks auf Watervreede Quartier beziehen und alles Weitere unter ihre Fittiche nehmen würde, atmete sie fast erleichtert auf. Aber sie hatte die Rechnung ohne Karl gemacht. Als er hörte, dass seine ehemalige Schwägerin das Hochzeitszepter in die Hand nehmen wollte, brach im Hause Leevken ein Gewitter los. Karl tobte: Diese Frau würde vor der Hochzeit keinen Fuß auf die Plantage setzen! Und Martina solle den Kontakt zu ihr einzustellen. Wenn nicht, würde er die ganze Hochzeit absagen. Die Stimmung auf Rozenburg war aufgeheizt und explosiv.

Martina trug offensichtlich nicht nur den Stolz, sondern auch die Sturheit ihres Vaters in sich und war nicht bereit, so schnell klein beizugeben. In den Tagen, in denen Karl in der Stadt verweilte, nutzte Martina die Abwesenheit ihres Vaters, um in ein Boot zu steigen und zu den Marwijks zu fahren, wo ihre Tante offensichtlich in der Tat Einzug gehalten hatte. Von dort planten sie, unbemerkt von Karl, die Feierlichkeiten. Und redeten vermutlich auch sonst sehr viel, Julie wollte gar nicht wissen, worüber, wahrscheinlich zerrissen sie sich die Mäuler über sie. Das war ihr aber fast egal. Sie nutzte die Zeit ohne Karl und Martina auf der Plantage, um sich wieder den Sklavenkindern mit ihren kleinen braunen Kulleraugen und den krausen Haaren zu widmen. Die Kinder heiterten sie schnell auf und ließen sie die Hochzeit für ein paar Stunden vergessen. Allerdings hatte Pieter seit Martinas Rückkehr nach Rozenburg auch auf der Plantage Quartier bezogen. Selbst wenn er ab und an losfuhr, um die anderen Plantagen zu besuchen und seinem Dienst als Arzt nachzukommen, war Julie ständig auf der Hut, denn Pieter hatte die unbequeme Angewohnheit, unerwartet aufzutauchen. Die Anwesenheit dieses Mannes reizte Julie, sie konnte nicht einmal genau sagen, warum. Seine Art, sein drohender Unterton, wenn er sie ansprach – alles an ihm schürte ihre Abneigung.

Wenn Karl in die Stadt fuhr, hatte Pieter es sich zur Gewohnheit gemacht, die Feldarbeit zu überwachen. Er sattelte sich am Morgen ein Pferd, kehrte aber immer früher als Karl von dem Rundritt wieder. Julie hatte beobachtet, wie Pieter mit den Aufsehern sprach. Diese begegneten Pieter ebenso ehrerbietig wie Karl. Julie wusste nicht, wie viel Befehlsgewalt Karl Pieter übertragen hatte, die Stimmung im Sklavendorf wurde aber durch seine Anwesenheit nicht besser.

Eines Nachmittags, Karl wurde am Abend zurückerwartet, schlenderte Julie zur hinteren Veranda, in der Erwartung Amru und Kiri dort zu treffen. Allerdings saß Kiri allein dort und bereitete das Gemüse für das Abendessen vor.

»Wo ist denn Amru?« Julie blickte sich verwundert um, die Küchenarbeit ganz ohne Aufsicht zu lassen, war gar nicht Amrus Art.

Kiri zuckte nur die Achseln und blickte verlegen auf den Boden.

»Na, sag schon, Kiri!«

»Misi, Amru ist noch mal ins Dorf zurückgegangen, da gab es wohl ... ich weiß auch nicht.«

»Hm.« Julie überlegte kurz und machte sich dann auf den Weg zum Sklavendorf. Wenn Amru die Angelegenheit für wichtig hielt, war es auch wichtig.

Überraschenderweise brauchte Julie nicht bis zu den Hütten zu gehen. Bereits im großen Gemeinschaftshaus hatten sich viele Sklaven eingefunden. Einige Stimmen protestierten laut, aber Julie konnte noch nicht verstehen, worum es ging. Vor der aufgebrachten Menge standen Pieter, die Aufseher und Amru, die bestürzt wirkte. Gerade als Julie am Haus ankam, zog einer der Aufseher einen der sitzenden Sklaven hoch, stieß ihn ins Freie und holte mit der Peitsche aus.

»Nein!« Julie raffte ihren Rock und rannte los. »Was ist hier los?«, fragte sie bestimmt.

»Juliette, du solltest nicht hier sein.« Pieter stand der Zorn deutlich im Gesicht geschrieben. »Geh!«

»Das ist immer noch auch meine Plantage, Pieter! Was hat der Mann getan, dass er die Peitsche bekommen soll? Was ist hier überhaupt los? Amru?« Hilfesuchend sah Julie die Haussklavin an.

Amru zögerte kurz. War es besser, sich der Misi anzuvertrauen oder auf Masra Pieter zu hören? Amru entschied sich für die Misi. »Misi Juliette, Masra Pieter hat heute die Rationen für die Sklaven gekürzt. Die Leute sind wütend. Außerdem ...«

»Dann arbeitet das Pack wenigstens besser!« Pieter brauste auf.

»Die sind alle viel zu gut genährt, das ist nicht förderlich, das macht sie faul.« Und mit einem spitzen Unterton fügte er hinzu: »Das ist alles mit Karl abgesprochen.«

Julie schnaubte verächtlich. »Ah ja, wie schön. Das ist aber noch lange kein Grund, den Mann«, sie deutete auf den Sklaven, der auf dem Boden vor den Füßen des Aufsehers lag, »zu bestrafen.«

»Er war der Rädelsführer, er hat sich beschwert«, argumentierte Pieter.

Julie trat an den Sklaven heran. »Steh auf!«

Der Mann jedoch hielt sich immer noch in Erwartung der Peitschenhiebe die Hände vor den Kopf. »Steh auf, es passiert dir nichts«, sagte sie mit ruhiger Stimme, während sie den Aufseher böse anfunkelte, der sogar einen Schritt zurückwich. »Sag, was du zu sagen hast«, wies sie den Sklaven an.

Der allerdings wirkte so eingeschüchtert, als wollte er im Erdboden versinken. »Misi nicht böse sein, Misi nicht böse sein«, war alles, was er zustande brachte. Was allerdings schon viel war, wenn man bedachte, dass es das erste Mal war, dass sich ein Sklave auf dieser Plantage überhaupt zu einem Vergehen äußern sollte. Julie konnte sich kaum vorstellen, dass dieser Sklave, der jetzt jammerte wie ein Kind, hier eben noch einen Aufruhr anführen wollte.

Erst als Amru neben ihn trat und ihm einige Wort zuflüsterte, traute er sich, zu Julie zu sprechen.

»Misi müssen verstehen, unsere kleinen Kostäcker geben um diese Jahreszeit nicht viel her, wenn jetzt auch noch die Rationen gekürzt werden, die Kinder ... ich weiß nicht ...«

»Hier wird erst mal gar nichts gekürzt.« Julie setzte einen entschlossenen Gesichtsausdruck auf und fixierte Pieter mit festem Blick. »Amru, lass die Leute wieder an die Arbeit gehen, Pieter – komm mit.« Pieter schien sich über diesen Befehlston mokieren zu wollen, folgte Julie dann allerdings in Richtung Haus.

Es war nicht gut, solche Auseinandersetzungen vor den Sklaven zu führen, das sah selbst Julie ein. Instabilität im Haus des Plantagenbesitzers verunsicherte auch die Arbeiter. Aber Julie konnte Pieters Verhalten so nicht dulden. Im Salon angekommen, fuhr Julie herum. »Was erlaubst du dir eigentlich? Soweit ich weiß, warst du auch sonst nicht mit Sklavendingen betraut, woher also plötzlich dieses Interesse, Pieter?«

Pieter setzte ein feistes Grinsen auf und trat einen Schritt an Julie heran. »Juliette, daran wirst du dich gewöhnen müssen. Nach meiner Hochzeit mit Martina werde ich hier eine wichtige Rolle spielen, das ist dir doch wohl klar. Und im Übrigen solltest du dich um die Neger nicht scheren, das gehört sich einfach nicht für eine Dame von Stand.« Er griff nach einer von Julies Haarsträhnen und spielte damit. Julie jagte ein kalter Schauer über die Haut. »Du wirst einfach schön brav weiterhin das Püppchen von Karl spielen. Ohne einen Erben bist du lediglich eine weitere Frau im Haus.« Seine Stimme war genauso kalt wie der Blick, mit dem er sie jetzt bedachte. »Und soweit ich das mit meiner medizinischen Erfahrung beurteilen kann, wirst du ihm so schnell auch keinen Nachwuchs schenken. Könnte ja sein, dass das beizeiten sein Interesse an dir schmälert.« Mit einem verächtlichen Schnauben ließ er Julies Haare los und setzte sich lässig in einen der Sessel. »Zudem, wenn ihm zu Ohren kommen würde, welche Aufmerksamkeit du den Negern in seiner Abwesenheit zukommen lässt ... Auch das wird ihn nicht erfreuen. Alles in allem stehst du momentan auf keinem guten Posten, Juliette, ich hoffe, darüber bist du dir im Klaren.«

Julie funkelte ihn böse an. Sie war nicht gewillt, sich von ihm in die Enge treiben zu lassen. »Und wenn ich Karl erzähle, das Martina sich heimlich mir ihrer Tante trifft, dann könnt ihr eure Pläne auf Rozenburg vergessen! Dann wird es vermutlich keine Hochzeit geben!«

Julie sah, wie Pieter in seinem Sessel zusammenzuckte. Sie hatte ihn getroffen! Sie machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum und ließ Pieter verdutzt zurück. Der Punkt ging an sie, eindeutig. Trotz der Aufregung und des Mutes, den sie hatte aufbringen müssen, Pieter die Stirn zu bieten, trotz ihres Herzens, das zu zerspringen drohte, so heftig klopfte es, musste Julie lächeln.

Diesmal täuschte Julie einen Fieberanfall vor, um sich der Gegenwart von Karl, Martina und vor allem Pieter zu entziehen. Sie hatte sich von Amru entschuldigen lassen und zog es vor, allein in ihrem Zimmer zu sein. Kiri schien gleich sehr besorgt, als Julie Unwohlsein äußerte. Es brauchte eine Weile, bis sie Kiri klargemacht hatte, dass sie nicht wirklich krank war. Dem Mädchen war die Erleichterung im Gesicht geschrieben, als Julie ihr im Schlafzimmer erklärte, sie wolle nur allein sein, ihr fehle nichts. Aber sie freute sich insgeheim, dass Kiri sich so ernsthaft um sie sorgte und nicht nur ihre pure Pflicht erfüllte. Julie schickte sie mit ein paar netten Worten fort. Sie musste allein sein, musste nachdenken.

Auch wenn sie erfolgreich gekontert hatte, hatten Pieters Worte ihr unmissverständlich klargemacht, welche Rolle sie hier auf der Plantage spielte. Und was, wenn seine Worte wahr würden? Wenn sie Karl keinen Erben schenken konnte, würde sie die Zukunft hier nur als lebender Zierrat verbringen, und die Plantage würde mehr und mehr Pieter und Martina zufallen. Ein für Julie unerträglicher Gedanke. Aber nicht unwahrscheinlich, denn Karl war schließlich auch nicht mehr der Jüngste, und in diesem Land gab es unzählige Krankheiten, die einem Leben unvermittelt ein Ende setzen konnten. Julie wäre zwar als Karls Frau durchaus erbberechtigt an Rozenburg, das wusste sie, aber er würde sie niemals mit der Führung der Plantage betrauen, solange er noch die Zügel in der Hand hatte. Da war Pieter offensichtlich Karls erste Wahl, vielleicht hatte Karl ja sogar diesbezüglich schon irgendwelche Regelungen getroffen. Julie wusste es nicht. Sie musste auch Pieter gegenüber vorsichtig sein. Niemand wusste, wie gut er Karl beeinflussen konnte. Julie beschloss, solange Pieter auf der Plantage war, erst einmal weniger Kontakt zu den Sklavenkindern zu haben. Es brach ihr das Herz, aber die Gefahr, dass Karl es herausbekam, war einfach zu groß.

Über die Mittagsstunden war es still im Haus, und Julie fiel erschöpft in einen leichten Schlaf. Die knarrenden Dielen des Flures ließen sie hochschrecken. Weder Amru noch Kiri gingen um diese Zeit im Haus umher, und auch den anderen Haussklaven war es nicht gestattet, die Mittagsruhe zu stören. Julie ließ sich aus dem Bett gleiten und schlich auf nackten Füßen zur Tür. Vorsichtig öffnete sie diese einen Spalt und spähte auf den Flur. Gerade eben noch sah sie, wie Karls Hemdsärmel in dem Zimmer verschwand, das Amru ihr nicht gezeigt hatte. Was Karl wohl in diesem Zimmer zu schaffen hatte? Leise schloss sie ihre Tür und legte sich zurück aufs Bett.

»Tabu« sei das Zimmer, hatte Amru bei der Hausführung gesagt. Ganz ernst hatte sie Amrus gewichtigen Gesichtsausdruck damals nicht genommen. Schließlich gab es unten auch einige Wirtschaftsräume, die nur von den Sklaven genutzt und kaum von den Weißen betreten wurden. Julie hatte angenommen, es handele sich um ein ungenutztes Gästezimmer oder vielleicht eine Kleiderkammer und keinen weiteren Gedanken an den Raum verschwendet, nachdem sie ganz zu Beginn einmal die Klinke heruntergedrückt und festgestellt hatte, dass der Raum verschlossen war.

Jetzt war aber doch ihre Neugier geweckt.

Am Abend, als sich die Dunkelheit über die Plantage gelegt hatte und auch das ohrenbetäubende Abendkonzert der Waldbewohner verstummt war, lag Julie da und lauschte auf die gedämpften Töne der Nacht. Kiri hatte ihr vor gut zwei Stunden noch einen Schlaftrunk gebracht und frisches Wasser in den Waschkrug gefüllt. Julie hatte sie gefragt, ob die anderen sich auch bereits zur Ruhe begeben hätten.

»Misi Martina hat sich wieder mit Masra Karl über die Hochzeit gestritten. Sie ist früh auf ihr Zimmer gegangen. Masra Karl und Masra Pieter haben noch Dram getrunken. Dann hat sich Masra Pieter zurückgezogen. Masra Karl hat noch zwei Gläser allein getrunken, dann hat Aiku ihn zu Bett gebracht«, gab Kiri eifrig preis.

»Danke Kiri, du kannst dann auch gehen.«

Julie hatte sich das so ähnlich schon gedacht. Sie hatte gehört, wie Karl im Nachbarzimmer einige Anweisungen für Aiku gelallt hatte, bevor es still geworden war.

Jetzt beschloss sie, dass der Augenblick gekommen war, herauszufinden, was sich hinter dieser Tür verbarg. Julie stand auf und zog sich ihren leichten seidenen Morgenmantel über. Vorsichtig tappte sie erst zu der Verbindungstür, die ihren Raum mit Karls Schlafzimmer verband. Wie sie vermutet hatte, ertönte ein leises Schnarchen. Wenn Karl getrunken hatte, schlief er für gewöhnlich tief und fest. Selbst wenn es ihm vor dem Zubettgehen noch in den Sinn kam, Julie zu behelligen, schlief er danach wie ein Stein. Auch wenn Julie aufstand, um sich zu waschen, kümmerte ihn das nicht. Julie schauderte kurz, sie dachte nicht gern an diese Nächte und verbannte sie für gewöhnlich aus ihrem Kopf.

Vorsichtig schlich sie aus ihrem Zimmer die wenigen Schritte über den Flur. Als sie die Klinke des geheimnisvollen Zimmers drückte, ließ sich die Tür zu ihrer Verwunderung öffnen. Julie huschte durch den Türspalt und bemühte sich, die Tür möglichst leise wieder zu schließen. Ihr Herz pochte bis zum Hals, sie holte ein paarmal tief Luft und drehte sich dann um, um sich in dem Raum umzusehen. Als sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, erkannte sie schemenhaft einzelne Möbelstücke. Julie machte einige unsichere Schritte in den Raum hinein, auf der Hut, nirgends anzustoßen, bis sie vor einem Möbelstück mitten im Raum stehen blieb. Vor ihr stand eine Babywiege mit einem Baldachin aus Gaze! Der Raum war ein Kinderzimmer! Julie stockte einen Moment der Atem. Hatte Karl etwa schon in freudiger Erwartung ein Kinderzimmer für ihr gemeinsames Kind einrichten lassen? Doch dann wurde ihr die düstere Atmosphäre in dem Raum bewusst. Es roch staubig und abgestanden, und als sie sachte über den Gazestoff des Bettchens strich, gab der ein leises Knistern von sich. Der Raum war seit langer Zeit unberührt. Julie fröstelte, sie zog ihren Morgenmantel fester um sich. Vorsichtig schlüpfte sie wieder aus dem Zimmer und verkroch sich in den Laken ihres Bettes. Was hatte das zu bedeuten? Auf dem Schiff hatte Wilma erzählt, dass Karls erste Frau Felice wieder schwanger gewesen war, als sie ... als sie ...

Für Julie war es unvorstellbar, dass sich eine schwangere Frau das Leben nahm. Was hatte Felice nur dazu getrieben?

An Schlaf war jetzt nicht zu denken. Unruhig wälzte Julie sich in ihrem Bett. Aber war dies überhaupt ihr Bett? Hatte Felice hier früher gelegen und sich vielleicht auch in tiefer Nacht Gedanken gemacht, die sie letztendlich dazu bewogen ...? Julie wurde übel bei dem Gedanken. Ruckartig stand sie auf, schlang das dünne Laken um ihren Körper und legte sich auf die Recamiere nahe beim Fenster. Plötzlich kam ihr der ganze Raum im fahlen Mondlicht gespenstisch und fremd vor.

Nico schien Julies betrübte Stimmung am nächsten Tag schnell zu erfassen. Kaum hatte sie sich auf der Veranda niedergelassen, vollführte er einige komische Hüpfer auf der Balustrade, als wolle er sie aufheitern.

Amru brachte Julie eine Tasse warme Schokolade. Ihr waren die blassgrauen Augenringe der Misi aufgefallen, sie hielt sie aber für eine Folge des Unwohlseins, das Julie in den letzten Tagen angeblich ereilt hatte.

»Der Kakao wird der Misi guttun.« Mit einem Handwink versuchte Amru, den Vogel von der Tasse fernzuhalten. Das Tier stahl gerne das kleinen Löffelchen, um damit zu spielen.

»Ach, lass ihn doch.« Julie nahm den Löffel und hielt ihn Nico hin, der auch gleich fröhlich mit seiner Beute in die Ecke der Veranda hüpfte.

Julie beschloss, einige Dinge herauszufinden. Das Thema ließ sie sowieso nicht los, und wenn ihr hier jemand Auskunft geben konnte und würde, dann war es Amru. »Amru?«

Die Haussklavin hatte sich schon zum Gehen gewandt. »Möchte die Misi noch etwas?«

»Nein, ich möchte dich etwas fragen.«

Amru wandte sich wieder Julie zu. »Ja?«

»War das Zimmer oben für Felices Kind bestimmt?«

Amrus Gesichtszüge erstarrten. »Masra Karl sagt, niemand soll in das Zimmer, Misi!«

»Ich weiß, Amru, aber ich hab nur einmal kurz hineingesehen. Sag mir, was passiert ist damals!«

»Misi, ich ...« Amru knetete nervös ihre Schürze. »Vielleicht fragt Misi lieber Masra Karl.«

»Amru, du weißt genau, dass er über so was nicht mit mir reden würde ... wen sollte ich sonst fragen, bitte!«

Amru seufzte und setzte sich behäbig auf die Stufen der Veranda zu Julies Füßen. »Misi Felice war eine schöne Frau und so nett«, begann sie. »Masra Karl und Misi Felice waren damals ein schönes Paar. Ihre Hochzeit war ein großes Ereignis hier auf Rozenburg. So viele Menschen, so viele Gäste.« Amru seufzte nochmals tief, warf Julie dann aber gleich einen peinlich berührten Blick zu. »Entschuldigung, Misi, ich meine natürlich ...«

»Schon gut Amru, schon gut. Ich weiß, dass Karl diese Felice wohl sehr geliebt hat.«

Amru nickte nur bestätigend. Nachdenklich schwieg sie einen Moment und beobachtete den Papagei, der sich immer noch emsig an dem Löffel zu schaffen machte. »Nico war der Vogel von Misi Felice. Aiku brachte ihn eines Tages mit aus dem Wald, er hatte ihn gefunden, das Tier war klein und schwach, wohl aus dem Nest gefallen. Eigentlich wollte er ihn für die Kinder im Dorf mitnehmen. Aber als Misi Felice das kleine Tier sah ... Sie hat ihn gefüttert und ihn Nico getauft. Nico war von da an immer an ihrer Seite. Als Misi Felice starb ... kam auch der Vogel nicht wieder.«

Nachdenklich betrachtete Julie das Tier. Jetzt war klar, warum Karl und auch Martina so verwundert auf sein Auftauchen reagiert hatten. Ihr Blick wanderte weiter zu Amru zu ihren Füßen, die gedankenversunken vor sich hin starrte. Sie sah der Sklavin an, wie sehr sie die Erinnerung erschütterte. Julie wartete eine Weile in der Hoffnung, mehr zu erfahren, aber Amru schien nicht gewillt, noch mehr preiszugeben. Seufzend entließ sie die Haussklavin, die sich mit schweren Schritten trollte.

Julie kam nicht umhin, nach einiger Zeit den gemeinsamen Mahlzeiten wieder beizuwohnen. Ihre Abwesenheit hätte vermutlich Karls Unmut heraufbeschworen, und sie konnte sich ja auch nicht auf ewig vor Pieter und Martina verstecken. Sie hatte neue Kraft geschöpft und fühlte sich ihnen wieder gewachsen.

Die Gedanken an das verstaubte Kinderzimmer und Karls wachsender Zorn über eine ausbleibende Schwangerschaft betrübte sie zutiefst, sie wusste aber auch nicht, wie sie den Zustand hätte ändern können.

Das Thema am Tisch wurde wieder einmal von der bevorstehenden Hochzeit beherrscht. Martina beklagte sich erneut: »Vater, ich kann das so nicht organisieren. Tante Valerie ...« Sogleich erstarrte sie, jetzt hatte sie sich verplappert!

Pieter warf resigniert seine Serviette auf den Teller. Karls Augen verzogen sich zu schmalen Schlitzen, und er fixierte seine Tochter.

»Was hatte ich gesagt, passiert wenn du deine Tante ...?«

»Vater, ich ...«

»Schweig, es reicht! Die Hochzeit wird so lange verschoben, bis du bereit bist, die Feier mit Juliette zu planen.«

Martina heulte auf. Jetzt machte auch Pieter ein betroffenes Gesicht. Er hatte nicht erwartet, dass sein zukünftiger Schwiegervater seine Drohung wirklich wahr machen würde.

»Karl, bitte, wir werden da doch eine Lösung finden«, versuchte er, die Situation zu retten.

Doch dieses Mal ließ Karl sich von Pieter nicht umstimmen.

Wenige Tage später erschien Jean Riard zu seinem Arbeitseinsatz auf der Plantage. Julie hatte sich bisher immer gefreut, wenn der junge Mann kam und versucht, ihm etwas Gesellschaft zu leisten, soweit es der Anstand zuließ. Diesmal saß sie aber nur betrübt, mit gedankenversunkenem Blick auf ihrem Platz auf der Veranda und versuchte erst gar nicht, ein Gespräch mit ihm zu beginnen.

Der Buchhalter, der durchaus spürte, dass auf Rozenburg eine sehr gespannte Stimmung herrschte, wagte am zweiten Tag zögerlich, Julie zu fragen, was vorgefallen war.

Julie schüttete ihm ihr Herz aus. »Ich würde mich ja bemühen um Martinas Hochzeit, aber ... sie weigert sich strikt, mit mir zu sprechen. Wie soll ich denn da helfen?«

Jean Riard war ein geduldiger Zuhörer, aber Rat wusste er auch nicht. Ihm tat Julie leid, die hier zum Spielball anderer geworden war. Er sah, wie die Lebenslust dieser jungen Frau zunehmend schwand und sie sich mehr und mehr in Depressionen verlor. Aus einem Impuls heraus legte er tröstend seine Hand auf die ihre. »Mevrouw, ich ...«

Ihre Blicke trafen sich, und plötzlich bedurfte es keiner Worte mehr.

Julie wusste nicht, wie ihr geschah. Jedesmal, wenn sie an den jungen Buchhalter dachte, flatterte in ihrer Brust ein Schmetterling, ihr wurde heiß, dann kalt, dann hatte sie Durst, obwohl ihr eigentlich übel war. Nach ihrem letzten Treffen auf der Veranda war er am nächsten Tag bei Tagesanbruch zurück in die Stadt gefahren. Julie hätte eigentlich andere Dinge im Kopf haben sollen, aber sie kam nicht umhin, ständig an ihn zu denken. Sie versuchte, sein Bild aus ihrem Kopf zu verdrängen, doch wenn sie dann wieder an die sanfte Berührung seiner Hand dachte, seine blauen Augen, sein blondes Haar ...

Als nach einigen Wochen die Zeit seiner Wiederkehr nahte, kämpfte sie jeden Tag, jede Stunde mit dem schlechten Gewissen darüber, dass sie sich im Stillen darüber freute. War sie etwa verliebt? Sie wusste es nicht.

Eines Abends im Dezember, alle saßen wie gewohnt mehr oder weniger schweigend bei Tisch, trieben Julies Gedanken gerade wieder in weite Ferne, als Martina sich plötzlich zu Wort meldete. Das war ungewöhnlich, denn seit der Hochzeitsabsage ignorierte sie ihren Vater. Auch Pieters gutes Verhältnis zu Karl hatte einen derben Riss bekommen. Julie nahm sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf das Diesseits. Trotzdem hatte sie verpasst, was Martina gerade gesagt hatte. Diese saß mit geröteten Wangen vor ihrer Suppe, und auch Pieter wirkte irgendwie unruhig. Karl fixierte seine Tochter aber bereits wieder mit schmalem Blick, was nichts Gutes verhieß.

»Du bist was?«

»Ich bin schwanger.«

Julie war sich nicht sicher, ob sie die Worte jetzt wirklich gehört hatte. Karls Reaktion ließ jedoch keinen Zweifel. Er stand so abrupt auf, dass sein Stuhl umkippte. Aiku, der neben der Tür dienstbeflissen wartete, zuckte zusammen.

Karls Gesicht bekam eine zornige Röte. »Pieter, sofort in mein Arbeitszimmer!« Im Vorbeigehen griff er sich seinen Schwiegersohn in spe und schleifte ihn am Arm mit in seine Räume. Die Tür knallte zu, trotzdem konnte Julie hören, wie Karl Pieter mit lauter Stimme maßregelte: »Wie konnte das ...? Pieter!«

Martina saß zusammengesunken auf ihrem Platz. Julie wusste nicht, was sie sagen sollte. Schweigend stocherte sie in ihrem Essen herum, ohne jedoch einen Bissen zu sich zu nehmen.

Eine gefühlte Ewigkeit später wurde die Tür von Karls Arbeitszimmer wieder aufgerissen. Karl stapfte zurück in das Esszimmer, gefolgt von einem ungewohnt unterwürfig dreinblickenden Pieter. Karl baute sich vor dem Tischende auf, nicht ohne noch einen strafenden Blick auf Martina zu werfen, und knurrte: »Jetzt wird geheiratet, gleich im Frühjahr, nicht auszudenken, wenn ... Das habt ihr euch ja hervorragend ausgedacht!« Er machte auf dem Absatz kehrt, nahm ein Glas Dram vom Tablett, das Aiku ihm wohlwissend entgegenhielt, und verschwand in seinen Räumen.

Jetzt erst regte sich Pieter. Sobald Karl verschwunden war, ließ er die Maske des Reumütigen fallen und setzte das höhnische Grinsen eines Siegers auf. Besitzergreifend legte er eine Hand auf Martinas Schulter. »Siehst du, meine Liebe, da konnte er jetzt gar nicht anders als Ja zu sagen.« Und mit einem Seitenblick auf Julie fügte er herablassend hinzu: »Wir werden hier schon zu unserem Recht kommen.«