Kapitel 6

Erika bekam schnell Anschluss zu den Frauen der Holzfäller, auch wenn diese auf den ersten Blick etwas grobschlächtig und robust anmuteten. Aber gerade Resa Müller, eine korpulente Frau jenseits der Fünfziger, hatte es Erika mit ihrer resoluten mütterlichen Art angetan. So kam es auch, dass Erika den kleinen Reiner gerne ab und zu bei Resa ließ, während sie sich um die Kinder der van Drags kümmerte. Die Stimmung im Haus war angespannt. Frieda van Drag stand kurz vor der Niederkunft.

Jette, ihre treue Leibsklavin, äußerte Erika gegenüber inzwischen fast täglich ihre Besorgnis, dass es bei der Geburt Komplikationen geben könnte. Jette hatte nach Erikas Informationen fast allen Geburten im Hause van Drag beigewohnt, jetzt schätzte sie jeden Tag die Bedingungen derer, die gut ausgegangen waren, gegen die der missglückten Geburten ab. Erika fragte sich insgeheim, ob es überhaupt gesund sein konnte, so viele Kinder zu gebären. Sicherlich war es gottgefällig, aber wenn sie sich so an ihre eigene Schwangerschaft erinnerte ... Diesen Zustand über so viele Jahre durchgängig zu erleben, konnte sie sich nicht vorstellen. Auch Resa äußerte Bedenken. Sie lebte schon ein paar Jahre auf Bel Avenier und verfolgte das Geschehen im Haus mit Sorge. »Immer mehr Kinder, die sich kaum bändigen lassen ... und die Frau sollte aufpassen, dass sie ihre Kinder nicht zu Halbwaisen macht. So eine Geburt, hier draußen weit ab ... Die Negerhebamme versteht zwar ihr Handwerk, aber man weiß ja nie.«

Alle Bedenken waren jedoch umsonst. Frieda van Drag traf schließlich das Glück der raschen und problemlosen Geburt. Erika war froh, sie gesund und munter in ihrem Bett vorzufinden, die kleine rosige Gemma in ihren Armen. Frieda van Drag strahlte, gleichzeitig umflorte ein dunkler Schatten ihre Augen. »Ist sie nicht süß? So ein Glück.«

Die Hausherrin sollte, wie es für weiße Damen unumgänglich war, noch mindestens sechzehn Tage das Bett hüten, ein Umstand, der Erika bis dato fremd gewesen war. Sklavenfrauen und Arbeiterinnen bekamen gerade einmal drei Tage Pause nach der Geburt zugesprochen, bevor sie sich wieder zur Arbeit zu melden hatten, und auch sie selbst hatte es nicht lange im Wochenbett ausgehalten. Schließlich war sie ja nicht krank gewesen.

Warum sich Friedas Zustand dieses Privilegs zum Trotz nach einigen Tagen jedoch verschlechterte, vermochte Erika nicht zu sagen. Eines Abends kam Jette mit besorgtem Gesichtsausdruck zu Erika.

»Misi Erika, Sie doch haben Erfahrung mit Krankheiten?« Als Erika bejahte, führte Jette sie in das Schlafzimmer der Hausherrin. Diese lag scheinbar schlafend im Bett, bei genauer Betrachtung erkannte Erika jedoch den ungesunden fiebrigen Glanz ihrer Haut. Besorgt warf sie schnell einen Blick in das Körbchen, in dem die kleine Gemma schlief. Das Baby war bereits kurz nach Geburt einer schwarzen Amme übergeben worden, an deren vollen Brüste es auch stets genüsslich nuckelte. Das Kind sah wohlgenährt und gesund aus.

»Misi, schauen Sie bitte.« Jette schlug vorsichtig die leichte Bettdecke zurück, und Erika erschrak. Die Beine von Frieda van Drag waren rot und prall geschwollen.

»Filariose?«, fragte Jette mit Tränen in den Augen.

Erika nickte verdrossen. Man brauchte kein Arzt zu sein, um die beiden gefürchtetsten Krankheiten des Landes zu erkennen. Neben Lepra war die Filariose wohl die größte Geißel der Region, Erika hatte in der Krankenstation einige betroffene Patienten behandelt. Die Krankheit bedingte fürchterliche Schwellungen der Beine, auch Bimba-Beine genannt, die einen Menschen schrecklich entstellten und seine Beweglichkeit extrem einschränkten. Ganz abgesehen von den schweren Fieberschüben, die den Kranken mehrmals im Jahr auszehrten. Man konnte die Krankheit lindern, aber eine Heilung war unmöglich. Frieda van Drag würde nie wieder genesen, das war Erika sofort klar. Sie wies Jette an, kalte Wickel zu besorgen und ließ Gemma zu ihrer Amme bringen. Die Übertragung von Mensch zu Mensch war zwar unwahrscheinlich, man vermutete die Mücke als Verursacher der Krankheit, aber Erika wollte kein Risiko eingehen.

Auch Ernst van Drag zeigte sich bestürzt, als er die schlechte Nachricht am Abend von Erika entgegennahm. Er wusste sehr wohl, was das bedeutete. Eine auf ewig pflegebedürftige Frau im Haus und ... eine Beendigung der ehelichen Beziehung. In der Stadt hatte Erika einige Frauen mit dieser Krankheit unter den Patienten der Station gehabt. Unter vorgehaltener Hand hatte Erika erfahren, dass auch Männer an Filariose erkrankten. Allerdings waren bei ihnen nicht nur die Beine betroffen, sondern auch ... Erika hatte wenige Male Männer gesehen, die sich schleppend in weiten Röcken bewegten. Ohne Frage war das für jeden Mann ein Graus.

Gemma würde also das letzte Kind der van Drags sein. Wobei Resa das nur trocken mit »... Na, dreizehn reichen ja auch« kommentierte.

Erika übernahm fortan nicht nur die Aufsicht über die Kinder, sie kümmerte sich auch um Frieda van Drags Pflege. Diese erholte sich, dank Kräuterwickel und fiebersenkender Tees, recht schnell, versank aber in eine tiefe Depression, als sie gewahr wurde, wie es um sie stand.

»Mevrouw, es gibt genug Menschen, die mit dieser Krankheit noch lange gut leben«, versuchte Erika sie zu beschwichtigen.

Und ihre Worte entsprachen sogar der Wahrheit. Zwischen den Schüben waren die Betroffenen, abgesehen von den geschwollenen Gliedmaßen, durchaus frei von Beschwerden und konnten am täglichen Leben teilhaben. Frieda van Drag aber befürchtete gleich das Schlimmste. Außerdem traute sie sich mit ihren geschwollenen Beinen nicht mehr unter das Volk und fürchtete um ihre Stellung in der Gesellschaft.

Nach Ablauf ihrer Wöchnerinnenzeit war sie nur schwer aus dem Bett zu bewegen, und bei ihren seltenen Besuchen im unteren Stockwerk des Hauses zeigte sie sich mürrisch und vor allem den Kindern gegenüber gereizt. Erika versuchte, die Schar möglichst im Zaum zu halten und immer nur ein oder zwei der Kinder zu ihrer Mutter zu lassen, um deren Nerven nicht überzustrapazieren. Die Kinder, die schon lange genug auf ihre Mutter hatten verzichten müssen, verstanden natürlich nicht, warum diese, trotz Gemmas Geburt, weiterhin leidend war. Erika versuchte, den Größeren schonend zu erklären, was mit ihrer Mutter los war. Dabei bedachte sie nicht, dass ihnen diese Krankheit durch Sklavenfrauen durchaus ein Begriff war. Geert wandte sich sofort angewidert ab und nuschelte seinem Bruder Harm zu, er würde fortan nicht mehr zu seiner Mutter gehen, das sei ja ekelig. Erika war entsetzt, das hatte sie nicht gewollt. Edith und Anka weinten gleich los. Beschwichtigend versuchte sie, den Jungen und auch den zartbesaiteten Mädchen zu erklären, dass sie sich ihrer Mutter ruhig nähern durften. Insgeheim war sich Erika sicher, dass die Gefahr von innigen Zärtlichkeiten zwischen Mutter und Kindern sowieso nicht gegeben war. Frieda van Drag hielt eine kühle Distanz zu ihren Sprösslingen.

Im Hause van Drag gab es jedoch bald noch zusätzliche Unbill. Die Kinder erkrankten an einer Magen-Darm-Verstimmung, die Erika und die Haussklaven bis zur Erschöpfung forderte. Alle außer der kleinen Gemma, Erika dankte Gott, dass er das Baby verschonte, lagen mit Erbrechen und Durchfall danieder und jammerten um die Wette. Erika brachte Reiner vorsorglich bei den Deutschen unter, damit er sich nicht auch noch ansteckte.

Als sie am späten Nachmittag vom Krankenlager der beiden Mädchen kam, wischte sie sich erschöpft den Schweiß von der Stirn. Im Wirtschaftsbereich des Hauses kochten Jette und Lore seit Tagen stets Tücher und Wäsche aus, um der Infektion Einhalt zu gebieten. Besorgt schaute Jette auf Erikas beschmutztes Hauskleid.

»Misi Erika muss sich umziehen, geben Sie das Kleid mir, kommt gleich mit in den Topf.«

Betroffen schaute Erika an sich herab. Einige große Spuckflecken zierten ihren grauen Hausrock. Es war ihr letztes sauberes Kleid gewesen, die anderen hingen noch zum Trocken aus. Bei der tropisch schwülen Luft konnte das aber dauern.

»Ich habe nichts mehr zum Anziehen!« Erschöpft ließ sie sich auf einen Stuhl fallen.

Jette lachte. »Kein Problem Misi, ich geh Misi was holen.« Bevor Erika was erwidern konnte, lief Jette los. Kurze Zeit später kam sie mit einem bunten Sklaventuch wieder. Erika schüttelte nur den Kopf. »Jette, ich kann doch nicht ...«

»Na, Misi kann auch nicht nackt laufen.«

Jette hatte recht, und für ein paar Stunden sollte es wohl gehen. Erika sehnte sich nach frischer, sauberer Kleidung. Frieda ruhte in ihrem Zimmer, und auch die Kinder waren vor Erschöpfung allesamt eingenickt. Erika nahm also das Tuch der Sklavin und verschwand in ihrem Zimmer. Nachdem sie sich gewaschen hatte, versuchte sie, ihren Körper in das Sklavenkleid zu wickeln. Es gelang ihr nach mehreren Versuchen schließlich, den Stoff, der weder Haken noch Ösen hatte, zum Halten zu bringen. Zwar blieb eine Schulter unbedeckt, was ihr gleich eine peinliche Röte ins Gesicht schießen ließ, aber der kühle Stoff war zu Erikas Erstaunen bei diesen Temperaturen luftiger und angenehmer als jedes andere Kleidungsstück. Nun musste sie nur noch ihr verschmutztes Kleid zur Wäschekammer in den Kochkessel bringen. Sie spähte durch die Tür, im Haus war alles still. Schnell lief sie barfüßig durch den Flur.

Jette nahm Erikas Kleid entgegen und lächelte wohlwollend, als sie Erika sah. »Misi sehen gut aus.« Sie zupfte noch einen Knoten an Erikas Schulter zurecht und zwinkerte ihr fröhlich zu. Erika schämte sich jedoch.

Aber damit nicht genug: Ein Mädchen kam in die Wäschekammer, stutzte bei Erikas Anblick im bunten Tuch kurz und vermeldete dann, Masra Ernst wünsche über den Zustand seiner Kinder informiert zu werden. Erika schluckte. Sie konnte doch nicht so ...

Aber es konnte noch dauern, bis sie etwas Trockenes zum Anziehen hatte, und sie wollte Ernst van Drag auf keinen Fall verärgern. Er war es gewohnt, dass seinen Anweisungen sofort Folge geleistet wurde. Also seufzte Erika. »Wo finde ich den Masra?«

»Auf der Veranda.« Das Mädchen lief kichernd davon.

Erika straffte sich und machte sich auf den Weg. Als sie nach draußen trat, starrte Ernst van Drag sie einen kurzen Moment verwirrt an. Sofort setzte sie zu einer Entschuldigung an: »Die Kinder, es wird zwar besser, aber ich hatte nichts Sauberes mehr zum Anziehen.« Sie wusste nicht, ob der starre Blick von Ernst van Drag Tadel sprach oder gar Verachtung. Beschämt senkte sie den Blick, dabei wurde sie gewahr, dass sie auch noch barfuß war. Welch eine Verfehlung! Nun würde sie bestimmt Ärger mit dem Hausherrn bekommen.

Dass der Blick des Masra lüstern zu glänzen begann, als er die zarte weiße Haut ihrer Schultern im rötlichen Abendlicht schimmern sah, und ihn das exotische Gewand an der an sich so züchtigen und tugendhaften Erika eher zu erregen als zu verärgern schien, bemerkte sie nicht.