Kapitel 7

Julie starrte auf die Straße vor dem Haus. Seit einem Tag war sie nun in der Stadt, aber vor die Tür getraut hatte sie sich noch nicht. War es überhaupt standesgemäß, allein das Haus zu verlassen? Natürlich hätte sie Foni bitten können, sie zu begleiten, oder Hedam, den alten, gebeugten Haussklaven. Draußen sah sie ab und an Frauen in schicken kleinen Kutschen vorbeifahren, die Dienerschaft lief stets zu Fuß hinterher. Aber zum einen wusste sie nicht, wo sie eine Droschke hätte bestellen sollen, zum anderen hätte sie dem Fahrer auch kein Ziel nennen können. Und zu Fuß, zu Fuß sah man die Weißen gar nicht. Also würde Julie auffallen, wenn sie einfach so auf der Straße spazieren ging. Es zog sie jedoch nach draußen, sie wollte endlich etwas von dieser Stadt sehen.

Als am Nachmittag ein Besucher gemeldet wurde, war sie fast überrascht. Von Martina und Pieter hatte sie seit ihrer Ankunft nichts gehört, waren sie jetzt etwa gekommen? Schnell machte Julie sich frisch und eilte nach unten. Dort stand Jean Riard in der Eingangshalle. Ihr Herz blieb für einen Moment stehen, und ihre Wangen begannen zu glühen.

»Mevrouw Leevken, ich freue mich, Sie zu sehen.« Galant nahm er ihre Hand und hauchte einen Kuss auf deren Rücken. Julie musste lächeln, so förmlich war er auf der Plantage nie gewesen. Und auch nie so gut gekleidet, wie sie jetzt freudig bemerkte. Hatte er auf Rozenburg eher praktische Baumwollhemden getragen, stand er nun im Jackett vor ihr, sein blondes Haar war adrett zurückgekämmt, die blauen Augen leuchteten schelmisch. Julies Herz machte einen Sprung.

»Mevrouw Leevken, ich habe mir gedacht, Sie würden vielleicht gern etwas von der Stadt sehen. Ich habe eine Droschke mitgebracht, also wenn Sie Zeit hätten, würde ich mich über Ihre Begleitung freuen.«

»Natürlich habe ich Zeit.« Julie ließ sich schnell von Foni Sonnenschirm, Hut und Handschuhe reichen und folgte dem jungen Mann an seinem Arm die Treppen hinunter zur Droschke.

Paramaribo war der Inbegriff einer florierenden Kolonialstadt. Auf den Straßen tummelten sich Menschen vielerlei Hautfarbe. Stimmen- und Sprachgewirr drängten an Julies Ohren: die Rufe der Händler, die aus kleinen Läden ihre Waren feilboten, das Geschnatter der Sklavenfrauen, die sich in kleinen Grüppchen am Straßenrand trafen, das Gejauchze von halb nackten farbigen Kindern, die über die Straßen tollten. Julie sog diese ganze Stimmung in sich ein – wie einsam und still war es doch auf der Plantage gewesen! Zwar hatte Julie nie in einer größeren Stadt gelebt und bis auf den Markttag war auch in dem kleinen beschaulichen Elburg in den Niederlanden nicht viel losgewesen, aber die bloße Anwesenheit der vielen Menschen bot eine betörende Abwechslung zu dem gleichmäßigen Alltag mit immer denselben Menschen auf der Plantage.

Kiri folgte der Droschke zu Fuß. Das war wiederum nicht schwer, denn Jean Riard hatte den Kutscher angewiesen, langsam zu fahren. Julie war ihm für seine Umsicht dankbar, schließlich konnte sie nicht ganz allein mit dem jungen Mann durch die Stadt fahren. Sie glaubte zwar nicht, dass sich jemand an sie erinnern oder sie gar erkennen würde, aber man konnte schließlich nie wissen.

Vielleicht gab es ja sogar die Möglichkeit, Erika und Wilma wiederzusehen. Wenn sie nur wüsste, wo sie sie suchen musste ... Erika war vielleicht in der Mission, danach konnte sie Herrn Riard fragen. Aber Wilma? Die Stadt war ja nicht gerade klein.

Sie war froh, dass Riard sich an sein Versprechen erinnert hatte und sie nun durch die Stadt führte. Sonst hätte die Einsamkeit der Plantage sie vielleicht sogar in der Stadt eingeholt. Julie bestaunte Kirchen und Synagogen, alte Kolonialbauten und neue Gebäude. Riard erzählte von zwei großen Bränden, die ein paar Jahrzehnte zuvor die Stadt heimgesucht hatten und in deren Folge viele Neubauten entstanden waren. Julie lauschte ihm andächtig. Der Buchhalter hatte auf sie zwar auf der Plantage schon recht gebildet gewirkt, hier aber zeigte er sich mit Leidenschaft als Fremdenführer und wusste so manches zu erzählen. So wies er Julie gerade augenzwinkernd auf eine wichtige Bedeutung der kunstvoll geschlungenen Kopftücher der Sklavinnen hin. Da es ihnen verboten war, öffentlich über ihre Herren zu sprechen oder untereinander auf der Straße zu enge Beziehungen zu pflegen, nutzten sie ihre Kopfbedeckungen als Kommunikationsmittel. Angeblich zeigten sie wichtige Ereignisse im Leben der Trägerin an, wie zum Beispiel Geburten, Todesfälle, Familienstand oder Alter, aber auch die entsprechende Stimmung. Jean Riard deutete auf eine Frau am Straßenrand, deren Tuch zu mehreren Spitzen gefaltet war.

»Das heißt Lass mich in Ruhe«, lachte er, »das kenne ich noch von meiner Amme aus Kinderzeiten.«

Julie konnte kaum glauben, was sie da hörte, aber als sie genauer darauf achtete, wie unterschiedlich die Tücher geknotet, geschlagen und gebunden waren ...

Jean Riard ließ die Kutsche an einer weitläufigen Grünanlage halten, von hier an gingen sie zu Fuß. Kiri eilte sich, Julie den Schirm zu tragen; allen Damen, denen sie begegneten, folgte stets auf Schritt und Tritt eine Sklavin. Zweifelsohne bemühte sich Kiri dabei aber, ihrer Misi nicht zu sehr auf den Leib zu rücken, und schon bald brach ihr der Schweiß aus, weil sie mit langem Arm den Schirm über Julies Kopf zu halten versuchte. Unter den hohen Bäumen des Parks war es angenehm schattig, und vom Fluss wehte eine frische Briese, die die stickige Stadtluft verdünnte.

Julie schritt schweigend neben Riard her. Inzwischen deutete er nur noch ab und an auf einen Vogel oder einen Strauch und gab sein Wissen dazu preis. Vielmehr konzentrierte er seine Aufmerksamkeit jetzt auf Julie, ließ seinen Blick länger auf ihr ruhen und lächelte sie fast zärtlich an. Ganz selbstverständlich hatte Julie sich bei ihm untergehakt.

Auf einer Bank legten sie eine Rast ein. »Ich ...«, Riard faltete verlegen die Hände im Schoß, »... ich würde mich freuen, wenn ich Sie nochmals besuchen dürfte, solange Sie in der Stadt verweilen«, sagte er langsam.

»Aber natürlich!« Seine Verlegenheit rührte ihr Herz. Hatte er eben noch so offen mit ihr geplaudert, schien ihm jetzt diese Frage nur zögerlich über die Lippen zu kommen. »Ich würde mich freuen, ich bin doch schließlich allein momentan«, sagte Julie scherzhaft, in dem Versuch, ihn zu entspannen.

Er wiegte den Kopf. »Hm, ja eben. Ich möchte Sie ja nicht ... in eine verwerfliche Situation bringen. Mijnheer Leevken ...«

»Ach, Mijnheer Riard, ich glaube nicht, dass es ein Problem ist, wenn Sie mir, als Buchhalter unserer Plantage, die Ehre erweisen, mir die Stadt zu zeigen.« Sie zwinkerte ihm fröhlich zu und fügte flüsternd, mit einem verschwörerischen Unterton, hinzu: »Und Karl ist nicht da, und wenn er in die Stadt kommt ... er muss es ja nicht wissen. Außerdem sind wir nicht allein.« Sie deutete auf Kiri, die sich etwas abseits unter einem Baum in den Schatten gesetzt hatte.

Dem jungen Buchhalter schien es Sorge zu bereiten, vor seinem Arbeitgeber nun ein Geheimnis zu haben. Aber andererseits wäre es auch unhöflich gewesen, dessen Frau den Wunsch nach Gesellschaft abzuschlagen. Seine Augen glänzten glücklich. »Dann darf ich Sie morgen wieder abholen?«

Am nächsten Tag war es aber nicht Riard, der als Besucher im Stadthaus erschien, sondern Martina.

»Juliette, Tante Valerie meint, es sei an der Zeit, dass sie dich endlich persönlich kennenlernt, wo sie doch ... wir doch nun die Hochzeit gemeinsam planen.« Martina widerstrebte es deutlich, Julie diese Nachricht zu überbringen, aber sie war an die Abmachung gebunden. Valerie würde in die Planungen miteinbezogen, solange Karl den Eindruck hatte, die Hoheit über die Hochzeitsplanungen läge bei Julie. Martina hatte inzwischen offensichtlich eingesehen, dass dies der einzige Weg war, ihre Tante einzubinden – und dass es besser war, ihren Vater nicht noch weiter zu vergrämen.

»Gern.« Julie versuchte ein Lächeln. Innerlich krampfte sich aber ihr Magen vor aufsteigender Nervosität zusammen. Nun würde sie die Familie von Karls ehemaliger Frau kennenlernen. Julie hatte sich immer eingeredet, das sei nicht so schlimm, aber jetzt, wo es unmittelbar bevorstand, bekam sie doch Angst. Wie würden diese Leute auf sie reagieren? Was hatte sie sich da nur eingebrockt? Die Fiamonds waren schließlich eine der wohlhabendsten und angesehensten Familien in Paramaribo. Sie schluckte. Sie würde die Situation schon meistern, schließlich hatte sie diesen Vorschlag gemacht.

»Morgen zum Tee«, beschied Martina sie knapp und verschwand.

Julie blieb mit einem Kloß im Hals zurück. Als Riard kurz danach kam, um sie wie verabredet abzuholen, war sie nicht ganz so bei der Sache wie am Tag zuvor. Immer und immer wieder schweiften ihre Gedanken zum Treffen am nächsten Tag.

»Ist Ihnen nicht gut?« Er sah sie besorgt an, als Julie zum wiederholten Male nicht auf seine Ansprache reagierte. Sie schüttelte schnell den Kopf.

»Doch, doch, alles gut. Es ist nur ... morgen soll ich zu den Fiamonds kommen, um Martinas Tante Valerie kennenzulernen.«

Riard hob fragend die Augenbrauen. »Aber so war es doch geplant, oder?«

»Ja.« Julie seufzte, »aber ein bisschen Angst habe ich schon.«

»Da machen Sie sich mal keine Sorgen, die werden Sie schon nicht beißen ...« Riard warf Julie einen aufmunternden Blick zu.

Diese schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Er war wirklich ein Freund. Der einzige, den sie momentan hatte.

Plötzlich fiel ihr Blick auf eine Frau am Straßenrand, gekleidet in der schlichten Tracht der Herrnhuter. Julie erinnerte sich schlagartig an Erika. »Halt! Halt, bitte, können wir anhalten?«, rief sie aufgeregt.

Riard deutete dem Kutscher, den Wagen anzuhalten, und Julie sprang heraus. Mit gerafftem Rock lief sie der Frau hinterher.

»Entschuldigen Sie! Mevrouw, Entschuldigung!« Atemlos erreichte sie die Frau.

Diese blieb verwundert stehen. »Ja?«

»Es tut mir leid, dass ich Sie so überfalle, aber kennen Sie eine Erika Berg ... Bergmann?«

»Aber ja.« Die Frau lächelte freundlich.

»Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich ... Lebt sie hier in der Stadt?«

»Oh, da muss ich Sie enttäuschen«, sagte die Frau entschuldigend, »Mevrouw Bergmann ist vor einiger Zeit in das Hinterland gereist. Ich weiß allerdings nicht, wann wir sie zurückerwarten können.«

Julie musste sich zusammenreißen, um nicht allzu enttäuscht zu wirken. »Schade! Aber danke für die Information.« Sie verabschiedete sich nachdenklich von der Frau und ging zurück zur Droschke, wo Riard sie mit einem neugierigen Blick empfing.

»Wer war denn das?«

»Ach, ich habe damals auf dem Schiff eine junge Frau kennengelernt und ich dachte ... Aber sie ist nicht mehr in der Stadt.« Julie war ehrlich enttäuscht. »Schade.« Seine Stimme war voller Mitgefühl. »Ja, sehr schade, ich hätte sie gern wiedergetroffen.«

Später am Abend ließ Julie sich von Kiri verschiedene Kleider herauslegen. Nachdenklich musterte sie die Auswahl, sie war unentschlossen, welches sie bei ihrem Besuch bei den Fiamonds tragen sollte. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Warum beschäftigte sie die Sache so sehr? Es ging doch schließlich um Martinas Hochzeit. Julie wusste, dass dieser Erklärungsversuch nur vorgeschoben war, insgeheim gestand sie sich ein, dass sie immer das Gefühl hatte, mit Felice mithalten zu müssen. Felice, die geheimnisvolle erste Frau ihres Mannes, Felice, die geliebte Mutter ihrer Stieftochter. Aber wem wollte sie eigentlich etwas beweisen? Karl hatte sich nicht unbedingt als liebevoller und treusorgender Ehemann entpuppt, und Martina war nach wie vor eine Katze. Haschte Julie immer noch nach Anerkennung? Es schmerzte sie schon, dass die Ehe mit Karl sich nicht so entwickelt hatte, wie zunächst erhofft. Aber ihren Gram darüber hatte sie schnell zu vergessen versucht und sich auf andere Dinge konzentriert. Auf die Sklaven der Plantage, auf Kiri ... auf Jean Riard! Diese Menschen lagen ihr inzwischen wirklich am Herzen und waren eine Art Ersatzfamilie für sie geworden. Aber jetzt, hier in der Stadt, traf sie mit unverhohlener Kraft die Erkenntnis, dass sie die nächsten Jahre als schmuckes Beiwerk eines Mannes leben würde, den sie weder liebte noch begehrte.

Julie ließ sich aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Dass dabei einige der Kleider, die Kiri sorgsam dort ausgebreitet hatte, zerknitterten, störte sie nicht weiter.

Ihre Gedanken schweiften ab. Was wäre, wenn sie ohne Karl in dieses Land gekommen wäre? Das wäre natürlich ein Unding gewesen, aber angenommen es wäre so, oder sie wäre gar hier heimisch gewesen, hätte einen attraktiven Mann in einem ihr angemessenen Alter kennengelernt ... einen Mann wie Jean Riard? Kurz verlor Julie sich in der Vorstellung, Jean Riard wäre an Karls Stelle, vielleicht hätte sie inzwischen eine eigene, kleine, glückliche Familie gegründet? Familie? Ruckartig setzte sie sich auf und schalt sich ihrer Gedanken. Er war ihr als verheiratete Frau so fern wie Surinam Europa. Sie durfte nicht einmal daran denken, dass ... Aber gleich sprangen ihre Gedanken wieder zu seinen blauen Augen und seinen kleinen Lachgrübchen. Gestern hatte sie ihm aufgrund ihrer Sorge über das nahende Treffen mit Valerie kaum folgen können, jetzt konnte sie sich nicht auf dieses Treffen konzentrieren, weil ihre Gedanken ständig zu Jean Riard wanderten. Was war nur los mit ihr? Sie fühlte sich erschöpft und fiebrig.

Die Droschke fuhr dieses Mal schnell durch die Straßen der Stadt. Sie war vom Hause Fiamond geschickt worden, und Julie hatte Kiri angewiesen, daheim zu bleiben, was Foni mit einem nachdenklichen Blick quittiert hatte. Julie betrachtete neugierig die Umgebung. Einige Straßen kannte sie bereits, hier war sie mit Riard gewesen, aber dann gelangten sie in ein ihr unbekanntes Viertel. Die Straße war breiter, der feine Muschelsand glänzte weiß und sauber in der Sonne, und hier und da beobachtete sie kleine Sklavenjungen, die die Wege vor den Häusern mit Palmenbesen reinigten. Vor ziemlich großen Häusern, stellte Julie erstaunt fest – alle Gebäude waren durchweg imposant und nicht so dicht aneinandergebaut wie in der Keizerstraat. Dies hier war eine bevorzugte Wohngegend – eine Erkenntnis, die ihre Nervosität noch verstärkte. Dann bog die Droschke durch das Nebentor eines gepflegten Anwesens, durchfuhr einen Palmengarten und kam zum Stehen.

Noch während Julie ausstieg, erschien Martina in der Haustür und begrüßte sie. »Tante Valerie wartet schon«, sagte sie fröhlich.

Julie atmete tief durch und folgte ihrer Stieftochter. Diese bewegte sich selbstsicher durch das Haus. Vermutlich hat sie hier in ihrer Kindheit mehr Zeit als auf Rozenburg verbracht, kam es Julie in den Sinn. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie Martina als kleines Mädchen mit wehendem Kleidchen durch diese Flure gelaufen war. Oder besser gesagt »gegangen«, dies waren Flure, durch die man nicht lief, nicht einmal als Kind. Julie fühlte sich ähnlich eingeschüchtert, wie damals bei den Besuchen im Haus ihres Onkels. Dort hatte sie stets still sein müssen, man hatte sich nur leise zu bewegen und zu sprechen. Nur ihr Cousin hatte diese Regeln regelmäßig missachtet, was ihn mehr als einmal zur Zielscheibe seiner Mutter gemacht hatte. Tante Margret. Julie erschauerte, hoffentlich traf sie bei Valerie Fiamond nicht ausgerechnet auf diesen Typ Tante.

Martina führte Julie in einen hellen und freundlich eingerichteten Damensalon. An einem Tisch, auf dem bereits feinstes Porzellan gedeckt war, saß eine Frau.

»Tante Valerie, das ist Juliette.« Martina hatte zumindest einen halbwegs höflichen Tonfall angeschlagen.

Die Frau erhob sich und trat engelsgleich auf Julie zu. Julie war vom ersten Augenblick in ihren Bann gezogen und konnte den Blick kaum von ihr wenden. Valerie Fiamond war etwas größer als Julie, ihr sandblondes Haar war kunstvoll und etwas altmodisch hochgesteckt, und ihr grünes Kleid aus feinster Seide gab nicht das leiseste Knistern von sich. Diese Frau war wunderschön! Aber nicht allein ihre Schönheit zog Julie in ihren Bann. Die Frau wirkte grundgütig und liebenswürdig, sie war umgeben von einer Aura von Gutmütigkeit, und es schien, als könne sie niemandem etwas zu Leide tun. Julie fühlte sich in ihrer Nähe sofort wohl und schalt sich ob der Zweifel, die sie vor diesem Besuch gehegt hatte. Nun suchten Valeries grüne Augen freundlich Blickkontakt zu Julie, als sie ihr die Hand reichte.

»Juliette, es freut mich ausgesprochen, Sie endlich persönlich kennenzulernen«, sagte sie mit warmer, weicher Stimme. »Meine Mutter lässt sich entschuldigen, sie fühlt sich nicht gut.« Sie deutete auf den Tisch. »Kommen Sie, setzen wir uns. Ich habe ja schon so viel von Ihnen gehört, nachdem sich auf dem Empfang nie die Gelegenheit ergab, ein paar Worte zu wechseln.«

Julie lag eine verächtliche Bemerkung auf der Zunge: Von Martina? Dann bestimmt nichts Gutes! Aber in Anbetracht der Aufrichtigkeit dieser Frau besann sie sich auf eine höfliche Antwort. »Es freut mich ebenfalls.« Diese Frau würde sich sicher ihr eigenes Urteil bilden.

Julie war sich sicher, dass Valerie Fiamond die angespannte Stimmung zwischen ihr und Martina bemerkt hatte, sie ließ sich allerdings nichts anmerken. Stattdessen führte sie die beiden jungen Frauen nun zum Tisch und begann alsbald ein Gespräch über belanglose Dinge, das allen bei der Akklimatisierung half. Julie war ihr dankbar für diese Umsicht, nicht nur ihrer selbst willen. Für Martina musste es anstrengend sein, diese beiden Frauen jetzt gleichzeitig um sich zu haben: zum einen den geliebten Mutterersatz, zum anderen die verhasste Stiefmutter. Julie bewunderte Valeries Umgang mit der Situation. Diese Frau war wirklich beeindruckend.

Bald lenkte Valerie das Gespräch auf die Hochzeit. Die Vorbereitungen liefen hervorragend, Valerie hatte das Meiste bereits in die Wege geleitet, sie hatte sogar zusätzliche Köchinnen ausgesucht, weiteres Personal organisiert und einen Mann namens Ivon Cornet für die Organisation und Dekoration engagiert. Diesen stellte sie Julie zu ihrer Verwunderung auch gleich vor.

»Wir haben nur noch so wenig Zeit, da ist es besser, jemand kümmert sich umfassend um die Hochzeit, Ivon ist der perfekte Mann dafür!«

Julie musste Valerie in puncto Eile recht geben. Der ungewohnt weibisch anmutende Franzose umschwirrte die Frauen im weiteren Verlauf des Nachmittags wie eine Motte das Licht. Julie war das nicht unangenehm, und sie musste zugeben, das er nicht nur einen guten Geschmack hatte, sondern auch sehr amüsant war.

Zu Julies Erleichterung bezog Valerie sie gleich in alle Belange mit ein. So war Julie auf dem Laufenden, musste aber im Grunde nicht viel mehr tun, als den Vorschlägen zuzustimmen. Karl würde später gar nicht bemerken, wer in Wirklichkeit die Fäden im Hintergrund gesponnen hatte. Valerie gab Julie augenzwinkernd zu verstehen, dass sie dies durchaus guthieß und kein Problem damit hatte, später nicht die Früchte ihrer Bemühungen zu ernten.

»Ach was«, meinte sie lapidar, »Hauptsache, Martina hat eine schöne Hochzeit. Das ... das bin ich Felice schuldig.«

Bisher hatte sie ihre Schwester mit keiner Silbe erwähnt, und Julie hütete sich davor, Fragen zu stellen. Doch Valeries schuldvoller Blick in diesem Moment kitzelte Julies Neugier wach. Wer war diese Frau gewesen?

Julie blieb allerdings nicht viel Zeit, darüber zu grübeln, denn schon am nächsten Tag besprachen sie bei Valerie die Blumenbuketts und die Dekoration, außerdem würde Karl am Abend eintreffen. Trotz der Anwesenheit seiner Familie in der Stadt, wollte er anscheinend nicht auf seine wöchentlichen Besuche dort verzichten.

Julie vergrämte sein Kommen die Freude an ihrem Stadtbesuch. Sie hatte schon zwei wundervolle Nachmittage mit dem jungen Buchhalter verbracht, und auch die Treffen mit Martina und Valerie liefen besser als erhofft. Wenn Karl nun eintraf, mussten sich alle während seiner Anwesenheit verstellen. Also packte Martina ihre Sachen und zog, gefolgt von Liv, ins Stadthaus zu Julie. Schließlich konnte sie nicht bei der Familie ihrer Mutter wohnen, wenn ihr Vater in der Stadt war. Pieter hatte sich derweil abgesetzt und einen Kurzbesuch bei einem alten Freund angetreten. Julie vermutete, dass die

Hochzeitsvorbereitungen schon an seinen Nerven zehrten. Aber so kam sie jetzt zumindest nicht in die unangenehme Situation, das Stadthaus mit ihm teilen zu müssen. Martinas Laune allerdings war daher ebenso getrübt wie die von Julie.

Karl traf am späten Nachmittag ein. Julie und Martina hatten sich über die Einzelheiten zur Hochzeit abgesprochen – nicht, dass sich eine von ihnen noch verplapperte!

Am nächsten Morgen zeigte Karl daran aber wenig Interesse. Mit mürrischem Gesicht saß er am Tisch und lauschte Martinas Ausführungen mehr oder weniger ungeduldig. Er schien nicht einmal überrascht zu sein, dass Julie es geschafft hatte, sich in so kurzer Zeit um Köchinnen und Personal zu kümmern. Umso mehr schien er sich aber darüber zu ärgern, seinen zukünftigen Schwiegersohn nicht in der Stadt anzutreffen. Erst bei der Erwähnung von Ivon Cornet blickte Karl kurz irritiert auf »Ivo ... wer?«

Martina versicherte ihm sofort, dass dieser junge Mann ihr wärmstens von einer ehemaligen Schulfreundin empfohlen worden sei. Er sei momentan der beste Organisator von Festen in ganz Surinam. Er habe sogar schon für die Tochter des Gouverneurs gearbeitet.

»Was das alles kostet!« Karl zog verärgert die Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts weiter. Alsbald verabschiedete er sich, ließ sich von Foni Hut und Jacke reichen und verkündete, es könne spät werden am Abend, man bräuchte mit dem Essen nicht auf ihn zu warten. Martina und Julie atmeten gleichzeitig erleichtert auf.

Julie packte die Gelegenheit beim Schopf, schließlich galt es, wichtige Dinge zu erfahren. Kaum hatte Karl das Haus verlassen, rief sie nach Kiri und nahm sie beiseite. »Folge dem Masra, ich will wissen, was er den Tag über so treibt.«