Kapitel 1

Julie beobachtete einen kleinen, zierlichen Vogel, der sich in der Luft fast stehend an den Orangenblüten im Garten labte. Bis zu Martinas Hochzeit waren es nur noch wenige Wochen. Auf Karls Geheiß hatte Julie artig Dutzende von Einladungen geschrieben und sie zwei extra dafür von der Feldarbeit abkommandierten Sklaven überreicht, die sich auf die tagelange Reise flussauf- und -abwärts begeben hatten, um die Briefe zu ihren Empfängern zu bringen.

Bei ihrer Rückkehr hatten sie einen stattlichen Stapel an Zusagen im Gepäck. Bei dem Gedanken, bald so viele Menschen auf Rozenburg unterbringen zu müssen, wurde Julie ganz flau im Magen. Martina schmollte immer noch, da Karl keinen Millimeter von seiner Forderung abwich, Julie solle die Hochzeit organisieren. Nun waren immerhin die Einladungen verteilt, trotzdem blieb noch viel zu tun.

Julie kritzelte lustlos auf einem Blatt Papier herum, das eigentlich mit Notizen zum Hochzeitsessen versehen werden sollte. Nachdem Amru ihr aber ausführlich ihre Pläne dazu dargelegt hatte, hatte Julie auch hier nicht mehr viel zu tun. Und selbst wenn – würde sie es aufschreiben, müsste sie es Amru sowieso vorlesen. Julie hatte keinerlei Erfahrung in diesen Dingen, und außerdem war Martinas Schweigen in ihre Richtung auch keine große Hilfe.

Über die Bewirtung der Hochzeitsgäste machte sich Julie die wenigsten Sorgen. Amru hatte den Überblick. Alles in allem kümmerten sich viele stille Helfer um das Geschehen. Julie war froh darüber – und den Haussklaven sehr dankbar, dass sie so geschlossen hinter ihr standen. Es schien ihnen nichts auszumachen, dass ihre Herrin sich nicht so einbringen konnte, wie sie es hätte tun sollen. Als Vermittlerin fungierte Kiri. Sie brachte Julie immer auf den neuesten Stand, den Julie dann Karl berichten konnte, so hatte es wenigstens den Anschein, als hätte sie den Überblick. Karl nickte meist zufrieden und ließ Julie gewähren.

Wie so häufig fühlte Julie sich jetzt auf der Veranda vor ihrem Blatt Papier einsam, sie sehnte sich nach einem Gesprächspartner. Nicht nach irgendeinem, musste sie sich eingestehen ... Wenn Herr Riard doch endlich wiederkommen würde! Allein der Gedanke an ihn machte sie glücklich, sie sehnte sich danach, mit ihm auf der Veranda zu sitzen, sehnte sich nach den tiefgreifenden Gesprächen mit ihm. Sie hoffte auch im Stillen, dass er vielleicht einen Rat wusste in Bezug auf die verzwickte Lage auf der Plantage. Und doch waren ihre Gefühle zwiegespalten, hatte sich seit dem letzten Besuch etwas verändert. Sie strich sich mit der einen Hand über die andere, als könnte sie die kurze prickelnde Hitze auf der Haut, die seine Berührung hervorgerufen hatte, wieder herbeizaubern. Julie lehnte sich zurück und dachte an seine sanften Augen.

Aber der Buchhalter hatte sich nach seinem letzten Besuch kurzfristig für den folgenden Termin entschuldigen lassen und nun, in der großen Trockenzeit, war nicht ganz so viel zu tun, der Besuch des Buchhalters war nicht zwingend erforderlich. Julie hatte gehofft, ihn vielleicht zum Jahreswechsel in der Stadt treffen zu können, aber Karl hatte die Reise der Familie dorthin abgesagt, da Martina schwer mit der Schwangerschaft zu kämpfen hatte. Dauernde Übelkeit, stetiges Erbrechen – sie sah inzwischen aus wie ein Gespenst.

»In diesem Zustand kannst du sowieso auf keinen Ball gehen«, hatte Karl geknurrt.

Martina, die sonst jede Gelegenheit für einen Aufenthalt in der Stadt nutzte, hatte die Entscheidung ohne Murren hingenommen. Die meiste Zeit verbrachte sie in ihrem Zimmer, umsorgt von der fleißigen Liv, die insgeheim froh schien, dass ihre Herrin durch die Schwangerschaft etwas umgänglicher geworden war. Oder, besser gesagt, nicht mehr so viel Kraft hatte, ihre schlechte Laune an ihrer Leibsklavin auszulassen. Zwar schrie sie Liv immer noch häufig an und marterte das Mädchen mit Beschimpfungen, aber die Bestrafungen durch den Stock der Aufseher hatten deutlich abgenommen – Martina kam ja auch die meiste Zeit kaum bis in die untere Etage, geschweige denn vor die Haustür.

Karl hingegen setzte sich weiterhin jede Woche in die Stadt ab, was Julie inzwischen ärgerte.

Sie war jetzt fast ein Jahr auf der Plantage, nie hatte er auch nur gefragt, ob sie vielleicht mit in die Stadt wollte. Und Martina, die vor ihrer Schwangerschaft die eine oder andere Woche bei ihrer Tante verbracht hatte, kam für Julie als Gesellschaft nicht in Frage. Lieber hätte sie sich auf die Zunge gebissen, als Martina zu fragen, ob sie sie begleiten dürfte.

Wie gerne hätte sie noch einmal die Stadt besucht ... oder aber auch eine Plantage in einem anderen Teil des Landes. Aber viel mehr als Rozenburg, das Stadthaus und die nächsten Nachbarplantagen kannte Julie noch nicht. Sie hatte gehört, dass die Landschaft in anderen Teilen des Landes sehr vielfältig war, es gab neben dem Regenwald auch weitläufige Savannen und sogar Gebirge. Sie jedoch kannte nur das tiefe Grün, welches man von der Plantage aus sehen konnte, sowie das dunkle Wasser des Flusses, der sich unentwegt an der Plantage vorbei in Richtung Meer schob.

Julie seufzte und legte den Stift beiseite. Inzwischen dämmerte es, und Milliarden von Zikaden stimmten zum Abendkonzert an, unterbrochen von den tiefen Stimmen der Baumbewohner aus dem Wald. Nico saß auf der Balustrade der Veranda und schien ebenfalls zu lauschen. Julie atmete tief die kühle Luft der nahen Nacht ein. In der Trockenzeit sank die Temperatur tagsüber kaum, die Hitze wurde noch unerträglicher. Die Abende und die Nächte hingegen waren deutlich angenehmer.

Julie stand auf, zog sich ihr Tuch um die Schultern und verließ die Veranda in Richtung Garten. Abends verströmten einige der Pflanzen einen betörenden Duft, und große Falter umflatterten die Blüten der Orangenbäume. Kleine Kolibris schwirrten umher. Wie so häufig entschädigte die Natur dieses Landes Julie für den alltäglichen Verdruss. Die üppige, süße und bunte Pracht war nicht vergleichbar mit der Pflanzenwelt Europas. Im Geiste ging Julie die Namen der Pflanzen im Garten durch, die sie kannte. Einige hatte Jean Riard ihr benennen können, andere wiederum hatte Amru ihr in der Umgangssprache der Sklaven vorgestellt. Wie gern hätte sie auch die restlichen Bezeichnungen erfahren, sie hätte mit Vergnügen in der Stadt geschaut, ob sie ein Buch fand, welches ihr bei der Bestimmung behilflich sein konnte. Aber eine Reise dorthin lag in weiter Ferne, und sie traute sich nicht, Karl darum zu bitten, ihr etwas mitzubringen. Vielleicht könnte der junge Buchhalter beizeiten ...

Sie blieb stehen und betrachtete den Himmel, von dem die ersten Sterne leuchteten. Wenigstens in einem hatte Karl damals recht gehabt: Der Sternenhimmel über Surinam war so dunkel, und die Sterne strahlen so klar, wie Julie es nie zuvor gesehen hatte. Das Leuchten der fernen Objekte beruhigte sie immer ein wenig.

Langsam schritt sie durch die Dunkelheit zwischen den Büschen und Palmen um das Haus herum. Im Haus hatte jemand die Lichter entzündet, deren schwacher Schein Julie durch die Fenster begleitete.

Auf der hinteren Veranda war es still. Wenn Karl in der Stadt war, wurden hier keine opulenten Abendessen vorbereitet. Julie zog einen kleinen Imbiss auf der vorderen Veranda vor. Martina nahm sowieso kaum etwas zu sich, und Pieter, den Karl seit der Verkündung der Schwangerschaft aus dem Gästezimmer im Haus in ein Zimmer im Gästehaus verwiesen hatte, aß auch nicht am Tisch.

Julie setzte sich auf die Stufen der hinteren Veranda und schmunzelte. Martina hatte laut protestiert, als Pieter aus dem Haus ausquartiert worden war. Aber Karl hatte sich fürchterlich aufgeregt, immerhin war mehr als deutlich, dass er Pieter nicht so nah bei Martina hätte unterbringen sollen. Ihn zu diesem späten Zeitpunkt mit seiner Schlafstätte noch des Hauses zu verweisen, war zwar auch nicht mehr als ein hilfloser Versuch, der Hochzeit einen Hauch von Anstand zu verleihen. Pieter jedoch beugte sich brav, vermutlich hatte er Angst, seine Pläne könnten durchkreuzt werden. Julie ekelte es an, wie Pieter seinem Schwiegervater inzwischen nach dem Mund redete. Dass das alles nur Heuchelei war, schien aber niemand außer ihr zu bemerken. Pieter verfolgte einen Plan, mehr nicht.

Leise Stimme rissen sie jäh aus ihren Gedanken. Julie versuchte zu orten, woher die Stimmen kamen, konnte aber niemanden sehen.

Das war merkwürdig, denn sie wähnte die Haussklaven um diese Zeit bereits im Dorf, außerdem hätten sie beim Verlassen des Hauses an ihr vorbeigemusst. Und von den Feldsklaven würde zu so später Stunde zwischen den Wirtschaftsgebäuden am Haus auch niemand herumschleichen. Die Tiere waren versorgt – wer also konnte das sein? Als die Laute näher kamen, registrierte Julie eine tiefe Männerstimme und die eines Mädchens. Die beiden schienen zu streiten, zumindest klang die Mädchenstimme sehr hoch, während die Männerstimme nur kurze barsche Anweisungen gab.

Julie konnte im Dämmerlicht keine Personen ausmachen, meinte aber zu erkennen, dass die Stimmen von der rückwärtigen Seite der Gebäude kamen – sie näherten sich dem Gästehaus von hinten. Julie wusste, dass es dort ebenfalls eine Dienstbotentür gab. Aber da momentan nur Pieter einen der Räume bewohnte, konnte sie sich keinen Reim darauf machen, wer dort jetzt noch etwas zu schaffen hatte. Sie stand auf und huschte im Schutze der Büsche auf das Gästehaus zu. Ein kleiner Trampelpfad der Gärtner führte zwischen Hauswand und Hecken um das Gebäude. Julie hielt an und lugte vorsichtig um die Ecke. Sie sah eine große, männliche Gestalt auf der Rückseite des Gebäudes stehen, den Türflügel mit einer Hand geöffnet haltend. Mit der anderen hielt der Mann den Arm einer deutlich kleineren Person umklammert – in dem Versuch, sie durch die Tür zu zerren.

Julie überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Brauchte das Mädchen Hilfe? Es war dunkel, Amru und die Haussklaven waren bereits im Dorf, und Pieter, der würde ihr wohl kaum zur Unterstützung eilen. Julie beobachtete, wie der Mann das Mädchen in das Gästehaus zwang. Augenblicklich wich ihr leiser Protest. Kurz darauf wurde die Tür wieder aufgestoßen, und die Gestalt des Mannes verschwand im Dunkeln Richtung Sklavendorf. Dann hörte Julie über ihrem Kopf ein leises Poltern und das Klacken einer Tür im Haus. Sie sah nach oben und vernahm aus einem der Räume einen schwachen Lichtschein.

Sie tastete sich vorsichtig an der Wand entlang. Nahe bei ihr standen einige Fässer und Kisten. Wenn es ihr gelänge, dort hinaufzusteigen, könnte sie vielleicht ... Kurz zögerte sie, aber die Neugier überwog. Vielleicht war es eines der Hausmädchen, das im Gästehaus irgendetwas angestellt hatte? Vielleicht hatte Amru den Mann angewiesen, das Mädchen dahingehend zu tadeln? Sie raffte ihren Rock und stieg vorsichtig auf eine Kiste. Während sie sich leicht nach vorn beugte, konnte sie über den Rand des Fensters in das Zimmer sehen. Es brannte nur eine schwache Lampe auf einem kleinen Tisch. Julies Herz setzte einen Schlag aus, als sich plötzlich eine Person am Fenster vorbeibewegte. Pieter. Julie zuckte zurück. Hatte er sie gesehen?

»Zieh dich aus!«, hörte sie ihn jetzt befehlen.

Er war offensichtlich nicht allein im Raum. Dann vernahm Julie das leise Wimmern des Mädchens. In ihrer Brust zog sich eine kalte Faust zusammen. Sie beugte sich wieder vor und lugte über den Rand des Fensters. Und konnte nicht glauben, was sie jetzt sah: Pieter stand, nur mit einer Hose bekleidet, im Raum. Von dem Mädchen sah Julie nur eine Schulter und einen Arm und kurz, als sich die Kleine wie geheißen entkleidete, eine kleine, knospenhafte Brust. Julie wurde schlagartig gewahr, dass das Mädchen noch nicht alt sein konnte. Sie versuchte einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, drohte aber von den Kisten zu kippen. Julie sah nur aus dem Augenwinkel das Aufblitzen einer grünlichen Halskette, bevor sie sich gerade noch an das raue Holz der Wand klammern konnte, um nicht zu stürzen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Dennoch zwang sie sich, ihre Position zu stabilisieren und erneut durch das Fenster zu schauen. Das Bild brannte sich in Julies Kopf ein wie ein schlechter Traum. Pieter packte das Kind blitzschnell an den Haaren, drückte es mit der einen Hand auf die Knie, während er sich mit der anderen an seiner Hose zu schaffen machte.

Julie wollte laut schreien, brachte aber keinen Ton heraus und schlug sich nur vor Entsetzen die flache Hand vor den Mund. Sie spürte, wie die Kisten unter ihr ins Wanken gerieten und sprang instinktiv zur Seite, um nicht zu stürzen. Schnell drückte sie sich mit dem Rücken an die Hauswand und lauschte. Hoffentlich hatte Pieter das Gepolter nicht gehört! Sie wartete einen Augenblick, aber niemand kam, um nachzusehen. Hektisch überlegte sie, was sie tun sollte. Sie konnte das Mädchen da oben nicht seinem Schicksal überlassen, wusste aber, dass es keinen Zweck hatte, dazwischenzugehen. Pieter – wer wusste, was er tun würde, wenn Julie ihn auf frischer Tat ertappte?

Hastig rannte sie um das Gästehaus herum. Ihr Blick fiel auf das Gatter der Nutztiere, die leise im Dunkeln grunzten. Die Schweine! Julie rannte zum Gatter, riss es auf und brachte mit ein paar hektischen Armbewegungen die Tiere in Bewegung, die sogleich lauthals quiekend die Chance zur Freiheit nutzten. Dann stürzte Julie in Richtung Plantagenhaus, rannte über die hintere Veranda und durch den dunklen Flur in den Damensalon. Von hier aus konnte sie beobachten, was geschah. Erleichtert sah sie, dass ihre Idee Früchte trug. Durch das laute Gequieke aufgeschreckt, wurden auch die anderen Tiere unruhig, und schon sehr bald kamen die ersten Männer aus dem Sklavendorf mit Fackeln in den Händen angerannt und versuchten, die aufgebrachten Viecher wieder einzufangen. Durch den Tumult zwischen den Gebäuden und den lauten Rufen vermutlich gestört, erschien auch Pieter alsbald mit zugeknöpfter Hose in der Vordertür des Gästehauses und brüllte einige Anweisungen. Das Mädchen konnte Julie nicht entdecken, hoffte aber, dass es sich in Sicherheit hatte bringen können.

Erschöpft schlich sie sich auf ihr Zimmer. Es war wohl besser, wenn niemand mitbekam, dass sie draußen gewesen war. Sie empfand tiefe Abscheu vor Pieter: Jetzt, wo Martina unpässlich war, holte er sich bei den kleinen Sklavenmädchen, was er wollte. Julie wurde schlecht bei dem Gedanken. Welche Mädchen? Und wie oft hatten sie das wohl schon ertragen müssen? Wie konnte ein erwachsener Mann so etwas tun? Sie würde etwas unternehmen müssen ... nur was?