Kapitel 13

Als Kiri die Schreie vernahm, schreckte sie aus dem Schlaf.

»Tante Grena?« In der kleinen Hütte auf der Plantage Heerenhut bemerkte Kiri, dass Tante Grenas Matte verwaist war. Leise stand sie auf und schob den Vorhang, der die Türöffnung verschloss, ein Stück beiseite. Im Dunkeln der Nacht sah sie vereinzelt Fackeln zwischen den Hütten, Schreie kamen näher, Menschen liefen an ihr vorbei. Plötzlich wurde sie am Arm gepackt und aus der Hütte gezogen. »Tante Grena?«, rief Kiri ängstlich.

»Lauf! Sie brennen das Dorf nieder! Lauf! Versteck dich!« Grena schubste Kiri atemlos vor sich her.

Kiri rannte in den Wald, Äste schlugen ihr ins Gesicht, und harte Blätter stachen schmerzhaft in ihre Beine. Um sich herum hörte sie das Rascheln anderer Flüchtender. Je weiter sie lief, desto weiter entfernten sich die Geräusche. Tante Grena hatte sie verloren.

Irgendwann blieb Kiri stehen, sie konnte nicht mehr, ihre Lunge schien dem Zerbersten nahe. Angestrengt lauschte sie in die Nacht. Aber außer ihrem eigenen rasselnden Atem hörte sie nichts. In einem großen Bogen schlich sie zurück bis zu der Stelle, wo der Wald an die Kostäcker des kleinen Sklavendorfes der Plantage Heegenhut stieß. Beißender Rauch hing in der Luft. Die Hütten brannten. Entsetzt kauerte sich Kiri zwischen die hohen Wurzeln eines Baumes. Nun war es also wirklich passiert. Man hatte schon seit ein paar Wochen davon gemunkelt, und die anderen Sklaven waren sichtlich beunruhigt gewesen. »Damit schadet er uns allen«, hatte der alte Fura geflüstert. »Uns allen. Wir sind sein wertvollster Besitz.« Tante Grena hatte besorgt ausgesehen und schützend den Arm um Kiris Schultern gelegt.

Vor einigen Wochen hatte der weiße Masra der Plantage bei der Jagd einen Buschneger erschossen. Eigentlich hatte er den Jaguar töten wollen, der seit einigen Monaten die Gegend um die Plantage unsicher machte. Aber ob der Treffer auf den Buschneger nun Absicht gewesen war oder nicht – es war auf jeden Fall überflüssig gewesen, den Toten auch noch zu verhöhnen.

»Dann soll dieses Negerpack nicht im Wald rumschleichen«, war der einzige Kommentar des Masra gewesen.

Die Sklaven, welche die Jagd begleitet hatten, waren aufgeregt in das Dorf zurückgekehrt. Schnell hatte sich eine Atmosphäre der Angst ausgebreitet. Hier auf der Pflanzung Heegenhut, weit ab von den größeren Ansiedlungen, galt außerhalb der Plantage das Recht des Waldes. Und dort herrschten unangefochten die Buschneger. Eigentlich hegten die Plantagensklaven eine gute Beziehung zu den Buschnegern. Es war ihnen auch gestattet, Handel und Tausch mit ihnen zu treiben. So nahmen die Buschneger gerne die Früchte der Kostäcker und gaben dafür Bauholz für die Hütten. Sicherlich lebten sie seit langem offiziell in Frieden mit den Kolonisten, aber unterschwellig glomm noch immer der Groll gegen die Weißen, schließlich waren die Buschneger auch nur entflohene Sklaven oder deren Nachkommen. Lehnte sich aber ein Plantagendirektor gegen die Buschneger auf, so war es vorbei mit dem Frieden. Die Sklaven der Plantage waren dann unmittelbar betroffen. Sie waren das wertvollste Gut eines Plantagendirektors, ohne sie ging schließlich nichts auf einer Plantage. Wo also traf man einen Plantagendirektor besonders hart? Bei seinen Sklaven.

In dieser Nacht wurden die Gerüchte wahr. Die Buschneger hatten das kleine Sklavendorf heimgesucht, die Hütten in Brand gesteckt, die Männer erschlagen und die Frauen verschleppt. Kiri vermutete, dass es um den weißen Masra nicht besser stand. Ihn werden sie auch umgebracht haben, dachte sie traurig, als sie jetzt zitternd in ihrem Versteck kauerte. Dabei war er eigentlich ein guter Masra. Seinen Sklaven ging es besser als vielen anderen, und auch zu Kiri war er immer gut gewesen. Natürlich war sie schon einmal von den schwarzen Aufsehern, den Basyas, bestraft worden, aber sie konnte nicht klagen. Zumal sie eigentlich gar nicht der Plantage zugehörte. Ein echter Plantagensklave war nur, wer auch dort geboren war, wessen Familie dort lebte, wessen Nabelschnur dort begraben war.

Kiri aber wusste nicht, wo sie geboren worden war. Sie schloss die Augen und dachte voller Sehnsucht an ihre Tante Grena.

Grena war genau genommen auch nicht ihre richtige Tante, aber sie hatte Kiri in den letzten Jahren aufgezogen und für sie gesorgt. Woher Kiri wirklich stammte, wusste niemand. Grena hatte immer behauptet, der Gott des Flusses hätte sie als Baby zu ihr getragen. Vor fast fünfzehn Jahren.

Grena hatte damals bei ihrem Masra darum gebeten, das Kind behalten zu dürfen. Erst viele Jahre später, als Kiri erfahren hatte, dass Grena gar nicht ihre Tante war, und als ihr bewusst wurde, dass sie anders war als die anderen Kinder, da hatte sie sich manchmal gewünscht zu wissen, woher sie wirklich kam. Ihre Haut war etwas heller als die der Plantagensklaven, ihr Haar nicht ganz so kraus, und ihre Gesichtszüge waren wesentlich feiner. Einmal hatte sie zwei alte geschwätzige Frauen darüber lästern hören: »Die kleine Kiri ist doch wohl ein Bastardkind.« Kiri hatte Grena gefragt, was Bastard bedeutete, aber die hatte nur abgewinkt: Kiri sollte sich um das Geschwätz der anderen nicht kümmern. Später hatte sie dann selbst die Antwort gefunden, als Linu, eine der Arbeiterinnen, ein Kind von auffallend heller Farbe geboren hatte. Der Masra der Plantage war erbost darüber gewesen, denn Mischlinge durften nicht zur Arbeit in den Plantagenpflanzungen eingesetzt werden. Linu hatte ihn also um eine zukünftige Arbeitskraft gebracht. Wer der Vater des Kindes war, erfuhr Kiri nie. Aber je älter sie wurde, desto öfter bekam sie mit, wie Sklavenfrauen Mischlingskinder gebaren, ohne dass je ein Vater genannt wurde. Und manchmal verschwanden diese Kinder auch einfach, ohne dass je ein Wort darüber verloren wurde.

Kiri durfte wegen ihrer helleren Haut auch nicht mit auf die Felder gehen, stattdessen arbeitete sie als Küchenmädchen beim Masra.

Jetzt schluchzte sie leise. Sie musste hier weg. Fieberhaft überlegte sie, was zu tun war. Die Boote! Sie konnte sich in einem der Boote verstecken. Kiri rappelte sich auf und schlich um die Kostäcker Richtung Fluss. Im Schatten des Waldes hastete sie geduckt bis ans Ufer und von dort zu dem Platz mit den kleinen Booten der Plantage. Leise stemmte sie sich an Bord und verkroch sich unter den Planen, die zusammengelegt darin lagen. Sie versuchte, ihren zitternden Körper unter Kontrolle zu bekommen. Als sie jedoch Schritte eilig näher kommen hörte, erstarrte sie vor Angst. Waren die Buschneger auch auf die Boote aus? Sie hörte zwei flüsternde Männerstimmen, dann schwankte das Boot, und Kiri merkte, wie es vom Ufer abgestoßen wurde und auf den Fluss glitt. Sie drückte sich fest an die kalten Holzbretter des Bootshecks und versuchte, unter den schweren Planen kein Geräusch zu machen. Nach einer Weile hörte sie die Stimmen wieder. Kiri kannte sie, sie gehörten zwei der jungen Arbeitssklaven. Die Männer schienen sich in Sicherheit zu wiegen und sprachen nun lauter. Kiri vernahm Worte wie Überfall, Tod und Glück. Anscheinend waren die beiden froh über ihre gelungene Flucht. Sie sprachen davon, bis zur Stadt zu fahren. Kiri hielt sich unter der Plane versteckt, sie hatte große Angst, entdeckt zu werden. Wer konnte schon wissen, was die Männer mit ihr anstellen würden?