Kapitel 1

Julies erste Schritte in der neuen Heimat waren wackelig und unsicher. Als sie am späten Nachmittag endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, fiel es ihrem Körper zunächst schwer, sich an die Situation zu gewöhnen. Sie schwankte beständig wie auf See und konzentrierte sich allein darauf, die Füße halbwegs nebeneinanderzusetzen. Karl schien es nicht so zu ergehen. Mit schnellen Schritten entfernte er sich von der Landungsbrücke.

Julie war froh, als plötzlich Aiku neben ihr auftauchte. Der Sklave schien die lange Überfahrt unversehrt überstanden zu haben, er war nun bekleidet, wenn auch spärlich, und bedachte Julie mit einem kurzen Blick, bevor er sofort pflichtbewusst nach ihrem Kleingepäck griff. In seinen Augen lag Dankbarkeit. Doch der Moment war schnell vorbei, dann zog er sich ein paar Schritte zurück.

»Kindchen, ich wünsche Ihnen alles Gute!« Wilma schloss Julie kurz in die Arme. »Wenn Sie einmal in der Stadt sind, lassen Sie es mich wissen.«

»Wilma ... vielen Dank für alles!« Julie schmerzte es, sich von Wilma verabschieden zu müssen. Sie blickte der Frau wehmütig nach. Wilmas ehrliche Sorge um sie hatte Julie während der Überfahrt sehr berührt.

Auch Erika kam, um Julie zu verabschieden. Ihre Gefühle standen ihr im Gesicht geschrieben. »Ich weiß nicht, ob wir in der Stadt bleiben, aber vielleicht sehen wir uns ja wieder ... Ich wünsche Ihnen viel Glück für Ihr neues Leben! Aiku, passen Sie gut auf Juliette auf!«

Der Sklave nickte Erika bedeutungsvoll zu und legte seine rechte Hand auf sein Herz, wobei er sich etwas vorbeugte. Erika lächelte, bevor sie Julie kurz umarmte und dann schnell hinter ihrer Gruppe herlief, die sich bereits vom Hafen entfernte. Julie war zum Heulen zumute. Was waren das schon für Aussichten, in einem fremden Land, mit einem Mann, der sie gekauft hatte wie ... wie ...?

Julie folgte Aiku verdrossen. Weiter vorne, mitten im Strom der Menschen, konnte sie Karl erkennen. Hätte er nicht wenigstens auf sie warten können?

Als sie ihn endlich eingeholt hatten, wies er gerade zwei kräftige schwarze Burschen an, sich um das Gepäck zu kümmern.

»Meine neue Frau«, sagte er kurz und deutete auf Julie.

»Misi.« Julie sah für einen kurzen Moment so etwas wie Neugier in ihren Blicken aufblitzen, bevor die beiden sofort wieder ehrerbietig den Blick senkten. Sie stoben davon, um das Gepäck vom Schiff zu holen. Karl rief derweil nach einer der Mietdroschken, die am Straßenrand warteten, und half Julie hinein.

Nach einer geraumen Weile fuhr die Kutsche langsam die breite Hafenstraße Waterkant entlang. Die beiden schwarzen Burschen und Aiku folgten mit einem Teil der schweren Koffer zu Fuß. Julie fragte sich zwar, warum man das Gepäck nicht mit in den Wagen lud, verkniff sich aber eine Bemerkung. Von Weitem erhaschte sie einen Blick auf einen großen Platz, hinter dem in einem gepflegten Park ein imposantes Gebäude emporragte. Karl erklärte, das sei der Sitz des Gouverneurs.

Trotz allem, in Julie regte sich jetzt Neugier auf dieses Land. Fasziniert sah sie sich um. Dicht an dicht standen die Häuser und erinnerten in ihrer bunten Ansammlung fast an eine kleine niederländische Stadt. Das lag nicht zuletzt an den Grachten und Kreeken, welche die Stadt durchzogen. Ab und an holperte der Wagen über eine hölzerne Brücke. Nur die großen tropischen Palmen, die der Allee mit ihren ausladenden Wedeln etwas Schatten spendeten, passten nicht in dieses Bild. Sie zeugten davon, dass sie sich auf einem ganz anderen Kontinent befand. Die drückende Hitze tat ihr Übriges. Julie wurde schnell gewahr, dass der Ratschlag der Frauen kein Scherz gewesen war.

Selbst die Straßennamen erinnerten an die Niederlande. Es gab die Oranje Straat, Watermolenstraat und die Keizerstraat, auf der sie nun in die Stadt hineinfuhren.

Überall herrschte ein buntes Durcheinander. Kleine Geschäfte hatten ihre Tresen zur Straße hin geöffnet. Menschen von hellbrauner bis tiefschwarzer Hautfarbe gingen geschäftig ihrem Treiben nach. Frauen, in bunte Kleider und Tücher gehüllt, trugen große Körbe mit Früchten auf den Köpfen, Männer schoben Handkarren mit Sackwaren. Größere Wagen mit langohrigen, struppigen Eseln oder Maultieren warteten am Straßenrand. Kinder tollten umher. Und alle machten sie achtsam dem Wagen der Weißen Platz – die schienen in diesem Land nicht zu Fuß zu gehen. Kurze Zeit später kam die Droschke vor einem Haus zum Stehen.

»Wir sind da.«

Karl half Julie beim Aussteigen. Erwartungsvoll beäugte sie das Haus. Es war zweistöckig und weiß gestrichen, mit grünen Fensterläden. Der Eingang lag auf einer schmalen, überdachten Veranda, auf die man über eine seitliche Treppe gelangte. Über der Veranda erstreckte sich, von Holzsäulen getragen, wiederum ein ebenso schmaler Balkon. Links neben dem Haus befand sich ein großes Holztor, das vermutlich den Zugang zum Hinterhof bildete. Durch eine kleine Tür in diesem Tor schlüpften nun die Sklaven mit dem Gepäck.

Karl schritt voran und stand bereits oben vor der Eingangstür. »Was ist? Kommst du?«, fragte er ungeduldig. Als er bemerkte, dass Julie den schwarzen Burschen hinterhersah, murrte er: »Das ist die Negerpforte. Nun komm.«

Julie eilte die Stufen zur Veranda hinauf und durch die geöffnete Eingangstür.

»Masra Leevken.« Eine füllige kleine Sklavin, tadellos mit einem sauber gestärkten weißen Kopftuch und ebensolcher Schürze gekleidet, begrüßte Karl in der kleinen Eingangshalle.

»Foni«, er übergab der Sklavin seine Jacke und nickte mit dem Kopf in Richtung Julie, »das ist meine neue Frau, Juliette.«

»Misi.« Foni senkte sofort den Blick.

Julie nickte ihr freundlich zu.

Aiku kam nun aus einer Tür im hinteren Bereich des Hauses. In den Händen hielt er ein Tablett mit einer Karaffe und einem Glas, das er füllte und Karl reichte.

Julie hatte schon wieder Mitleid mit dem Sklaven. Ließ Karl ihm denn gar keine Gelegenheit, sich von der strapaziösen Reise zu erholen?

Karl jedoch leerte das Glas in einem Zug und stellte es zurück auf das Tablett. »Foni, richte das Essen an, wir haben Hunger nach der Reise.«

Foni nickte und watschelte mit behäbigen Schritten durch eine Tür in den hinteren Bereich des Hauses.

»Juliette ...« Karl geleitete Julie in ein Nebenzimmer, einen kleinen, behaglichen Salon. Julie bewunderte kurz die erlesene Einrichtung des Zimmers: zierliche Möbel und geschmackvolle Stoffe. Karl setzte sich in einen der ledernen Sessel und nahm das von Aiku sofort gereichte Glas in Empfang.

»Etwas zu trinken für die Misi«, sagte er knapp. Sogleich eilte der Sklave aus dem Raum. »Setz dich, Juliette.« Er wies auf den zweiten Sessel. »Meine erste Frau hat dieses Haus eingerichtet. Allerdings nutze ich es nicht viel. Martina ist ab und zu hier, aber sonst ...«

Julie fühlte sich nicht ganz wohl. Es war zwar jetzt auch irgendwie ihr Haus, aber alles war so ungewohnt und fremd. Und dieses Haus, das spürte Julie sofort, trug die Handschrift einer anderen Frau. Die von Felice, wer immer sie auch gewesen war. Ob sie wohl je mehr über diese Frau erfahren würde?

»Es ist hübsch hier«, sagte sie deshalb leise und schlug die Augen nieder.

Als Aiku mit Julies Erfrischungsgetränk zurückkam, nahm Julie das Glas an und bedankte sich höflich. Aiku wirkte einen kurzen Moment verwirrt, dann versteinerte sich seine Miene wieder. Karl schickte ihn mit einer Handbewegung aus dem Raum.

»Juliette, man bedankt sich nicht bei Sklaven. Es ist ihre Bestimmung, uns zu dienen. In den Niederlanden mag man so mit Dienstboten umgehen, aber hier nicht«, sagte er nachdrücklich. Julie wollte etwas erwidern, aber Karl hob abwehrend die Hand. »Du hast dich jetzt den Gepflogenheiten hier im Land anzupassen«, sagte er barsch, »und mit meinen Negern wird so umgegangen, wie ich es sage: kein Bitte und kein Danke an die Neger!« Julie war entsetzt. Sie brachte nur ein kurzes Nicken zustande.

Foni erschien in der Tür und kündigte das Essen an. Als sie das Speisezimmer auf der anderen Seite der Eingangshalle betrat, staunte Julie über den üppig gedeckten Tisch. Nach der doch etwas eintönigen Schiffskost der letzten Wochen verspürte sie Appetit. Foni rückte Julie einen Stuhl gegenüber von Karl zurecht. Julie konnte sich ein Danke gerade noch verkneifen und nickte der Sklavin stattdessen kurz zu.

Foni schien ihr Handwerk zu verstehen, die Speisen waren herrlich angerichtet, aber vieles auf den Platten und in den Schüsseln war Julie vollkommen unbekannt. Die vermeintlichen Kartoffeln schmeckten eher süßlich, und ein Gemüse wiederum, welches süß duftete, erwies sich als so scharf, dass es Julie die Tränen in die Augen trieb. Karl schien dies zu amüsieren.

»Auch daran wirst du dich gewöhnen«, sagte er schmunzelnd. Nach dem Essen führte Karl sie in die obere Etage, in der es mehrere Schlafzimmer gab, von denen er nun eines Julie zuwies. Julie freute sich insgeheim, das Zimmer mit dem Balkon bewohnen zu dürfen. »Und achte drauf, dass das Moskitonetz immer über dem Bett hängt. Ruh dich nun aus.« Mit diesen Worten verschwand er.

Julie sah, dass ihr Koffer bereits im Zimmer stand. Auspacken lohnt sich aber nicht, dachte sie im Stillen. Übermorgen geht die Fahrt ja weiter zur Plantage. Julie trat an das Fenster. Es hatte keine Scheibe! Mit den Fingerspitzen berührte sie die feine Gaze, die den Rahmen als Netz überspannte. Draußen tauchte die untergehende Sonne die Straße in warmes rotes Abendlicht, die Palmen warfen lange Schatten. Vereinzelt sah man noch Menschen auf der Straße, vornehmlich Schwarze. Sie öffnete die Tür, die zum Balkon hinausging, auch diese hatte keine Scheiben. Julie lehnte sich an den Türrahmen, schloss die Augen und atmete tief die würzige Abendluft ein. Es war warm und feucht, ab und an wurde die Luft durchschnitten von einem kühleren Hauch der nahenden Nacht.

Ein kitzelndes Gefühl auf ihrem Arm riss sie aus ihren Gedanken. Unzählige kleine Mücken hatten sich dort niedergelassen und schienen zum Stechen ansetzen zu wollen. Julie schüttelte sie schaudernd ab, trat ins Haus und verschloss schnell die Tür. Daher also auch das Netz über dem Bett.

Es klopfte. Foni betrat den Raum mit einer qualmenden Schale in der Hand, die sie nun auf das Fensterbrett stellte. Julie blickte sie verwundert an.

»Smokopatu, gegen Mücken!« Sie nickte untergeben und trollte sich wieder.

Julie dachte an Karls eindringliche Worte und zwang sich erneut, sich nicht zu bedanken. Ihr tränten von dem beißenden Rauch zunächst die Augen, aber nachdem die Sklavin die Tür wieder geschlossen hatte, schien er aus dem Fenster zu ziehen, ohne sich noch weiter im Raum auszubreiten. Dann verstand sie: Der Rauch dieser Schale verscheuchte die lästigen Insekten. Julie seufzte leise und ließ sich auf das Bett sinken. Das war es also, ihr neues Heimatland. Wie würde es jetzt wohl mit ihr weitergehen?

Julie war fest entschlossen, das Beste aus der Situation zu machen. Im Grunde war dieses Land doch recht schön. So exotisch. Sie war mit der Schule einmal in einer Orangerie gewesen, einem Tropenhaus voller Palmen und fruchtiger Düfte. Jetzt war sie in einem Land, in dem es all diese üppige Pracht tatsächlich gab. Ob sie wohl auf der Plantage einen großen Garten vorfinden würde? Die Plantage ... Welche Menschen wohl noch auf der Plantage lebten? Sicherlich viele Sklaven. Julie hatte sich das Zusammensein mit ihnen anders vorgestellt, ähnlich dem Verhalten gegenüber Dienstboten, aber Sklaven waren offensichtlich doch etwas anderes, sie schienen eher wie Arbeitstiere behandelt zu werden. Sie nahm sich fest vor, zu den Sklaven, mit denen sie zu tun haben würde, nett zu sein.

Bange war ihr vor allem vor dem ersten Zusammentreffen mit ihrer Stieftochter. Ob sie sich wohl verstehen würden? Julie hoffte es inständig. Sie war jetzt von Karl abhängig, da war es nur gut, wenn sie mit seiner Tochter auskam.

Sie wusste ansonsten immer noch nichts über Karls Familie. Hatte er noch Eltern? Lebten die gar auch noch auf der Plantage? Der Gedanke brachte schmerzlich die Erinnerung an ihre eigenen Eltern hervor. Was die wohl zu Julies Entscheidung gesagt hätten, nach Surinam zu gehen? Vermutlich wäre es nie so weit gekommen. Karl hatte sie ja auch nur wegen des Geldes geheiratet. Es versetzte Julie wieder einen unangenehmen Stich, daran zu denken. Vielleicht ... wenn sie sich Mühe gab, ihm zu gefallen, vielleicht würde es ja nicht so schlimm werden.

Am nächsten Morgen erwachte Julie nur mäßig erholt, die Hitze setzte ihr mächtig zu. Sie war mehrfach aufgestanden, um ihre nassgeschwitzte Nachtwäsche zu wechseln. Außerdem hatte sie lange wach gelegen, gegrübelt und darauf gehorcht, ob Karl wohl noch zu ihr kommen würde, bis sie letztendlich in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Karl war nicht erschienen, dafür hatten jedoch einige Mücken ihren Weg in das Zimmer und sogar unter das Netz gefunden und Julie einige Male geweckt.

Nachdem sie sich frisch gemacht hatte, suchte sie sich aus ihrem Koffer das leichteste Kleid, das noch standesgemäß zu tragen war. Beim Frisieren merkte Julie, wie sich ihre Haare durch die feuchte Luft unbändig kräuselten. Bereits am frühen Morgen erinnerte sie das Klima an die große, dampfgefüllte Waschküche des Internats.

Nachdem es ihr halbwegs gelungen war, adrett und ordentlich auszusehen, ging sie nach unten. Karl saß bereits am Frühstückstisch und las in einer Zeitung. Foni stand parat und schenkte Julie eine Tasse tiefschwarzen Kaffee ein. Julie stand der Sinn eigentlich mehr nach einem kühlen Getränk, sie traute sich aber nicht, darum zu bitten.

Einem anderen Drang konnte sie allerdings nicht widerstehen. Sicherlich schickte es sich nicht bei Tisch, aber ... Verlegen kratzte sie sich am Arm. Einige dieser Mücken hatten sie tatsächlich gestochen.

Karl ließ kurz seine Lektüre sinken: »Daran gewöhnst du dich«, sagte er lediglich, bevor er die Zeitung wieder hob. Ansonsten blieb er wortkarg. Julie hätte gerne gefragt, was sie heute machen würden. Vielleicht zeigte er ihr ja die Stadt! Ihre Hoffnung zerschlug sich allerdings, als Karl aufstand und sich verabschiedete. »Ich habe noch Geschäftliches zu erledigen.«

Julie blieb enttäuscht und etwas unschlüssig allein am Tisch sitzen. Sie erschrak fast, als Foni neben sie trat. Die Haussklavin hielt ihr einen kleinen Tiegel hin und deutete auf Julies Arm, auf dem sich einige große rote Pusteln gebildet hatten.

»Danke, Foni«, sagte Julie, Karls Warnungen zum Trotz. Foni zeigte ihr ein Lächeln, das ihre schneeweißen Zähne entblößte, und verschwand wieder irgendwo hinten im Haus. Hatte Foni Julie überhaupt verstanden? Sie hatte zwar gelächelt, aber vielleicht war das auch nur ein Zeichen von Höflichkeit.

Julie fand das Sprachverhalten sehr kompliziert. Auf dem Schiff hatten die Frauen erzählt, dass die Sklaven kein Niederländisch sprechen durften. Sie verstanden es zwar, durften aber nur in ihrer Sprache antworten. Die Sprache der Sklaven hatten die Frauen abwertend taki-taki genannt, was so viel wie Bla-Bla bedeutete. Offiziell hieß die Sprache Negerenglisch und klang in Julies Ohren wie eine Abwandlung des Niederländischen, in der einfach Silben vertauscht, Buchstaben weggelassen oder hinzugefügt wurden oder einige Worte durch englische ersetzt wurden. Die Weißen wiederum sprachen diese Sprache nicht, verstanden sie aber. Julie würde also wohl auch Negerenglisch lernen müssen. Englisch hatte sie immerhin im Internat gelernt, und das Lernen war ihr nie schwergefallen. Sie hoffte, auch hier schnell die ersten Worte sprechen zu können.

Nach dem Frühstück blieb Julie unschlüssig am Tisch sitzen. Und was sollte sie jetzt tun? Karl war fort, und sie war allein in diesem Haus. Ob sie sich darin umsehen durfte? Auch wenn sie allzu neugierig auf den Rest des Hauses war, entschied sie sich für ihr Zimmer. Sie fühlte sich hier fremd und noch als Gast, nicht als Hausherrin, und es gehörte sich nicht, in fremden Häusern herumzustöbern. Sie hatte kaum ihren Schlafraum betreten, da ließ ein dumpfes Grollen sie zusammenzucken. Als sie an das Fenster trat, sah sie, dass der Himmel sich zugezogen hatte und schwarze Wolken tief über den Dächern der Häuser lagen. Dann sah sie auch schon einen Blitz zucken, dicht gefolgt von einem bedrohlichen Grollen. Ein kühlender, kräftig böiger Wind kam auf, der die Palmblätter heftig durcheinanderwirbelte. In diesem Moment begann es zu regnen. Julie trat einen Schritt zurück und schloss die Tür. Der Regen perlte an der feinen Gaze ab – ob sie auch noch die Läden schließen sollte? Fasziniert beobachtete sie aber, welche Wassermassen da jetzt vom Himmel stürzten. Das hier war kein Regen, das war eine Sintflut. Karl hatte ihr von den beiden Regenzeiten im Jahr erzählt, und sie versuchte, sich an die entsprechenden Monate zu erinnern. Mitte April kam ihr in den Sinn, dann ging das wohl bis zum August. Die zweite Periode, so meinte sie sich zu erinnern, war dann von Dezember bis Februar, also im Winter, sofern man hier davon sprechen konnte. Erst jetzt ging ihr auf, dass fast acht Monate Regenzeit auch nicht unbedingt gutes Wetter verhießen. Und nun schüttete es wie aus Eimern, obwohl noch nicht einmal Regenzeit war. Julie war gespannt, welche Überraschungen das Wetter noch für sie bereithalten würde.

Aber so schnell, wie das Unwetter gekommen war, hörte es auch wieder auf. Die Wolken trieben weiter, und die Sonne kam zum Vorschein. Von der nassen Straße stiegen sofort Dunstschwaden auf, schnell war auch die leichte Abkühlung dahin.

Plötzlich fühlte Julie sich entsetzlich einsam. Sie sehnte sich nach Sofia und dem Internat, sogar nach der Enge ihres kleinen Zimmers. Wie gerne wäre sie jetzt mit Sofia an der Stadtmauer entlangspaziert, hätte den Enten auf dem Weiher zugesehen und mit ihrer Freundin geredet. Sie sehnte sich auch nach Wim, der jetzt sicher gewusst hätte, was zu tun war. Einen kurzen Moment sehnte sie sich sogar auf das Schiff zurück, auf den Austausch mit den anderen Frauen. Was Erika und Wilma wohl gerade machten?

Sie versuchte, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Sie musste jetzt stark sein, in die Zukunft schauen. Wenn sie doch nur wüsste, was auf sie zukam! Julie verbrachte eine weitere, unruhige Nacht allein in ihrem Zimmer.

Entgegen aller Planungen eröffnete Karl ihr am nächsten Tag, der Aufenthalt in der Stadt würde doch noch einige Tage länger dauern. »Wir haben bereits eine Einladung erhalten«, erklärte er ihr weiter, wobei sein Gesicht einen seltsam zufriedenen Ausdruck zeigte.

Julie wusste nicht recht, ob sie sich freuen sollte. Natürlich wäre es schön, Kontakte in der Kolonie zu knüpfen. Aber auch da würde sie für Karl nur Mittel zum Zweck sein.

Zudem machte das Klima Julie unsäglich zu schaffen. Sicherlich hatte sie damit gerechnet, dass es warm war in Surinam. Aber so? Die Tageshitze war so drückend, und Julie hatte das Gefühl, nicht atmen zu können, und sie litt unter einem stetigen Schwindelgefühl. Der Schweiß lief ihr in Strömen den Rücken herunter. Foni reichte ihr zwar in regelmäßigen Abständen erfrischende Getränke und feuchte Tücher, die ihr Leiden allerdings nicht besonders linderten. Am Abend war sie froh, als die Sonne vom Himmel verschwand und die Luft sich etwas abkühlte. Aber an einen erholsamen Schlaf war auch in dieser Nacht nicht zu denken. Julie wälzte sich zwischen den durchgeschwitzten Laken und stand mehrmals auf, um sich trockene Kleidung anzuziehen. Wie sollte sie das nur auf Dauer aushalten?

Einen Tag später saß Julie in ihrem Zimmer vor dem Spiegel in dem Versuch, sich einer Feierlichkeit entsprechend herzurichten. Ihr graute es davor, ein Kleid aus schwerem Stoff zu tragen, außerdem kräuselten sich ihre Haare in der feuchtwarmen Luft zu einem unbändigen Durcheinander. Wieder war es Foni, die ihr zu Hilfe kam. Sie brachte ihr ein wohlriechendes Öl, welches sie sparsam auf Julies Haare auftrug.

»Foni, das duftet ja wunderbar!« Julie schluckte gerade noch rechtzeitig ein Danke herunter.

»Misi hat Haare wie Gold, Misis Sklavin wird sich freuen, Frisuren daraus zu machen.« Julie war überrascht, wie redselig Foni war, was vermutlich auch daran lag, dass Karl nicht in der Nähe war. Außerdem freute sie sich, dass sie die Sprache der Haussklavin so gut verstand.

»Aber ich hab doch gar keine Sklavin«, bemerkte Julie leise, während Foni ihr in das Abendkleid half.

»Der Masra wird der Misi eine Sklavin besorgen. Jede Misi hat eine Sklavin, ohne Sklavin geht nicht«, erklärte Foni Julie mit gewichtigem Unterton.

Als Julie sich noch im Spiegel begutachtete, ertönte plötzlich aus dem unteren Stockwerk eine weibliche Stimme.

»Vater? ... Vater?«

»Oh!«, rief Foni sichtlich erschrocken und eilte davon.

Julie war überrascht. Das konnte nur Martina sein!

Ein nervöses Kribbeln machte sich in ihr breit. Warum hatte Karl sie nicht vorgewarnt, dass sie bereits hier auf ihre Stieftochter treffen würde? Aber Karl war seit ihrer Ankunft von morgens bis abends zu geschäftlichen Dingen unterwegs, verließ das Haus früh und kam erst spät heim. In den wenigen gemeinsamen Momenten hatte er Julie so gut wie gar nicht beachtet.

Schnell strich sie nochmals ihr Kleid glatt. Dann ging auch sie nach unten.

In der kleinen Eingangshalle nahm Foni gerade einer jungen Frau die Sommerjacke ab. Julie verharrte auf der Treppe und nutzte den kurzen Augenblick, um sich Karls Tochter genauer anzusehen. Martina war nur wenig kleiner als sie selbst und hatte das dunkle Haar zu einem aufwändigen Knoten gebunden. Die Gesichtszüge waren kantig, aber doch ebenmäßig – die Ähnlichkeit zu ihrem Vater war unverkennbar. Als sie Julie jetzt auf der Treppe bemerkte, verengten sich ihre großen braunen Augen zu Schlitzen, aus denen sie Julie katzenhaft anfunkelte.

»Wer sind Sie? Was machen Sie in unserem Haus?« Da Martina dabei Foni vorwurfsvoll ansah, fühlte diese sich wohl zu einer Erklärung aufgefordert.

»Das ist Misi Juliette ...«, setzte Foni an.

»Mejuffrouw Leevken ... Martina!« Julie fiel der Sklavin ins Wort und eilte sich jetzt, die Treppe hinunterzukommen. Die alte Sklavin senkte den Blick und schwieg. Julie wollte sich Martina lieber selbst vorstellen. Aber was sollte sie sagen? Die kurzen, angriffslustigen Fragen des Mädchens deuteten darauf hin, dass ihr Vater ihr nichts von seiner neuen Frau hatte berichten lassen. Wie um Himmels willen sollte sie ihr klarmachen, dass sie jetzt ihre Stiefmutter war? Sie atmete tief ein, setzte ein freundliches Lächeln auf und streckte Martina die Hand zum Gruß hin. »Es freut mich ausgesprochen, Sie endlich kennenzulernen«, sagte sie so herzlich sie konnte.

Martina bedachte sie mit einem abschätzenden Blick und ignorierte die höfliche Geste. Dann bekam ihr Gesicht einen hochmütigen Ausdruck, wobei sie ihre spitze Nase in die Luft reckte.

»Ach, hat Vater schon wieder eine neue Gouvernante engagiert? Ich habe ihm doch gesagt, dass ich das nicht mehr wünsche. Foni! Wo ist er eigentlich?«

»Masra Karl kommt gleich wieder. Möchten die Misis eine Erfrischung im Salon?« Foni schien froh, sich zurückziehen zu können.

Martina zuckte die Achseln und übergab der Haussklavin ihren Hut. »Ja, aber schnell, ich muss mich ja noch frisch machen und umziehen. Wir wollen doch heute Abend zu den van Beckers. Vater hat extra gestern nach mir schicken lassen.« An Julie gewandt fügte sie hinzu: »Dann kommen Sie mal mit.«

Martina deutete Julie an, ihr zu folgen. Julie folgte ihrer Stieftochter wortlos in den Salon. Dort ließ Martina sich seufzend auf einem Sessel nieder und bedachte Julie mit einem unschlüssigen Blick, bevor sie ihr bedeutete, im Sessel gegenüber Platz zu nehmen.

»Er hat Sie doch jetzt nicht extra aus Europa hergeschafft, oder? Ich habe ihm gesagt, dass ich weder eine Gouvernante wünsche noch weitere Hauslehrerinnen. Wir haben da ja sehr schlechte Erfahrungen gemacht.« Martinas Stimme nahm einen altklugen Tonfall an. »Aber Sie werden sicherlich keine Probleme haben, hier irgendwo anstellig zu werden. In den meisten Familien werden gut gebildete Kindermädchen händeringend gesucht. Die Neger haben da ja gewisse Defizite.«

Foni kam mit einem Tablett und zwei Gläsern herein, das sie auf dem niedrigen Tisch abstellte, bevor sie sich eilig wieder trollte.

Julie wusste nicht, ob sie sich über die Art von Martina amüsieren oder ärgern sollte. Martina schien nicht nur äußerlich ihrem Vater ähnlich zu sein, ihr Auftreten glich dem einer kleinen Herrscherin. Julie wappnete sich innerlich gegen dieses hochmütige Mädchen. Martina würde ihr vermutlich nicht erfreut um den Hals fallen, wenn Julie die Situation gleich aufklärte. Damit hatte Julie zwar nicht gerade gerechnet, aber ein klein wenig Herzlichkeit hätte sie sich doch von ihrer neuen Stieftochter bei der Begrüßung gewünscht. Nicht nur ihr gegenüber.

»Also, Martina ... Ihr Vater hat mich nicht angestellt als Gouvernante, er ...« Wie sollte sie dem Mädchen das bloß erklären?

Noch während sie nach den passenden Worten suchte, hörte sie aus der Eingangshalle Karls Stimme. Kurz darauf betrat er den Salon. »Martina, du bist schon da?«

Martina sprang auf und fiel ihm um den Hals. »Vater, wie schön!«

Kurz huschte Karls Blick zwischen Martina und Julie hin und her.

»Wie ich sehe, hast du dich mit Juliette bereits bekannt gemacht?«

»Äh, nein. Vater, ich hatte dir doch gesagt«, Martina wandte sich jetzt zu Julie um, »ich habe Mejuffrouw ... Juliette bereits gesagt, dass ich keine neue Gouvernante anstellen möchte. Aber sie wird sicherlich eine andere gute Anstellung finden ...«

»Gouvernante?« Karl runzelte die Stirn. »Martina, es ist nicht so, wie du denkst.« Er schob seine Tochter wieder zu ihrem Sessel und nahm dann selbst Platz.

»Martina, also ... das ist Juliette. Wir haben in Europa geheiratet. Sie ist somit nun meine neue Frau und deine Stiefmutter.«

Julie bemerkte, dass Karl seiner Tochter die Information vollkommen emotionslos übermittelte. Dennoch schenkte sie Martina erwartungsvoll ein Lächeln. Sie hoffte, trotz der etwas ungewöhnlichen Umstände, Zugang zu diesem Mädchen zu bekommen. Sie war schließlich die einzige Gesellschaft, die Julie auf der Plantage erwarten konnte. Der eisige Blick, den Martina ihr zuwarf, zerstörte die Hoffnung jäh.

»Stiefmutter?«, fauchte Martina leise und stieß dann, an Karl gewandt, aus: »Wie konntest du nur ... du glaubst doch nicht ...?« Martinas Gesicht bekam eine zornige Röte, ruckartig stand sie auf und rannte aus dem Zimmer.

Karl rief mit donnernder Stimme hinter ihr her: »Martina, komm sofort zurück!« Doch Martina gehorchte nicht. Kopfschüttelnd faltete Karl die Hände. »Sie wird sich wieder beruhigen.«

Karl hatte eine Mietdroschke bestellt, die sie nach Sonnenuntergang durch die Straßen der Stadt brachte. Martina saß Julie schweigend und mit abgewandtem Blick gegenüber. Diese hätte sich für das Kennenlernen mit ihrer Stieftochter ein besseres Arrangement gewünscht. Aber so ... sie fühlte sich ebenfalls überrumpelt.

Nach einer scheinbar ewigen, von eisigem Schweigen geprägten Fahrt, hielt die Kutsche endlich an. Karl half Julie aus dem Wagen und hakte sie unter. Martina stapfte missmutig hinter ihnen auf das imposante Stadthaus zu. Die Fenster waren hell erleuchtet, und Musik drang nach außen. Julie hatte sich die ganze Zeit so über Martinas Benehmen geärgert, dass sie erst jetzt gewahr wurde, dass ihr nun der erste öffentliche Auftritt an Karls Seite bevorstand. Plötzlich wurde sie sehr nervös. Wem würde sie gleich alles vorgestellt werden? Würde sie alles richtig machen? Gab es gar besondere Verhaltensregeln in diesem Land, von denen sie noch nichts wusste? Karl würde sicherlich sehr böse, wenn sie ihn heute blamierte. Wie hieß noch mal die Gastgeberin? Julie hatte es vergessen. Aber jetzt war es sowieso zu spät, ein Sklave in Livree, allerdings ohne Schuhe, nahm sie an der Tür in Empfang.

Sobald das Ehepaar Leevken den Salon betrat, zog es die Aufmerksamkeit eines Großteils der Gäste auf sich. Karl begrüßte souverän einige der Anwesenden und stellte Julie vor. Die Gastgeberin, Charlotte van Beckers, eine füllige, blonde Frau mit geröteten Wangen, vereinnahmte Julie sofort.

»Ach, wie schön, Sie endlich kennenzulernen! Ich hab ja schon so viel von Ihnen gehört. Möchten Sie nicht mitkommen? Die Damen freuen sich sicherlich über Ihre Gesellschaft.«

Widerspruch war zwecklos, und so löste sich Julie von Karls Arm und folgte Charlotte van Beckers in eine Damenrunde. In der Tat, die Gastgeberin hatte nicht gelogen: Die Frauen belagerten Julie gleich mit vielen Fragen. Was gab es Neues vom Königshaus? Was würde wohl bald modisch aktuell sein? Wie kam es zu der Heirat nach Surinam?

Julies Kopf brummte. So viele neue Namen und Gesichter! Freundlich versuchte sie, alle Fragen zu beantworten, den Teil über die Heirat aber ließ sie aus. Als sie Karl zwischendurch einen kurzen Blick zuwarf, prostete er ihr aufmunternd mit einem Glas Champagner zu, um sich dann wieder der Konversation mit den Männern zu widmen.

»Oh, Juliette, da ist Marie Marwijk ... Marie, darf ich Ihnen Juliette Leevken vorstellen ... jetzt, wo Sie ja sozusagen Nachbarn werden.« Charlotte van Beckers schob gerade wieder eine neue Dame an Julies Seite.

»Ich freue mich ja so, Sie endlich kennenzulernen.« Marie Marwijk ergriff Julies Hand und tätschelte sie, ohne ihren Redefluss zu unterbrechen. »Wir leben auf der Plantage Watervreede, die liegt gleich neben Rozenburg.« Marie Marwijk war ungefähr fünfzig Jahre alt. Sie war klein und drahtig, und ihr Gesicht ließ darauf schließen, dass ihr Leben nicht immer ganz leicht gewesen war. Ihr ehemals braunes Haar war von silbrigen Strähnen durchzogen. »Ach, Mevrouw Leevken, oder darf ich Juliette sagen«, sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, »das ist ja so aufregend! Ich hoffe, Sie kommen mich dann jetzt öfter mal besuchen?«

Marie Marwijk plapperte weiter munter an Julies Seite. Julie wusste nicht, ob ihr das möglich sein würde. Was hieß in diesem Land wohl Nachbarin? Musste Julie vielleicht eine umständliche Flussreise antreten, um zu ihr zu kommen? Oder bedeutete Nachbarin, dass es von Rozenburg aus einen Landweg gab? Würde Karl überhaupt erlauben, dass sie die Frau besuchte? Nett schien sie ja zu sein. Wie sie wohl zu Martina stand? Vielleicht hatte sie ja selbst Töchter, die ...

Alles in allem warf jede neue Bekanntschaft mehr Fragen auf, als dass sie Antworten brachten. Bald schwirrte Julie der Kopf. Sie beschränkte sich auf regelmäßiges, freundliches Nicken und kurze, höfliche Kommentare. Sie war erschöpft, aber auch froh, dass die Damen ihr recht wohlgesinnt schienen. Jede bekundete Interesse an ihr, und sie hatte auch bereits mehrere Einladungen zu Kaffeestunden erhalten. Sie wusste zwar nicht, ob sie allen nachkommen können würde, aber es wäre unhöflich gewesen, sie auszuschlagen. Julie konnte die vielen neuen Namen unmöglich alle behalten und bezweifelte, dass sie die Frauen wiedererkennen würde. Sie vertröstete die Damen mit dem Hinweis darauf, dass sie zunächst erst einmal die Plantage kennenlernen und sich häuslich einrichten wollte. Woraufhin ihre neuen Bekanntschaften sie mit Ratschlägen überschütteten, wie es sich auf einer Plantage am besten aushalten ließ. Der Abend schien kein Ende nehmen zu wollen.

Martina hatte sich während des gesamten Empfangs von ihr ferngehalten und sobald Julie Blickkontakt mit ihr aufgenommen hatte, linkisch etwas zu einer Frau an ihrer Seite geflüstert. Julie hätte zu gerne gewusst, wer diese Frau war. Gehörte sie zur Familie? War sie eine Freundin Martinas? Sie schien sich zumindest nicht so für Julie zu interessieren, oder besser gesagt, sie bedrängte Julie nicht so wie die restlichen Damen, warf ihr aber dennoch ab und zu einen neugierigen Blick zu.

Julie fand kaum Zeit zum Durchatmen, bereits am nächsten Morgen wies Karl sie an, sich am Nachmittag herzurichten – sie hätten noch etwas zu erledigen, und sie solle packen, da sie am folgenden Tag zur Plantage aufbrechen würden.

»Wo ist denn Martina?«, fragte Julie zaghaft. Sie hatte das Mädchen heute noch nicht gesehen, sie schien nicht im Haus genächtigt zu haben und am Frühstückstisch waren nur zwei Plätze eingedeckt.

Karl gab ein verächtliches Schnauben von sich. »Sie zieht es vor, bei ihrer Tante zu wohnen. Martina bleibt noch ein paar Tage in der Stadt.«

Tante? War das vielleicht die Frau, mit der sie gestern beisammengestanden hatte? War sie vielleicht gar Karls Schwester? Nein, Julie hatte keine Ähnlichkeiten erkennen können. Vielleicht war es ja die Schwester von Martinas leiblicher Mutter Felice? Sie traute sich nicht, weiter danach zu fragen, aber so musste es sein. Folgsam sorgte sie im Verlauf des Tages dafür, dass ihre Abreise aus der Stadt vorbereitet wurde. Viel hatte sie allerdings nicht zu erledigen. Foni verstaute Julies Sachen sorgsam in den Koffern.

Karl kam am frühen Nachmittag. »Bist du fertig?«

Julie nickte und folgte ihm nach draußen. Dort stand wieder eine Mietdroschke bereit.

Sie fuhren durch die Straßen von Paramaribo, und Julie schaute sich aufmerksam um. Alles ähnelte dem, was sie aus Europa kannte, war andererseits aber doch fremd. Sie fuhren durch Alleen wie in der Heimat, aber die Bäume trugen ganz andere Blätter und Früchte. Große bunte Vögel flogen zwischen den Bäumen umher und gaben krächzende Laute von sich. Die farbigen Frauen, die auf den Straßen herumliefen, waren bunt gekleidet mit kunstvoll gewickelten Kopftüchern. Julie erinnerte sich an die kleinen kolorierten Abbildungen in ihren Schulbüchern. Wie aufregend hatte sie es immer gefunden, über fremde Völker und Kulturen zu hören und zu lesen! Jetzt war sie selbst mittendrin. Zu ihrer großen Verwunderung sah sie nicht nur farbige Menschen, sondern auch vereinzelt kleine Asiaten. Wie es die wohl hierher verschlagen hatte? Gerne hätte sie Karl danach gefragt. Der gab aber gerade dem Kutscher eine mürrische Anweisung. Karls Laune schien nicht die beste zu sein. Julie zog es vor zu schweigen. Die Gegend, in die sie jetzt kamen, sah weniger ordentlich und aufgeräumt aus. Julie wurde etwas mulmig zumute. Was wollte Karl hier?

Der Wagen stoppte. Karl stieg aus, und Julie folgte ihm auf seine ungeduldige Aufforderung hin. Allmählich fühlte sie sich wie ein Hündchen, das brav seinem Herrn hinterherlief.

Karl verließ die breite Straße und betrat ein dunkleres Häuserviertel. An einem schäbigen Haus klopfte er an.

Der Mann, der die Tür öffnete, wirkte genauso ungepflegt wie die Umgebung. »Ah, Leevken, kommst du, um deine Schulden zu bezahlen?« Mit einem breiten Grinsen entblößte er faulige Zahnstumpen.

»Das auch, das auch. Lass uns rein, Bakker.« Karl schob sich eilig an dem Mann vorbei ins Haus. Julie schien es, als wolle er hier nicht gesehen werden. Sie folgte ihm hinein, es stank erbärmlich, und schon im Halbdunkel ließ sich erkennen, dass hier lange niemand sauber gemacht hatte. Ein paar dicke Fliegen stoben von schmutzigem Geschirr hoch, welches sich auf dem Tisch stapelte, und summten ungehalten um die Gäste. »Darf ich vorstellen, meine Frau.« Karl deutete mit einem Kopfnicken auf Julie. »Sie braucht eine Leibsklavin.«

Mit einem gierigen Blick kam Eifer in den Mann. »O ja, o ja, hab gerade frische Ware reinbekommen.« Er verschwand, und kam kurz darauf zurück, ein schwarzes Mädchen vor sich herschiebend. Das kleine Ding sah erbärmlich aus in seiner zerlumpten und spärlichen Bekleidung. Demütig hielt es den Blick gesenkt.

Sie ist fast noch ein Kind, dachte Julie entsetzt und voller Mitleid.

Karl jedoch trat auf das Mädchen zu, packte es rüde an der Schulter, musterte es und drehte es langsam einmal um die eigene Achse. Als Julies Blick auf den geschundenen Rücken des Mädchens fiel, schnappte sie erschrocken nach Luft und kniff die Augen zusammen. Karl sah die Striemen auch, zeigte aber keine Spur von Mitleid.

»Was willst du mir denn da andrehen, Bakker?«, sagte er stattdessen verächtlich. »Sieht ja nicht gerade umgänglich aus, das Ding.«

»Das hat sie nicht von mir.« Der Mann hob abwehrend die Hände. »War wohl beim Vorbesitzer nicht artig.« Er gab ein widerliches Lachen von sich.

»Hast du nicht was Älteres da, irgendwas mit Erfahrung?« Karl packte das Mädchen am Kinn und schaute ihr in den Mund. Julie kamen Bilder in den Kopf, wie sie als Kind einmal ihren Vater zu einem Pferdemarkt begleitet hatte. Er wollte sich damals die besten Tiere für seine Equipage selbst aussuchen. Er hatte den Tieren genauso in die Mäuler geschaut wie Karl dem Mädchen. Die Männer verhandelten derweil unbeirrt weiter über ihre »Ware«.

»Leevken, momentan gehen die Guten weg wie süße Orangen. Du weißt doch, wie das ist ... aber die hier ist wirklich nicht übel, vielleicht noch etwas jung, aber dafür völlig unverbraucht ...«

»Ach, komm, die kann doch nichts.« Karl stieß das Mädchen an: »Kannst du was? Sprich!«

Das Mädchen flüsterte und starrte dabei auf seine nackten, dreckigen Füße: »Masra, ich kann kochen, ich habe in der Küche gearbeitet.«

»Siehst du, Bakker, ein Küchenmädchen. Nein ... so was brauchen wir nicht. Also, wenn du nichts anders hast ...« Karl wandte sich ab, als wolle er gehen.

Bakker, der wie ein großer, drohender Riese hinter dem Mädchen stand, verzog kurz das Gesicht.

»Warte mal, Leevken.« Bakker verschwand wieder durch die Hintertür und kam kurz darauf mit einer greisen schwarzen Frau zurück. Verlegen versuchte die Alte, ihre wurzelartig verwachsenen Hände zu verbergen, während sie Karl und Julie einen herzerweichenden, hoffnungsvollen Blick zuwarf.

»Bakker, das ist doch jetzt wohl ein Scherz, ich suche eine leistungsfähige Sklavin und nicht ... so was.« Karl schüttelte den Kopf und schickte sich an zu gehen.

»Ich mach dir für die Kleine auch einen guten Preis, aber wenn du sie nicht willst ... Carmen nimmt sie bestimmt gern für ihr Haus. Die Soldaten und Matrosen mögen diese jungen Dinger ja.«

Julie wusste zwar nicht, wer diese Carmen war, aber so wie Bakker das Wort Haus ausgesprochen hatte, handelte es sich wohl kaum um einen gewöhnlichen Haushalt.

Karl schien jetzt zu überlegen. »Was willst du denn für die Kleine haben?«

Bakker machte ein ernstes Gesicht. »Für zweihundert kannst du sie mitnehmen.«

Karl wandte sich an Julie: »Komm, Juliette, wir gehen, dann müssen wir halt woanders schauen.«

»Leevken, das ist doch nun wirklich ein guter Preis! Ich muss doch auch leben.«

»Pah ...« Karl packte Julie am Arm und schob sie zur Tür. Julie sah die Enttäuschung in den Gesichtern der beiden Sklavinnen. Es brach ihr fast das Herz. Mit einem Ruck löste sie sich aus Karls Griff und blieb stehen.

»Ich will das Mädchen!«

Karl hielt inne und sah Julie verwundert und etwas ärgerlich an.

»Nein, kommt überhaupt nicht in Frage«, zischte er.

Bakker hingegen witterte seine Chance. »Hat ein gutes Auge, deine Frau, siehst du ... sie weiß, dass das mal eine treue Sklavin wird. Nun komm, für einhundertachzig kannst du sie mitnehmen.«

»Einhundertdreißig.«

»Gut, einhundertfünfzig, mein letztes Wort.« Bakker verschränkte die Arme vor der Brust.

»Papiere?«

»Natürlich bekommst du Papiere, ich bin doch ein ehrenwerter Händler!« Bakker grinste und nahm ein Geldbündel von Karl entgegen. Dann stieß er das Mädchen in Julies Richtung und deutete der Greisin an, sich wieder nach hinten zu verziehen.

Julie sah der alten Frau mit traurigem Blick hinterher, am liebsten hätte sie auch sie mitgenommen, aber das hätte Karl niemals geduldet. Zumindest dem Mädchen konnte sie helfen.

»Na, bestens. Leevken? Noch einen Schluck auf das gute Geschäft?«

Julie atmete auf, und während die Männer am Tisch standen und die Gläser erhoben, betrachtete sie das Mädchen genauer. Die Kleine stand eingeschüchtert und mit gesenktem Blick da, nur ihre nestelnden Finger verrieten, dass ihr nicht wohl in ihrer Haut war.

»Wie heißt du?«, fragte Julie leise.

»Kiri«, hauchte das Mädchen schüchtern.