Kapitel 14

Karl stand vor Julie und funkelte sie böse an, dann erhob er seine Stimme. »Kannst du nicht ein Mal machen, was man dir sagt? Was fällt dir eigentlich ein, auf dem Schiff herumzuschleichen? Das Vorderdeck ist nicht umsonst abgetrennt. Und ich hatte dir gesagt, dass dich das nicht zu interessieren hat! Er ist ein Neger, ein Sklave, das ist ganz normal. Er bekommt Wasser und Nahrung, und alle paar Tage darf er nachts raus und sich die Beine vertreten. So wird das immer gemacht.«

Das mit dem Ausgang stimmte ganz sicher nicht, dünkte Julie, sonst hätte Erika die Sklaven irgendwann schon einmal gesehen. Es gab schließlich nur einen Aufgang. »Aber das ist doch keine Art«, wagte Julie leise zu sagen. Ihre Stimme brach, sie war verwirrt von diesem plötzlichen Ausbruch. So hatte er sie noch nie angeschrien.

Karl stemmte die Hände in die Hüften und beugte sich bedrohlich zu ihr vor. »Diese Neger sind dumm, Juliette. Manche versuchen sogar, vom Schiff zu springen – es ist zu ihrer eigenen Sicherheit.« Damit drehte er sich um und zog seine Jacke gerade. »Außerdem ... Du solltest nicht zu viel Sympathie mit den Negern hegen!« Da war es wieder, dieses drohende Glühen in seinem Blick, das Julie sofort zum Schweigen brachte. Sie konnte es nicht mehr leugnen: Karl hatte sich in den Wochen auf See verändert.

Und sie konnte Aiku nicht seinem Schicksal dort unten, tief im Bauch des Schiffes, überlassen! Hilfesuchend wandte Julie sich am nächsten Tag an Erika. Es war ein großes Risiko, sich noch einmal auf Deck an die Absperrung zu schleichen. Aber Julie musste mit Erika sprechen. Schließlich konnte sie Aiku nicht wochenlang der Willkür dieses Matrosen Ferger aussetzen.

»Würden Sie vielleicht ... mein Mann wünscht nicht ...« Julie wusste nicht genau, wie sie Erika erklären sollte, dass sie sich nicht selbst um Aikus Wohl sorgen konnte.

»Ihr Mann wünscht nicht, dass Sie sich in schlechte Gesellschaft begeben.« Erika sah, wie die junge Frau sich quälte, und sprach aus, was diese sagen wollte. Sie nickte verständnisvoll und tätschelte über die Absperrung Julies Hand. »Kein Problem, ich werde mich darum kümmern.« Wieder blitzten Erikas Augen auf, als freue sie sich über eine Aufgabe.

»Aber dieser Matrose, dieser Ferger ...«

Erika winkte ab. »Machen Sie sich keine Sorgen, er ist uns gegenüber ganz zurückhaltend; er denkt wohl, dass wir es unserem Herrgott verraten, wenn er nicht nett zu uns ist.« Erika kicherte.

»Und sagen Sie Erika zu mir, ja?«

Julie sah ihre neue Verbündete und Freundin dankbar an.

»Gern, Erika. Juliette.«

Erika nahm von Julie ein kleines Bündel entgegen. Julie hatte beim Frühstück heimlich etwas Brot und Käse eingeschlagen, während Karl mit einem Mann am Nachbartisch geredet hatte. Jetzt gab sie es Erika, auf dass sie es zu Aiku bringen sollte.

So verfuhren sie auch in den nächsten Tagen. Immer am späten Vormittag trafen sie sich an der Absperrung. »Sie können, ich meine, ich weiß ja nicht, wie man Sie versorgt, wenn Sie möchten ... es ist genug darin.« Julie war der Gedanke gekommen, dass es den Frömmlern, was die Versorgung anbelangte, vielleicht auch nicht so gut erging. Erika schüttelte den Kopf. »Danke, Juliette, aber das, was der Herr uns reicht, reicht für uns aus. Ich denke, Aiku bedarf es nötiger.«

Erika hatte unterdessen Julie gegenüber den Verdacht geäußert, dass Ferger von der Ration, die von Seiten des Schiffes für die Schwarzen gedacht war, etwas für sich zurückhielt. Sorgsam hatte sie neben dem Matrosen gestanden, bis dieser das mitgebrachte Päckchen an die Schwarzen weitergegeben hatte. Es den beiden Gestalten wieder abzunehmen, traute er sich nicht. Erika hatte beobachtet, dass Ferger zwar ein großes Mundwerk hatte, aber immer darauf bedacht war, die Sklaven auf sicherem Abstand zu halten. Julie beruhigte es, Aiku jetzt wenigstens unter Obacht zu wissen.

Die Ohrfeige traf Julie unvermittelt und mit voller Wucht.

Überrascht hielt sie sich die Wange und unterdrückte die aufsteigenden Tränen. »Was ...?«

Karl war in die Kabine gepoltert und hatte sie barsch am Arm gepackt, dann hatte sie auch schon der Schlag erwischt. »Ich habe dich gewarnt, du sollst dich nicht mit den Schwarzen einlassen! Glaubst du, ich finde nicht heraus, was du treibst? Der Kapitän hat mich heute darauf angesprochen. Ob mir seine Behandlung für die Sklaven nicht ausreichen würde? Ihm sei zu Ohren gekommen, dass unser Sklave eine gehörige Extraration bekomme. Das hat jetzt ein Ende. Und ...«, böse funkelte er Julie an, »halte dich gefälligst auch von diesen Frömmlern fern!«

Am nächsten Morgen prangte ein großer blauer Fleck neben Julies linkem Auge. Sie traute sich so nicht an Deck. Was würden die anderen Frauen wohl denken, wenn sie die Verletzung sahen?

Als Wilma besorgt an die Tür klopfte und sich nach Julies Befinden erkundigte, versuchte diese, sie wegzuschicken. »Mir geht es wirklich nicht gut Wilma, kommen Sie besser nicht herein. Nicht dass ... dass ich Sie anstecke.«

Wilma aber ließ sich nicht so leicht abweisen. »Ach, Kindchen, so schlimm wird’s ja wohl nicht sein.« Als sie die Kabine betrat, zog Julie verlegen die Decke über den Kopf, um das blaue Mal vor ihr zu verbergen.

Wilma schöpfte sofort Verdacht und schnalzte laut, nachdem sie die Decke zurückgezogen hatte. »Na, Mädchen, was ist denn mit Ihnen passiert? Ansteckend ist das ja wohl nicht!«

»Ich bin gestolpert ... der Tisch.« Julie hörte selbst, wie wenig überzeugend diese Erklärung klang. Sie schämte sich schrecklich.

»Tisch, hm?« Wilma setzte sich auf die Bettkante und verfiel jetzt in einen mütterlichen Tonfall. »Armes Mädchen, Ihr Karl ist manchmal etwas ... schwierig, wie?« Julie brach in Tränen aus. Wilmas Zuwendung berührte sie zutiefst, und die Angst, Anspannung und Trauer der vergangenen Wochen brachen aus ihr heraus. Tröstend legte Wilma ihren Arm um Julie und wartete geduldig, bis die Tränen langsam versiegten. »Wissen Sie, vielleicht ist er einfach auch nur so komisch wegen ... weil ... wenn die Kerle hier so viel trinken ... manche bekommen auf dem Schiff ja einen regelrechten Lagerkoller. War er böse mit Ihnen?«

Julie nickte nur.

»Eifersüchtig vielleicht?«

Darauf konnte Julie nur schniefend die Schultern zucken. Wilma würde kein Verständnis für Julies Sorge um den Sklaven aufbringen, deshalb schwieg sie lieber.

»Ach, Kind, Männer sind manchmal sehr schwierig ... und vielleicht ist Ihr Karl ja ... besonders besorgt um Sie? Nach der Geschichte damals mit seiner ersten Frau ... und jetzt die Heirat mit Ihnen.«

Julie horchte auf. Bisher hatte Karl nie von seiner ersten Frau gesprochen. »Wilma, was war mit Karls erster Frau?«

Wilma betrachtete sie erstaunt. »Hat er Ihnen nichts davon erzählt?«

Julie schüttelte den Kopf. »Nur dass sie schon lange tot ist und ... er hat mir auch erst nach der Hochzeit von seiner Tochter erzählt.«

Wilmas Blick verfinsterte sich. »Na, das ist ja nicht gerade nett. Nun, ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn ich Ihnen das jetzt verrate, aber ich denke, Sie sollten es wissen. Es gab damals eine Menge Gerede in der Kolonie ... Felice, Karl Leevkens erste Frau, war die Tochter eines hohen Beamten, daher war sie recht bekannt in der Stadt. Alle waren damals verwundert, dass sie das Stadtleben gegen ein Leben auf der Plantage eintauschte.« Wilma lachte leise auf. »Wie das so ist mit jungen Menschen. Nun, einige Zeit ging das auch gut. Als die beiden ihre erste Tochter bekamen, gab Felices Vater ein großes Fest. Dann wurde Felice angeblich nochmals schwanger. Man sah sie nur noch selten in der Stadt und bei ihrer Familie.« Wilma dämpfte ihre Stimme, und ihre Augen verfinsterten sich. »Eine Bekannte erzählte mir damals, Felice habe sich sehr verändert. Sie war wohl schwermütig geworden ... das arme Ding.« Julie lauschte Wilmas Erzählungen aufmerksam. Sie wurde einmal mehr gewahr, dass sie von ihrem Ehemann so gut wie überhaupt nichts wusste. »Zu der Zeit, als das Kind geboren werden sollte, gab es ... nun ja, es ereignete sich etwas Schreckliches.« Wilma senkte nun ehrlich betroffen den Blick. »Man sagt, Felice sei wohl doch nicht mit der Einsamkeit auf der Plantage zurechtgekommen. Sie litt an geistiger Verwirrung. Ja, dieses Land hält manchmal schwere Prüfungen für uns bereit ...«

»Was ist mit ihr passiert, Wilma?« Julie hakte ungeduldig nach, obwohl sie sich gar nicht sicher war, ob sie überhaupt wissen wollte, was geschehen war.

Wilma wand sich. »Felice hat ihrem Leben im Fluss ein Ende gesetzt«, sagte sie schließlich. »Es war schrecklich! Man fand sie erst Tage später und ...«

»... was war mit dem Kind?« Julie fühlte sich wie betäubt. Welche Tragödie hatte sich da abgespielt?

»Von dem Baby fehlte jede Spur. Man weiß nicht, ob sie es zuvor auf die Welt gebracht hat und mit in den Tod nahm ... Keiner weiß, was sich wirklich in dieser Nacht auf Rozenburg abgespielt hat.« Wilma seufzte. »Felices Vater hat daraufhin Karl Leevken das Leben nicht gerade leicht gemacht. Er war der Meinung, ihn träfe eine Mitschuld am Tode von Felice. Seitdem hat Ihr Karl sich auch vollkommen aus der Gesellschaft zurückgezogen.«

Julie war geschockt. Wie schrecklich! Vielleicht aber lag darin eine Erklärung für Karls Verhalten, vielleicht hatte er diesen Verlust ja wirklich noch nicht überwunden. In den Niederlanden war der Druck von ihm abgefallen, aber jetzt, da er in seine Heimat kam, mochten die Erinnerungen ihn wieder quälen. Julie beschloss, mehr Geduld für Karl aufzubringen. Vielleicht erklärten sich seine schwankenden Stimmungen ja mit seiner Geschichte.

Julie drückte Wilma freundschaftlich. »Ich danke Ihnen, Wilma, dass Sie mir das erzählt haben. Vielleicht hilft es mir in der Tat, Karl etwas besser zu verstehen.«

Wilma tätschelte Julie aufmunternd den Arm. »Und morgen, Kindchen, kommen Sie wieder an Deck. Verkriechen Sie sich nicht allein hier unten, das ist nicht gut.« Mit diesen Worten verabschiedete sich Wilma.

Doch Julie wollte sich verkriechen, am liebsten für immer, hier unter dieser warmen Decke. Allen Erklärungen und guten Vorsätzen zum Trotz: Sie hatte Angst. Angst vor Karl. Noch nie war sie geschlagen worden.