Kapitel 29

 

Drei Abende später fand in Smokys Bau etwas statt, das sich wahrhaft zu einer geheimen Beratung auswuchs. Eingeladen waren: meine Schwestern und ich, Iris und Maggie, Chase, Morio, Vanzir und Roz und eine bunte Mischung aus Menschen und ÜW.

Venus Mondkind vom Rainier-Rudel war da, und Wade von den Anonymen Bluttrinkern. Shamas, unser Cousin, und Lindsey Cartridge, die Leiterin des Green-Goddess-Frauenhauses, kamen auch, außerdem Tim Winthrop, VBM, Frauenimitator und Computergenie, der uns dabei half, eine Datenbank der ÜW-Gemeinde zu erstellen.

Unsere ehrfurchterregendsten Gäste jedoch waren die drei Feenköniginnen der Erdwelt, Titania, Morgana und Aeval. Während der Versammlung knisterte greifbare Spannung in der Luft.

»Sie müssten jeden Augenblick kommen«, sagte Camille in eine Unterhaltungspause hinein. »Trenyth, Königin Asterias Privatsekretär, hat uns über Großmutter Kojotes Portal benachrichtigen lassen, dass sie teilnehmen wollen. Anscheinend hat es im Bürgerkrieg zu Hause neue Entwicklungen gegeben.«

Sie saß mit Smoky am Kopf der Tafel, Morio zu ihrer Linken. Ein leerer Stuhl rechts symbolisierte den Platz, den sie für Trillian freihielten in der Hoffnung, er möge zurückkommen.

Jedes einzelne Möbelstück, jedes Glas und jeder Teller, einfach alles, was Smoky besaß, war vom Feinsten. Passt, dachte ich. Drachen liebten schöne Dinge und Geld. Seine Einrichtung war nicht protzig, sie bestand nur aus einer un-glaublichen Vielfalt unvorstellbar teurer Besitztümer, die er vermutlich über tausend Jahre oder länger angehäuft hatte. Die Möbel waren echte Antiquitäten, die Gläser mundgeblasen, und der Wein stammte aus den besten Jahren der besten Weinberge.

Ich blickte mich in seinem Bau um und staunte darüber, wie viel Platz sich unter einem unauffälligen Hügel verbergen konnte. Dieser Maulwurfshügel hätte ebenso gut ein Berg sein können. Smokys Bau erstreckte sich tief in die Erde und vermutlich in weitere Reiche. Kein Wunder, dass Camille immer sagte, sie fühle sich hier wie in einem bizarren, verzauberten Schloss bei Alice im Wunderland.

Dieser Raum war gut zehn Meter hoch, die Wände, die uns umgaben, bestanden auf drei Seiten aus Granit. Die vierte Seite endete an einer gewaltigen Schlucht, und von unten konnte ich Wasser rauschen hören. Ein Fluss wand sich dort durch die Kluft, aber sie war so tief und dunkel, dass ich ihn nicht erkennen konnte. Ich wollte mir das näher anschauen, zügelte jedoch meine Neugier. Im Augenblick stand Wichtigeres auf der Tagesordnung.

Chase war gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden. Wir waren offiziell wieder ein Paar. Wir hatten uns zwar noch nicht ganz auf die Regeln geeinigt, auf die wir unsere Beziehung gründen wollten, aber wir waren fest entschlossen, es zu schaffen. Ich saß da, hielt seine Hand und freute mich darüber, dass er lebte.

Ich blickte mich in dem großen Raum um. Noch hatte ich niemandem von der Begegnung mit meiner Schwester erzählt, und ich wusste nicht recht, warum.

Irgendetwas hielt mich davon zurück - vielleicht der Wunsch, dieses Erlebnis so lange wie möglich für mich zu behalten, ehe ich anderen erlaubte, es auseinanderzupflücken und zu analysieren.

In diesem Moment klopfte es, und Smoky ging zur Tür. Er trat zurück und verneigte sich elegant, als die Elfenkönigin -Königin Asteria - seinen Hügel betrat, gefolgt von Trenyth, ihrem Sekretär. Ich bemerkte, dass Smoky trotzdem weiter nach draußen starrte, einen überraschten Ausdruck auf dem Gesicht. Er sagte aber nichts, schloss gleich darauf die Tür und folgte den beiden zur langen Tafel.

Nach der Vorstellungsrunde berichteten alle ihre jeweiligen Neuigkeiten.

Venus fing an. »Zachary wird sich erholen, aber er fällt eine ganze Weile aus.

Seine Pläne mit der Gemeinderatswahl liegen auf Eis, deshalb drängen wir Nerissa, an seiner Stelle zu kandidieren. Ich habe die Ältesten auf Linie gebracht und fest darauf bestanden. Sie sind bereit, sie zu fördern, und sie sehen ein, dass es in unserem eigenen Interesse liegt, euch jegliche Hilfe anzubieten, die unser Rudel euch geben kann. Wir haben auch mit einigen der anderen Stämme gesprochen, die den Vertrag der Übernatürlichen-Gemeinschaft unterzeichnen wollen. Im kommenden Monat werden wir eine Miliz auf die Beine stellen. Sagen wir es mal so - sie haben von dem Zwischenfall mit den Trollen gelesen, und dann wurde Zachary von dem Räksasa schwer verletzt, und das hat sie endlich aktiv werden lassen.«

Tim erhob sich. »Ich bin mit der Programmierung der Datenbank fast fertig, und bald können wir eine Nachrichtenkette mit den entsprechenden Telefonnummern aufstellen. Wir werden sie an alle Ältesten der beteiligten Stämme ausgeben und an einzelne Mitglieder der Gemeinschaft, die die verschiedenen Komitees leiten.«

Venus beugte sich vor. »Das klingt gut. Aber was ist mit dem Datenschutz?«

Tim nickte. »Ich habe sie so aufgebaut, dass die Privatsphäre in gewissem Maß geschützt bleibt, wir aber trotzdem alle, die sich gemeldet haben, binnen einer Stunde erreichen können, sofern sie in der Nähe ihres Telefons sind. Aber die einzigen Leute, die Zugang zu sämtlichen Akten der Organisation haben werden, sind die Ratsversammlung, wenn sie denn gewählt wurde, und Camille, Menolly, Delilah und ich.«

Camille nickte und wandte sich Lindsey zu. »Was hast du für uns?«

Die schwangere und ausgesprochen glückliche Neue in unserer Gruppe lächelte schüchtern in die Runde. Lindsey war uns in Sachen Erin Mathews eine große Hilfe gewesen und unter den VBM-Hexen als Priesterin bekannt, deshalb hatten wir beschlossen, sie an Bord zu holen. Sie hatte entsetzliche Angst bekommen, als sie von den Dämonen erfahren hatte, aber sie war auch sofort bereit gewesen, uns zu helfen.

»Wie ihr wisst, sind die magisch und übernatürlich Begabten unter den Menschen weit verstreut und werden nicht ernst genommen, aber ich habe es geschafft, mehrere der größeren magischen Orden davon zu überzeugen, dass gefährliche Energien im Schwange sind und dass ihr versucht, sie abzuwehren. Wir arbeiten zusammen daran, bestimmte Gebiete der Stadt mit Schutzrunen abzuriegeln. Wir stehen noch ganz am Anfang, aber wir sollten die Verbrechensrate in diesen Vierteln im Auge behalten.

Mehrere der Feen, an die du uns verwiesen hast, machen mit und stärken unsere Magie. Es ist beängstigend, aber wir sind dabei.«

»Dann sieht es ganz so aus«, sagte Menolly, »als bekämen wir echte Verbündete.«

»Gut. Da wir gerade von Verbündeten sprechen, wir haben viel zu diskutieren und alle wenig Zeit. Wenn ihr mir also erlauben wollt, als Nächste zu sprechen«, sagte Königin Asteria, »kann ich vor dem Morgen nach Elqaneve zurückkehren.«

Sie schaute in die Runde, und bei den drei Feenköniginnen der Erdwelt blieb ihr Blick ein wenig länger hängen. »Zunächst einmal habe ich wichtige Neuigkeiten, was den Krieg in Y'Elestrial angeht. Tanaquars Streitkräfte haben die Stadt erobert, und sie sitzt nun auf dem Thron.«

Meine Schwestern und ich jubelten, doch Königin Asteria hob die Hand.

»Lethesanar ist auf der Flucht, aber sie und ihre Armeen ermorden jeden, der ihnen im Weg stehen könnte. Die Stadt steht in Flammen. Sie hat beschlossen, sie eher zu zerstören, als sie ihrer Schwester zu überlassen.«

Es drehte mir den Magen um, und Camille wurde blass. Menolly starrte die Elfenkönigin an, und blutige Tränen rannen aus ihren Augen. Unsere Heimat, unsere wunderschöne Stadt. Unsere Familie war verschwunden, und nun lag auch noch die Heimat unserer Jugend in Trümmern.

Camille stieß den Atem aus. »Zumindest hat Tanaquar die Stadt erobert. Wenn es ihr jetzt noch gelingt, Lethesanar wahrhaftig zu vernichten, kann Y'Elestrial vielleicht wieder aufgebaut werden.«

Königin Asteria nickte. »Ja, das ist die gute Neuigkeit. Aber die angerichtete Zerstörung ist gewaltig, so dass viel Zeit vergehen wird, bis Y'Elestrial zu seiner früheren Pracht zurückkehrt.«

»Wird Tanaquar uns Hilfe schicken, sobald sie in der Stadt wieder Ordnung geschaffen hat?« Menolly beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch.

»Oder stehen wir weiterhin allein da?«

Königin Asteria seufzte tief. »Die Todesdrohung gegen euch ist aufgehoben worden, aber es wird lange dauern, bis der AND sich wieder formiert hat.

Tanaquar hat deutlich gemacht, dass sie vorhat, die gesamte Regierungsstruktur zu reformieren. Ich habe versucht, ihr die Tragweite der Situation klarzumachen, aber sie ist ebenso stur wie ihre Schwester. Und... da ist noch etwas. Etwas, das sich in Zukunft als Problem erweisen könnte.« Sie hielt inne und sah Camille an.

»Meine Liebe, ich weiß, dass du nur getan hast, was die Ewigen Alten von dir verlangt haben, aber dass du den Zauber gebrochen hast, der Aeval in der Starre gefangen hielt, erregt einige Besorgnis, ebenso die Tatsache, dass du jetzt das Horn des Schwarzen Einhorns besitzt. Ich habe über beides Schweigen bewahrt, aber dennoch sind Gerüchte in die Anderwelt durchgesickert. Du und deine Schwestern - aber vor allem du - sorgt dort drüben in sämtlichen Stadtstaaten für hitzige Debatten.«

Camille errötete und sah so niedergeschlagen aus, dass ich sie am liebsten in den Arm genommen und den Schmerz weggepustet hätte.

»Großartig«, sagte ich. »Wir reißen uns hier drüben den Arsch auf, um unsere Heimat zu schützen, aber über uns wird kontrovers diskutiert? Sollen die doch mal ihren Kopf hinhalten, dann werden wir ja sehen, was sie zu sagen haben.«

Königin Asteria lächelte mich an. »Nur ruhig, Kind. Zwar können nur die Elementarfürsten und allerhöchsten Herren der Sidhe, die die Spaltung damals begonnen haben, Camille dafür bestrafen, dass sie ihren Zauber gebrochen hat.

Aber es gibt eine große Zahl Magier, die darüber nachdenken, wie sie Camilles Kräfte für sich beanspruchen könnten. Ihr alle müsst sehr vorsichtig sein. Der Feind ist nicht länger nur der Gegner, den ihr vor euch seht. Es könnte ebenso gut der Freund sein, von dem ihr glaubtet, er wolle euch unterstützen.«

»Seht ihr?«, warf Aeval kopfschüttelnd ein. »So danken es euch jene, die davongelaufen sind. Bleibt hier, ihr seid ebenso ein Teil unserer Welt.«

»Ruhe!« Königin Asteria erhob sich und funkelte die Dunkle Königin an. »Sei still. Hör auf, alles nur noch schlimmer zu machen. Ich überbringe nicht nur Neuigkeiten. Der eigentliche Grund für mein Kommen ist ein anderer. Ich will darüber sprechen, welche gemeinsamen Anstrengungen wir unternehmen können, um den Mädchen in ihrem Kampf gegen die Dämonen beizustehen. Sie scheinen fest entschlossen zu sein, die Armee gegen die Verdammten anzuführen, also müssen wir sie wohl unterstützen.«

Aeval seufzte schwer. »Na schön. Wir werden unsere kleinlichen Differenzen vorerst außer Acht lassen. Ich werde für die Drohende Dreifaltigkeit sprechen.« Sie lächelte uns dreien grimmig zu. Nun war ich es, die errötete. »Zur Sommersonnenwende werden wir die erste Versammlung von Erdwelt-Feen seit Tausenden von Jahren abhalten. Zu diesem Zeitpunkt werden wir die Oberhäupter der neuen Höfe krönen und unseren souveränen Status erklären. Wir werden uns nicht mit einzelnen Nationen verbünden, aber gegen jeden Feind kämpfen, der in dieser Welt Schaden anzurichten sucht.«

Titania strich sich übers Haar und lächelte gewinnend in die Runde. »Im Gegenzug werden wir die Autonomie beanspruchen. Wir haben ein Stück Land gekauft, auf dem unser Palast in dieser Dimension errichtet wird, und dies wird unser souveräner Staat sein. Zwar findet unsere Arbeit meist zwischen den Welten statt, aber unser Land wird eine sichere Zuflucht für Feen sein, und wir werden eine Botschafterin wählen, die uns in der Welt repräsentierten soll.«

Daraufhin fingen alle auf einmal an zu reden.

Titania stand auf und hob die Hand. »Unsere Feenmiliz wird euch ebenfalls zur Verfügung stehen, wenn ihr sie brauchen solltet. Wir haben die Absicht, sowohl magische als auch militärische Brigaden aufzustellen. Betrachtet uns als eine Art Spezialeinheit. Die Krieger werden übrigens Kontakt zum AETT halten. Also, Detective Johnson, könnten Sie eher Verstärkung bekommen, als Sie dachten.«

Es wurde still im Raum, während wir all das verdauten. Mein Herz fühlte sich auf einmal viel leichter an. Endlich einmal gute Neuigkeiten. Noch ein Monat, und wir würden schlagkräftige Verbündete haben. Nur noch ein Monat, und wir konnten auf Hilfe hoffen.

Königin Asteria lächelte. »Ich habe noch eine weitere Neuigkeit. Sobald ich die entsprechenden Vorbereitungen getroffen habe, werden wir mehr Personal für die medizinische Abteilung aus Elqaneve hierherschicken. Außerdem entsende ich einen ständigen Botschafter Erdseits. Tanaquar wird dasselbe tun. Vorerst jedoch hat sie mich gebeten, euch ihren neuen Ersten Berater vorzustellen.«

Weshalb sollte Tanaquar wollen, dass wir ihren Berater kennenlernten? Sollte er etwa unser neuer Vorgesetzter werden?

Trenyth warf der Königin einen Blick zu. »Dürfte ich wohl die Ehre haben, Euer Majestät?«

»Selbstverständlich«, sagte sie und nahm anmutig wieder Platz.

Trenyth wandte sich strahlend Camille, Menolly und mir zu. »Nach den schlimmen Nachrichten, die ich euch überbringen musste, ist es mir eine große Freude, euch den Mann vorzustellen, der in höchstem Range für Hof und Krone von Y'Elestrial arbeiten wird.«

Smoky ging stumm zur Tür und öffnete sie.

Ein Mann trat ein, in sattes Blau und Gold gekleidet, die Farben Y'Elestrials. Als er die Kapuze seines Umhangs zurückwarf, stieß Camille einen leisen Schrei aus, und Menollys Augen weiteten sich. Ich stand auf und konnte nicht glauben, was ich da sah. Den Blick auf das Gesicht meines Vaters geheftet, brach ich zitternd in Tränen aus.

»Delilah - was ist denn... «, begann Chase, doch ich riss mich von ihm los und rannte zur Tür. Wir alle drei stürmten auf ihn zu, doch Menolly hielt plötzlich inne. Er fing Camille und mich mit ausgebreiteten Armen auf. Er sah angestrengt und müde aus, doch er lebte. Sein Haar war zu dem rabenschwarzen Zopf zurückgebunden, in dem er es immer trug, und auf seinen glatten Wangen schimmerten Tränen.

»Meine Mädchen. Meine Mädchen. Ach, ich habe mir solche Sorgen gemacht... «

Ich begrub das Gesicht an seiner Schulter und hätte ihn am liebsten nie wieder losgelassen. Vater war hier. Vater war am Leben und in Sicherheit, und nun würde alles wieder gut werden.

Er ließ uns los, trat vor und starrte Menolly an. Blutige Tränen liefen ihr aus den Augen und befleckten ihr Gesicht. Unser Vater - Sephreh ob Tanu - hatte Vampire schon immer gehasst. Er verabscheute sie. Als wir von zu Hause fortgezogen waren, war sein Verhältnis zu Menolly angespannt gewesen. Er wollte sie lieben, doch wir alle hatten seinen Kampf in seinem Gesicht gesehen.

Doch nun ließ er den Kopf hängen und breitete die Arme aus. »Bitte verzeih mir, mein Kind. Verzeih mir. Ich habe mich falsch verhalten. Du bist meine Tochter, im Leben, im Tod und im Leben darüber hinaus. Und ich flehe dich an, mir zu verzeihen. Ich liebe dich. Ich nehme dich an, wie du bist, mit Reißzähnen und allem, was zu dir gehört.«

Menolly zögerte und warf mir einen Blick zu. Sie sah aus, als würde sie in Panik geraten. Der Kampf zwischen Hoffnung und Ungläubigkeit spiegelte sich in ihrem Blick. Und dann stand Roz auf und versetzte ihr einen Stoß. Gerade fest genug, dass sie in Vaters Arme stolperte. Während sie dastanden und einander im Arm hielten, dachte ich, dass die Zukunft zwar sehr düster aussah, wir aber zumindest einen guten Weg fanden. Allianzen schmiedeten. Pläne machten.

Ich warf Chase einen Blick zu. Alle Wahrscheinlichkeit stand gegen uns. Aber mit ein wenig Unterstützung hatten wir vielleicht doch eine Chance.

Camille, Menolly und ich saßen am Ufer des Birkensees. Bis Sonnenaufgang war es noch eine gute Stunde, also blieb uns ein bisschen Zeit, ehe Menolly sich für den Tag zurückziehen musste. Iris und Maggie schliefen tief und fest, und Vater hatten wir im Salon untergebracht.

»Wir wachsen aus unserem Haus heraus«, bemerkte Camille. »Morio und Trillian können bei mir bleiben, aber ich glaube, wir sollten eine Art Nebengebäude auf unserem Grundstück errichten. Dann können Roz, Shamas und Vanzir da schlafen, wenn sie hier übernachten. Ein bisschen wie in einem Mietstall.« Sie lächelte und starrte aufs Wasser, das sich unter den verblassenden Sternen kräuselte.

»Klingt nach einem guten Plan«, sagte Menolly. »Hatte Königin Asteria denn Neuigkeiten über Trillian?«

Camille schüttelte den Kopf. »Nein, und ich habe sie auch nicht danach gefragt.

Ich soll ja von seiner geheimen Mission nichts wissen, aber jetzt, da Vater in Sicherheit ist, werden wir bestimmt bald von ihm hören. Ich hoffe nur, dass er mit den ganzen Veränderungen klarkommen wird.« Sie seufzte tief und sah uns ein wenig nervös an. »Dann machen wir uns jetzt wohl auf die Suche nach dem fünften Siegel. Aber zumindest ist Vater in Sicherheit.«

Unser Vater war von einem Trupp Goldensön gefangen genommen worden, oder Goldenen Feen, wie sie oft genannt wurden. Sie hatten goldfarbene Haut und pechschwarze Augen, waren ausgesprochen xenophobisch und lebten hoch oben in den Bergen. Sie hatten ihn festgesetzt, als er versehentlich in ihre Höhle gestolpert war. Sie hatten ihm nichts getan, aber es hatte eine Weile gedauert, bis er sich hatte befreien können. Er hatte es dennoch geschafft, Königin Asteria seine bedeutende Information zu überbringen, die in diesem Krieg das Blatt gewendet und es Tanaquar ermöglicht hatte, Lethesanar zu vertreiben. Unser Vater war ein Held. In unseren Augen war er schon immer einer gewesen.

»Was ist nur aus Fraale geworden?«, fragte ich. »In dem Kampfgetümmel habe ich sie ganz aus den Augen verloren.«

»Sie ist in die Anderwelt zurückgekehrt. Roz sagt, dass sie nicht zusammen sein können, ohne sich zu streiten. Sie liebt ihn immer noch. Er glaubt nicht, dass sie eine Chance haben.«

»Vielleicht sollte er es zumindest versuchen«, flüsterte ich leise. Die Sterne funkelten zum Abschied, und der Mond war schon beinahe untergegangen - und ich wusste, dass es an der Zeit war. »Ich bin meiner Zwillingsschwester begegnet.« Und ich erzählte ihnen von ihr und von dem Kampf. »Aber sie hat mir ihren Namen nicht genannt. Ich werde Vater danach fragen. Er wird mir ehrlich erzählen müssen, was damals passiert ist.«

»Wir hatten also eine vierte Schwester«, sagte Menolly. »Das ist ein seltsamer Gedanke.«

»Wie soll es jetzt mit Chase weitergehen?«, fragte Camille nach kurzem Schweigen.

»Wir haben beschlossen, es zu versuchen. Wir versprechen einander vorerst keine Treue. Aber Chase hat mich nach etwas gefragt, und ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll.«

»Worum geht es denn?« Menolly sah mich ruhig an.

»Er will mehr über den Nektar des Lebens wissen. Ich glaube, er will sehr lange mit mir... mit uns... zusammenbleiben.« In der Tiefe meines Herzens wünschte ich mir das auch. »Ich werde mit Titania darüber reden. Sie wird es verstehen, und vielleicht kann sie uns helfen, zu verhindern, dass mit Chase das Gleiche geschieht wie mit Tarn Lin. Wenn er nur eine kleine Dosis nimmt - nur so viel, dass er mich während meiner Lebensspanne begleiten kann... vielleicht würde es dann funktionieren.«

Danach gab es nicht mehr viel zu sagen, und zum Glück versuchten meine Schwestern es nicht einmal. Wir sahen noch ein paar Minuten lang zu, wie das Wasser ans Ufer plätscherte, dann nahm Menolly meine Hand und zog mich auf die Beine.

»Komm mit, Kätzchen. Ich glaube, jetzt kommt Jerry Springer. Mir bleibt noch etwa eine Stunde. Ich setze mich mit dir vor den Fernseher, und wir können Maggie füttern, während Iris und Camille ein riesiges Frühstück für alle machen.«

Plötzlich war mir ganz leicht ums Herz. Ich schob meine Sorgen beiseite, schüttelte mich und lief los, den Pfad entlang. Camille und Menolly rannten mit voller Kraft hinter mir her, und wir drei lachten unter dem dunklen, ernsten Mond. Wir liefen nach Hause. Nach Hause zu unserem Vater. Zu unseren Liebsten. Nach Hause zu unserer Familie.

 

 

Ende - Schwestern des Mondes 05 - Katzenkrallen