Kapitel 21

 

Nein, nein, nein... «, wimmerte ich. Wenn ich mich doch nur in das Tigerkätzchen verwandeln und mich in irgendeiner sicheren Ecke verkriechen könnte. Ich wollte nicht diejenige sein, die die Leichen fand. Ich wollte nicht sehen, was Karvanak in unserem Zuhause angerichtet hatte. Wo war Camille? Sie konnte so etwas besser als ich. Warum war sie nicht da? Sie war meine große Schwester, und es war ihre Aufgabe, sich um uns zu kümmern.

Ich wiegte mich auf den Fersen vor und zurück, das Gesicht in den Händen verborgen, und versuchte, die Zerstörung um mich herum zu vergessen. Ich sollte mich inzwischen längst verwandelt haben. Warum übernahm mein Körper nicht wie sonst die Kontrolle und zwang mich, das zu tun, was ich im Grunde wollte? Jahrelang war diese unfreiwillige, nicht beherrschbare Verwandlung meine Zuflucht vor Angst und Zorn gewesen, eine Befreiung von Streit und Ärger. Wo war sie jetzt, da ich sie wirklich brauchte?

Gleich darauf begriff ich, dass sie nicht kommen würde. Erleichtert und zerknirscht zugleich blickte ich mich um. Der Drang zur Verwandlung hatte sich auf ein erträgliches Maß abgeschwächt. Einen Augenblick später bekam ich auch wieder Luft. Ich stand auf und schluckte meine Angst hinunter. Dann straffte ich die Schultern. Mir blieb keine andere Wahl. Ich würde mich allem stellen, was der Räksasa angerichtet haben mochte.

Mein Puls raste, als ich das Handy aufklappte und im Indigo Crescent, Camilles Buchhandlung, anrief. Sobald sie dranging, sagte ich: »Komm sofort nach Hause. Die Dämonen waren hier. Und versuche Smoky zu erreichen. Wir brauchen ihn vielleicht.«

Ich steckte das Handy in die Tasche und rückte langsam zur Treppe vor. Ich besaß die Gabe, mich beinahe lautlos zu bewegen - wie eine Katze. Die nutzte ich jetzt vol aus und glitt die Treppe hinauf in Camilles Stockwerk. Alle Türen standen offen.

Ich überprüfte jedes Zimmer. Alles war auseinandergerissen worden. In ihrem Schlafzimmer lagen überall Kleider herum. Ich warf einen Blick in ihr Arbeitszimmer.

Ihre magischen Öle waren ausgeschüttet, magische Gegenstände zerstört worden, doch von den Eindringlingen war nichts zu sehen. Den Göttern sei Dank dafür, dass sie das Einhorn-Horn bei sich trug.

Während ich mich zu meinem eigenen Stockwerk emporarbeitete, lauschte ich aufmerksam und versuchte, irgendein auffälliges Geräusch aufzuschnappen. Als ich den zweiten Stock erreichte, erwartete mich das gleiche Bild. Alles war über den Boden verstreut, ein paar Sachen zerstört, aber es war niemand da.

Blieb nur noch Menollys Unterschlupf. Ich betete darum, dass ihr nichts geschehen war und dass ich vielleicht sogar Iris und Maggie lebendig wiederfinden würde. Ich rannte die Treppe hinab und prallte gegen Camille, die gerade mit Smoky im Wohnzimmer erschien.

Smoky hatte einen Arm um Camilles Taille gelegt.

»Wir sind über das Ionysische Meer gekommen«, erklärte sie und blickte etwas desorientiert drein. »Das Auto habe ich vor dem Laden stehenlassen.«

»Den Göttern sei Dank, dass ihr da seid«, sagte ich. »Ich habe Iris und Maggie noch nicht gefunden, aber den ersten und zweiten Stock habe ich schon durchsucht, und da ist nichts von Blut, Leichen oder den Dämonen zu sehen. Riechst du das? Karvanak war hier.«

Sie atmete tief ein und wurde blass, als sie den Duft des Räksasa erkannte. »Das darf nicht wahr sein.«

»Wir müssen nach Menollys Unterschlupf schauen.« Ich schob mich an ihr vorbei.

Vor dem Bücherregal in der Küche hielt ich inne. Smoky stand hinter uns. Ich warf Camille einen Blick zu, doch sie schüttelte den Kopf. »Er wird es ja doch irgendwann herausfinden. Mach auf.«

Und so enthüllten wir zum zweiten Mal, seit wir hierhergezogen waren, jemandem den Eingang zu Menollys sicherem Unterschlupf. Als das Regal aufschwang, sagte Smoky nichts, nickte mir aber knapp zu.

Ich schlüpfte durch die dunkle Öffnung und schaltete das trübe Licht ein, das die Treppe zu Menollys Nest beleuchtete. Während wir langsam hinabstiegen, bemühte ich mich, den Geruch des Dämons zu wittern, aber hier hing kein verräterischer Geruch in der Luft, der darauf hinwies, dass er den Unterschlupf gefunden hatte.

»Iris? Iris?«, rief Camille leise in die Tiefe des Kellers hinab, den wir für Menolly ausgebaut hatten. Als ich den Fuß auf die unterste Stufe setzte, sah ich mich plötzlich Iris gegenüber, deren blaue Augen vor Angst und Zorn weit aufgerissen waren. Maggie versteckte sich hinter ihr, und Iris hielt ihren Zauberstab mit dem Aqualin-Kristall an der Spitze in der Hand.

»Bleibt, wo ihr seid«, sagte sie und richtete den Zauberstab auf uns.

»Wir sind es, Iris... « Ich unterbrach mich. Sie war zu Recht so misstrauisch. Räksasas waren Meister der Illusion. Wir hätten leicht der Dämon und seine Kumpane sein können, verborgen hinter einem Trugbild. »Nur zu. Sprich deinen Desillusionierungszauber, dann kannst du sicher sein.«

Sie hob den Zauberstab, und ich konnte sehen, dass ihre Hand zitterte. Aber sie rief mit lauter, klarer Stimme: »Piilevä otus, tulee esiin!«

Licht schwappte über uns hinweg wie eine Welle, und ich fühlte mich etwas seltsam, aber es geschah nicht viel, außer dass ich einen Augenblick lang glaubte, ich würde mich in das Tigerkätzchen verwandeln. Als das Licht erlosch, ließ sie den Zauberstab sinken, sackte auf dem Boden zusammen und zog Maggie in ihre Arme.

»Den Göttern sei Dank, den Göttern sei Dank... Ich dachte... «

»Du dachtest, wir seien die Dämonen«, sagte ich und eilte zu ihr. Camille sah nach Menolly. Wenn Menolly in ihren Träumen wandelte, sah sie blass und fahl aus, tot wie der Vampir, der sie war. Sie lag stil da, atmete nicht und machte nicht eine einzige Bewegung. Manchmal fragte ich mich, wohin sie in ihren Träumen reiste, aber sie wollte es uns nicht erzählen. Ich wusste nur, dass sie manchmal ihre Erinnerungen durchwanderte.

Ich küsste Iris auf die Stirn und wollte ihr aufhelfen, als Smoky mich sacht beiseiteschob.

Er hob Iris mitsamt Maggie hoch und trug sie mühelos die Treppe hinauf. Camille und ich folgten ihm und verschlossen das Bücherregal fest und sicher, sobald wir wieder in der Küche angelangt waren. Smoky stellte Iris neben ihrem Schaukelstuhl ab und bedeutete ihr, sich hinzusetzen.

»Tee«, sagte er zu Camille.

Sie nickte und suchte im Durcheinander von Töpfen und Pfannen auf dem Boden herum. Sie fand den Edelstahlkessel - verbeult, aber noch zu gebrauchen -, füllte ihn mit Wasser und stellte ihn auf den Herd.

Unsere Teekannen waren alle zerbrochen, aber ich schaffte es, vier heile Becher aufzutreiben. Sämtliche Schränke waren ausgeräumt worden, aber ich fand eine Schachtel Kräuterhimmel Limonentraum und ließ in jeden Becher einen Teebeutel fallen.

Iris zitterte vor sich hin, während Camille bei ihr saß und Maggie im Arm hielt. »Kannst du uns sagen, was passiert ist?«, fragte meine Schwester.

»Kurz nachdem ihr gegangen seid, habe ich den Abwasch vom Frühstück gemacht und plötzlich ein lautes Krachen aus dem Wohnzimmer gehört. Ich habe nicht gerufen.

Erstens wusste ich ja, dass ihr alle gegangen wart, und zweitens klang es nicht wie die Tür, sondern eher so, als hätte jemand ein Regal oder sonst etwas umgeworfen. Und dann habe ich es gerochen. Orange und Vanillezucker und Jasmin... da wusste ich, dass Karvanak im Haus war.« Sie ließ den Kopf hängen. »Ich habe mich nicht getraut, durch die Hintertür nach draußen zu laufen, weil ich dachte, er hätte vielleicht Wachen postiert.

Also habe ich mir Maggie geschnappt und bin in Menollys Keller geschlüpft. Als der Riegel zugeschnappt ist, habe ich jemanden in die Küche kommen hören. Einen Augenblick später, und es wäre zu spät gewesen. Dann gab es einen fürchterlichen Krach, Gebrüll und Scheppern. Ich habe mich im Dunkeln verkrochen und gewartet. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Ich hatte mein Handy nicht bei mir, und als ich Menollys Telefon auf dem Nachttisch benutzen wollte, war die Leitung tot.«

Ich nahm den Hörer aus der Wandhalterung und lauschte. »Kein Freizeichen. Sie müssen draußen die Leitung durchtrennt haben.«

Camille reichte Maggie an Iris zurück und ging zu den Überresten des Laufstalls hinüber.

Sie nahm eine große Bratpfanne von der weichen Unterlage, zog das Kissen aus dem Schutt und vergewisserte sich, dass keine Glasscherben daran festhingen. Dann legte sie Maggie auf das Kissen und setzte sich neben ihr auf den Boden.

Iris ließ mit tiefem Seufzen den Blick durch den Raum schweifen. »Wie sieht es im übrigen Haus aus?«

»Genauso schlimm wie in der Küche. Bis auf Menollys Höhle. Wir haben eine Menge Arbeit vor uns. Vieles wird nicht mehr zu retten sein.« Der Kessel pfiff, und ich bereitete den Tee zu.

»O Mann, was ist mit dem Flüsterspiegel?« Camille sprang auf.

»Ich habe nicht darauf geachtet«, sagte ich, und sie rannte zur Treppe.

Ich presste mir die Fingerspitzen an die Schläfen. Gewaltige Kopfschmerzen pochten schon hektisch in meinem Hinterkopf. Willkommen, Migräne, dachte ich.

Smoky öffnete die Tür des Kühlschranks. Den hatten die Dämonen offenbar ignoriert. Der Inhalt war unversehrt. Er holte eine Packung Weißbrot heraus, kalten Braten und was man sonst noch für Sandwiches brauchte, und machte sich schweigend an die Arbeit. Eines musste ich ihm lassen: Wenn es darauf ankam, tat er, was getan werden musste, ohne Aufforderung und ohne zu jammern.

Camille kehrte in die Küche zurück, als Smoky gerade mit einer Platte Roastbeef-Sandwiches fertig war. Alle sahen sie an.

Sie schüttelte den Kopf. »Zerbrochen. Wir müssen jemanden durch das Portal zu Königin Asteria schicken und sie fragen, ob sie noch einen für uns hat. Meine sämtlichen Zauberkomponenten sind zerstört. Ein paar fehlen ganz. Und nicht so schlimm, aber sehr ärgerlich - mein Schminkkoffer ist ausgekippt worden, alles kaputt. Ich danke den Göttern für den Parkettboden. Wenn ich im Schlafzimmer Teppichboden hätte, wäre der ruiniert.« Sie zückte ihr Handy. »Ich rufe Morio und Roz an. Wir brauchen Hilfe.«

Während Camille leise telefonierte, ging Iris hinters Haus und schleifte eine Mülltonne herein. Das Sandwich in der einen Hand, begann ich mit der anderen größere Scherben von zerbrochenen Gläsern und zerbeulte Töpfe in die Tonne zu werfen.

Iris kniete sich neben den Tisch, wo mindestens vier ganze Gedecke von unserem besten Porzellanservice in tausend Stücke zersprungen waren. Sie sammelte die beiden Hälften einer Servierplatte auf und ließ den Kopf hängen.

»Es tut mir so leid, ihr Mädchen. Ich hätte sie irgendwie aufhalten müssen.«

»So ein Unsinn«, sagte Smoky. »Du hattest Glück, dass du es noch geschafft hast, dich zu verstecken. Du hast dein Leben gerettet, und den Welpen. Ansonsten wärt ihr jetzt beide Dämonenfutter. Räksasas sind Kannibalen, weißt du? Sie fressen alles, was sich auf zwei oder vier Beinen bewegt. Karvanak hätte dich bedenkenlos zu Mittag verspeist und Maggie als Nachtisch hinterhergeworfen. Also komm gar nicht erst auf den Gedanken, du hättest mutiger sein müssen. Du hast das einzig Kluge getan. Jetzt setz dich an den Tisch und iss.«

Iris lächelte ihn dankbar an. »Dafür danke ich dir, Freund Drache. Ich habe mich so hilflos gefühlt, als ich da im Dunkeln saß. Etwa zwei Stunden lang habe ich mich gefragt, ob ich jetzt wieder rausgehen könnte. Sollte ich es versuchen? Sollte ich noch abwarten?

Was, wenn Delilah oder Camille nach Hause kamen und der Räksasa noch im Haus war?

Das war einer der schlimmsten Vormittage meines Lebens, kann ich euch sagen.«

Ich starrte auf das Chaos. Nun, da meine Sorge um Maggie und Iris besänftigt war, erwachte ein neues ungutes Gefühl in mir. »O Scheiße. Verdammt!«

»Was ist? Was ist los?«, fragte Camille, die gerade ein paar heil gebliebene Teller aussortierte.

»Chase! Ich war in seiner Wohnung und habe ihn gesucht. Das Wohnzimmer war total verwüstet. Als Nächstes war ich bei Erika, aber die hat gesagt, sie hätte ihn seit gestern Nachmittag nicht mehr gesehen, und ich bin ziemlich sicher, dass sie die Wahrheit sagt.«

Es drehte mir den Magen um. War Karvanak etwa dort gewesen? Ich hatte seinen typischen Duft nicht wahrgenommen, aber schließlich hatte er genug Lakaien, die ihm Arbeit abnahmen.

»Glaubst du... « Camille ließ die Mülltüte fallen. »Du glaubst doch nicht, dass die Dämonen ihn entführt haben, oder?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich kläglich. »Da war kein Blut - jedenfalls habe ich keines gesehen. Nur das Wohnzimmer war auf den Kopf gestellt worden. Als ich gefahren bin, kam Sharah gerade an. Aber könnte das nicht auch Zufallsein? Iris, hast du irgendeine Ahnung, wonach die Dämonen gesucht haben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Vielleicht nach dem Siegel?« Mit einem lauten Seufzen bedeutete sie Camille, sich zu uns an den Tisch zu setzen, dann wackelte sie mit den Fingern. Der Kehrbesen und die Schaufel, mit denen Camille eben noch hantiert hatte, erhoben sich in die Luft und machten sich allein an die Arbeit. »Wir brauchen uns wirklich nicht mit dieser Schweinerei herumzuschlagen, wenn das Werkzeug die Arbeit auch selbst tun kann.«

»Oder wen«, sagte Smoky gleich darauf.

»Wen was?«, fragte ich. Camille hatte im Kühlschrank Kartoffelsalat gefunden und verteilte ihn. Er passte gut zu Smokys Sandwiches, die so reichlich mit Roastbeef und Käse belegt waren, dass man die Tomaten, den Salat und das Weißbrot kaum herausschmeckte. Ich hatte nichts dagegen. Ich war Fleischfresserin. Ich biss in mein zweites Sandwich und schloss die Augen, als leicht rohes Rindfleisch meine Kehle hinabglitt.

»Ich meine, vielleicht haben die Dämonen nicht etwas gesucht, sondern jemanden. Was, wenn sie es auf Iris und Maggie abgesehen hatten? Alle eure Autos waren weg bis auf Menollys, und Karvanak weiß, dass sie ein Vampir ist. Er wusste also, dass sie schlafen würde. Euch ist sicher aufgefallen, dass sie nicht nachts oder am frühen Morgen gekommen sind, wenn ihr alle zu Hause und wach gewesen wärt.«

Es gefiel mir nicht, worauf das hinauslief.

»Ich glaube, die Dämonen haben auf eine Gelegenheit gewartet, Iris allein und schutzlos zu erwischen«, sagte er.

»Du meinst, sie wollten sie töten?«, fragte Camille und sank auf den nächsten Stuhl nieder.

»Nicht unbedingt. .« Smoky verstummte mitten im Satz, als mein Handy klingelte.

Ich klappte es auf. »Hallo?«

Eine tiefe Stimme, maskulin und kehlig, meldete sich. »Spricht da Delilah D'Artigo?«

»Ja«, sagte ich. In meinem Bauch schrillten Alarmglocken. Die Energie, die diese Stimme aussandte, war so bedrohlich, dass sich mir die Haare im Nacken sträubten.

»Hier ist Karvanak. Halt die Klappe und hör zu. Das Leben deines Freundes hängt davon ab, wie gut du in der Lage bist, Anweisungen zu befolgen.«

Zur Hölle! Sie hatten Chase tatsächlich. Hastig legte ich den Finger an die Lippen und winkte Camille zu mir heran, damit sie mithören konnte.

»Ich höre«, antwortete ich.

»Braves Mädchen«, sagte er. »Die Sache läuft folgendermaßen. Ich weiß, dass ihr das vierte Geistsiegel habt, also spar dir die Mühe, mich anzulügen. Du händigst mir das Siegel und meinen abtrünnigen Lakaien aus. Ich gebe dir deinen Freund zurück - relativ unberührt. Klingt das gut?«

Scheiße, er glaubte, dass wir das Siegel noch hatten. Aber natürlich. Woher sollte er oder sonst einer der Dämonen wissen, dass wir es zu Königin Asteria brachten? Schatten schwinge glaubte vermutlich, dass wir die Siegel sammelten, um sie für unsere eigenen Zwecke zu benutzen! Ich hielt den Mund. Manchmal mochte ich naiv sein, aber dumm war ich nicht. Camille warf mir mit zusammengebissenen Zähnen einen Blick zu.

»Wie viel Zeit haben wir, es zu finden? Wir haben das Siegel nicht. Noch nicht.«

»Natürlich habt ihr es. Aber auf die rein hypothetische Gefahr hin, dass ihr das gute Stück noch nicht aufgespürt habt, will ich großzügig sein. Denk gut darüber nach, was dein Detective dir bedeutet. Eines solltest du wissen: Falls du dich entschließt, unsere Abmachung nicht einzuhalten, verschwindet dein Freund für immer in den Unterirdischen Reichen, wo ich ihn in die Sklaverei verkaufen werde.«

Ich holte tief Luft und erwiderte: »Woher soll ich wissen, dass Chase überhaupt noch lebt?«

»Eine logische Frage. Damit habe ich gerechnet, also sag deiner Schwester - oder diesem verdammten Geist, den ihr bei euch wohnen lasst -, sie soll vor der Haustür nachsehen.

Ich warte so lange.«

Ich gab Camille einen Wink. Sie eilte zur Haustür. Als sie zurückkam, war sie aschfahl und hielt mir mit zitternder Hand eine kleine, offene Schachtel hin. Darin lag das letzte Glied eines kleinen Fingers und ein Ring. Es sah so aus, als sei das Stück Finger abgebissen worden. Der Ring gehörte Chase. Ich zwang mich, die aufsteigende Galle hinunterzuschlucken.

»Was zum Teufel hast du mit ihm gemacht?« »Gefällt dir unser kleines Geschenk?«

Karvanak lachte. »Als Zugabe lasse ich dich sogar mit ihm sprechen.« Mit einem gedämpften Geräusch wurde das Telefon offenbar weitergereicht, und dann hörte ich eine vertraute Stimme.

»Delilah... Delilah... « Chase hörte sich an, als hätte er Schmerzen, und er klang verzweifelt.

»Chase! Bei allen Göttern, geht es dir gut? Dein Finger... « Ich wollte ihn fragen, wo er war, aber Karvanak war schlau. Er würde Chase sofort töten, wenn er auch nur den Verdacht hegte, dass ich ihm irgendwelche Informationen entlockte.

»Mein Finger ist nicht so wichtig«, sagte Chase. »Hör mir zu. Es tut mir leid, alles tut mir leid. Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch... «, sagte ich, dann brach ich in Tränen aus. »Wir retten dich. Halte durch. Tu, was sie sagen. Wir kommen und holen dich da raus.«

»Nein! Lasst euch nicht darauf ein«, sagte Chase mit heiserer, angsterfüllter Stimme. »Ihr dürft ihnen das Siegel nicht über. .«

»Genug.« Karvanak war wieder dran. »Benutzt seine Fingerspitze für eine Divination, wenn ihr euch davon überzeugen wollt, dass sie von ihm stammt. Und denk daran: In den Unterirdischen Reichen gibt es eine Menge Dämonen, die gern mit Menschen spielen. Sie sind als Sklaven sehr gefragt, und als Spielzeug. Und wir haben die Kunst, unsere Gefangenen am Leben zu erhalten, auch wenn sie lieber sterben würden, zur Vollendung gebracht.«

Ich hielt den Mund. Es würde Chase überhaupt nichts nützen, wenn ich mir mein Entsetzen anmerken ließ. »Wir brauchen Zeit... «

Karvanak lachte. »Dachte ich es mir doch, dass wir uns einig werden. Ich bin heute großzügig gestimmt. Du hast sechsunddreißig Stunden. Erwarte keine Verlängerung und achte darauf, dass deinem Handy nicht der Saft ausgeht. Beides wäre gar nicht gut für ihn.«

Er legte auf, und ich klappte mein Handy zu und sah die anderen an.

»Du konntest mit Chase sprechen?«, fragte Camille. Ich nickte.

»Ich nehme an, Karvanak will das vierte Geistsiegel.«

»Er will ein bisschen mehr als das. Er hat außerdem verlangt, dass wir ihm Vanzir übergeben. Wenn nicht, wird er Chase in die U-Reiche bringen und in die Sklaverei verkaufen.« Mein ganzer Zorn auf Chase zerrann in einem Meer von Sorge. Ich brach zusammen, legte den Kopf auf den Tisch und ließ den brennend salzigen Tränen freien Lauf. »Ich darf nicht zulassen, dass ihm irgendetwas geschieht. Ich... ich... «

Camille legte mir die Hand auf die Schulter. »Du liebst ihn, obwohl du böse auf ihn bist.«

Als ich nickte, streichelte sie mir den Rücken, und Iris beeilte sich, noch mehr Tee zu kochen. Was zum Teufel sollten wir jetzt tun? Ich konnte nicht länger die Tapfere spielen, gab meiner Angst nach und weinte, bis keine Tränen mehr kamen.