Kapitel 12

 

Das Dickicht endete etwa zwanzig Meter weiter an einer Lichtung um einen kleinen See oder großen Weiher - ich wusste nicht genau, wie ich das bezeichnen sollte, und es war mir auch egal. Gewässer machten mich nervös. Als wir aus dem dornigen Gestrüpp taumelten, drang mir der Geruch von brackigem Wasser in die Nase, und ich verzog das Gesicht. Das Wasser konnte kaum Zu- oder Ablauf haben, sonst würde es nicht so stinken. Auch Camille rümpfte die Nase.

»Gütige Götter, das stinkt ja grauenhaft. Schaut - die Oberfläche ist ganz mit Algen bedeckt.« Sie deutete auf das Wasser.

Wir konnten das andere Ufer deutlich sehen, aber für kein Geld der Welt würde ich dieses Gewässer ohne ein solides Boot überqueren. Erstens konnte ich nicht schwimmen.

Nicht so richtig. Zweitens schwamm eine dünne Schicht schleimiger, grünlicher Algen auf dem Wasser. Entzückend. O ja, in diesem Pool wollte ich genauso gern eine Runde drehen wie ein Vierbeiner-Rennen mit Speedo laufen, dem Basset der Nachbarn. Speedo bellte nicht nur die ganze Nacht lang, er erzählte mir auch Geheimnisse, die ich nicht unbedingt wissen wollte. Zum Beispiel, dass seine Besitzer gern aufs Hinterteil schlugen.

Sich gegenseitig - nicht ihn. Ich hatte ihm gesagt, dass ich von so etwas lieber nichts wissen wollte, aber er wollte unbedingt dahinterkommen, was sie an einem Klaps auf den Hintern so toll fanden - für ihn war das eindeutig eine Bestrafung, wenn er zum Beispiel seine guten Manieren vergaß und auf den Teppich pinkelte.

Nachdem wir rasch die unmittelbare Umgebung überprüft und nichts außer den ganz normalen Gefahren gefunden hatten, als da wären Spinnen, Schlangen und einen zähnefletschenden Wurzhauer, traten Smoky und Morio zurück und überließen alles weitere Iris.

Camille und ich setzten uns auf einen umgestürzten Baumstamm. Wir waren ziemlich nutzlos, wenn es um die Jagd nach Kräutern ging. Camille unterhielt einen Kräutergarten, aber der war sehr ordentlich und gepflegt, und sie wusste, was wo wuchs, weil sie Schildchen zu den Sämlingen gekauft hatte. Ich war ein aussichtsloser Fall, was Pflanzen anging. Ich aß sie nicht einmal gern. Gemüse war nicht mein Ding, und Camille musste mich bestechen, damit ich meinen Brokkoli oder meine Karotten aufaß.

Morio ging neben Iris her, während Smoky den Wald im Auge behielt und dafür sorgte, dass uns nichts Hässliches überraschte. Der Vormittag verstrich, es wurde Mittag, und die Sonne schien, wenn auch nicht sonderlich warm. Während wir dem Summen der Insekten lauschten, fiel mir auf, dass kein unablässiger, dumpfer Verkehrslärm zu hören war, oder plärrende Fernseher und Radios, oder auch nur das stete Brummen der elektrischen Leitungen.

»So eine Ruhe habe ich nicht mehr gehört, seit... seit wir von hier weggezogen sind.« Ich lehnte mich zurück und genoss die Stille.

Camille nickte. »Ich weiß. Sie fehlt mir. Aber ich würde auch Dinge aus der Erdwelt vermissen. Ich fürchte, wenn ich mich ein für alle Mal entscheiden müsste, wo ich leben will , würde mir das sehr schwerfallen. Natürlich würde ich mich wahrscheinlich doch für die Anderwelt entscheiden... aber... «

»Aber Mutters Heimatwelt hat auf dich abgefärbt«, sagte ich und lächelte schief. »Auf mich auch, glaube ich. Und Menolly mag die dunklen Straßen der Stadt.« Ich stupste ein Steinchen mit dem Fuß an und sah zu, wie es das Ufer hinunter in den Weiher kullerte.

»Glaubst du, dass wir je wieder hier leben werden? Dauerhaft, meine ich?«

Camille runzelte die Stirn. Sie starrte aufs Wasser und atmete so leicht, dass ich das Auf und Ab ihrer Brust kaum erkennen konnte. Schließlich sagte sie: »Ich weiß es nicht, Kätzchen. Ganz ehrlich. Ich weiß nicht, ob überhaupt eine von uns den bevorstehenden Krieg überleben wird. Wir sind schon ein paarmal nur knapp davongekommen, und wer weiß, ob nicht eines Tages... ein kleiner Fehler, und...« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich finde, wir sollten einfach versuchen, jeden Tag zu nehmen, wie er eben ist.«

»Einen Tag nach dem anderen, was? Ich wusste gar nicht, dass du so philosophisch bist«, entgegnete ich lächelnd.

Sie blinzelte erstaunt. »Vor einem Jahr war ich das auch noch nicht. Aber nach allem, was passiert ist... Heute freuen wir uns darüber, zu Hause in der Anderwelt zu sein, selbst wenn wir nur den Finstrinwyrd zu sehen bekommen. Morgen werden wir es genießen, wieder zu Hause bei Maggie zu sein, zurück in der Stadt. Ich wüsste nicht, wie wir uns sonst davon abhalten könnten, wahnsinnig zu werden.«

Iris winkte mir von einem Fleckchen dichtem Gras aus zu, etwa drei Meter links von uns dicht am Ufer. »Ich habe es gefunden! Delilah, komm her.«

Ich stand langsam auf und wischte mir die Hände am Hosenboden ab. »Was macht deine Hand? Fühlst du dich auch gut? Noch nicht erschöpft oder so?«, fragte ich, als ich Camille die Hand hinstreckte, um ihr aufzuhelfen.

Sie sprang allein auf und schüttelte den Kopf. »Sie brennt, aber die Wunde heilt gut. Ich werde schon wieder, Kätzchen. Mach dir um mich keine Sorgen. Sharah versteht ihr Handwerk. Jetzt geh zu Iris.«

Sie schloss sich Smokys Wache an, und ich ging zögerlich hinüber zu Iris, die ein Büschel Wildgras geteilt hatte. Sie deutete auf eine große Pflanze. Die Blätter erinnerten vage an eine Geranie - gezackt und behaart, nicht glänzend. Der Geruch, der von den winzigen violetten Blüten mit spitzen Kelchblättern aufstieg, war moschusartig, schwer und drückend. Die Pflanze war fast einen Meter hoch und reichte Iris beinahe bis zum Kinn.

»Das ist Pantheris phir? Sieht aus wie eine Rosengeranie. Siobhan hat sie bei sich auf dem Balkon.« Ich kniete mich neben die Pflanze und untersuchte sie. Die Wurzeln sahen dick und etwas klebrig aus, der Stengel war bis etwa dreißig Zentimeter über dem Boden verholzt, und ich hatte das Gefühl, dass auch der Rest holzig und hart werden würde, wenn die Pflanze weiter wuchs.

»Ja, das ist Pantheris phir. Pantherzahn in der Sprache der nördlichen Elfen. Das ist eine sehr mächtige Pflanze, Delilah, und du kannst sie nicht im Ganzen nehmen, denn dafür würde sie dich bestrafen. Du musst mehrere Stecklinge abschneiden - ich bin sicher, dass ich mindestens einen dazu bringen kann, Wurzeln auszutreiben -, aber du musst eine Gegengabe zurücklassen.« Sie holte eine Kelle und eine Gartenschere aus ihrem Rucksack. »Ich kann das nicht für dich machen. Dir wurde befohlen, das Kraut selbst zu ernten, also musst du es tun.«

»Wie soll ich das machen, ohne die Pflanze oder die Stecklinge zu beschädigen?« Ich starrte das Kraut an und wusste nicht recht, wie ich vorgehen sollte.

»Du musst ihr dein Geschenk darbringen, und dann werde ich dir zeigen, wo du schneiden kannst.« Sie holte einen Plastikbeutel hervor, in den ein paar Löcher gestanzt waren. Darin lag ein Stück Küchenpapier, das sie nun mit etwas Wasser begoss und ausdrückte.

»Wir wickeln die Stecklinge in das feuchte Küchenpapier und stecken sie dann in den Plastikbeutel. Das wird sie am Leben erhalten, bis wir sie zu Hause ins Wasser stecken, damit sie Wurzeln austreiben. Wenn sie dann bereit zum Einpflanzen sind, schaffen wir im Garten einen besonderen Platz für sie. Außerdem solltest du von den Blättern für deinen Tee so viel mitnehmen, dass es reicht, bis deine eigene Pflanze stark genug ist, um jeden Monat beerntet zu werden. Für eine Tasse Tee brauchst du nur wenig abzuzwicken.«

Ich betrachtete die Pflanze. Was konnte ich ihr anbieten als Gegenleistung für einen Teil ihres Körpers? Ich hob den Blick und sah Iris an. »Blut und Haare von mir? Wäre das ein angemessenes Opfer? Immerhin reiße ich der Pflanze Teile ihres Körpers ab und nehme sie mit.«

Sie lächelte sanft. »Du hast eine Menge gelernt, Delilah. Ja, das wäre sehr angemessen.

Bring ihr deine Gabe an den Wurzeln dar. Das wird die Verbindung der Stecklinge mit der Mutterpflanze stärken. Also los, und sag dazu, was immer dir einfällt und passend erscheint.«

Immer noch unsicher, tastete ich mich zu dem vor, was sich richtig anfühlte. Ich nahm meinen Dolch und bohrte ein kleines Loch neben die sichtbaren Wurzeln der Pflanze.

Ich hielt eine Strähne meines Haars vom Kopf weg und schnitt sie mit dem Dolch ab, so dass ich nun eine Art seltsamen, schiefen Pony auf der rechten Stirnseite trug. Ich schob das Haar tief in die Erde und hoffte, dass kein anderes Wesen es hier fand. Haar und Blut konnten eine sehr starke magische Verbindung herstellen. Das hatte ich oft genug von Camille gehört.

Dann hielt ich die Hand hoch und ritzte mit dem Dolch einen knapp drei Zentimeter langen Schnitt in meine Handfläche, an den fleischigen Ballen unterhalb der Finger. Er war nicht tief, blutete aber genug für meine Zwecke. Ich hielt die Hand über das Loch und ließ das Blut auf meine Haare tropfen.

»Ich gebe dir von meinem Blut und meinem Haar im Austausch für einen Teil deines Körpers, für deine Kinder. Mögen wir beide Kraft aus dieser Verbindung schöpfen.«

Weiter fiel mir nichts ein, aber ich fand, das hörte sich schon gut an. Ich warf Iris einen Blick zu, und sie nickte.

»Sehr gut... das müsste reichen.«

»Du glaubst doch nicht, dass irgendjemand anders mein Haar hier finden könnte, oder?

Ich weiß, dass Hexen und Zauberer Haare benutzen, um Menschen ihren Willen aufzuzwingen. Wir können ja nicht wissen, wer uns vielleicht aus dem Wald heraus beobachtet.« Ich deutete auf den nahen Waldrand. »Vielleicht versteckt sich irgendein Geschöpf, das noch schlimmer ist als der Zentaur, gerade da drin und belauscht uns.«

Iris bedachte meine Worte, und nachdem ich das Loch wieder aufgefüllt hatte, zeichnete sie eine Rune in die lockere Erde und hielt beide Hände darüber. »Versinke tief. Binde und schütze. Verflucht sei jeder, der diese Opfergabe zu missbrauchen sucht.« Ein Lichtblitz züngelte knisternd von ihren Händen in die Rune hinab, ließ das Zeichen kurz aufleuchten und verschwand. »Das müsste dein Haar so lange schützen, bis es sich zersetzt hat und wieder eins mit der Erde geworden ist. Schön, machen wir weiter. Du hältst den Stengel so, siehst du, und dann schneidest du diagonal -

nein, nicht so, schau, wie ich die Klinge halte.«

Während sie mir jeden Schritt erklärte, versuchte ich mich zu konzentrieren, aber meine Gedanken schweiften immer wieder zu der Tatsache ab, dass wir in der Anderwelt waren, dass wir bald in die Erdwelt würden zurückkehren müssen und dass wir weder Vater noch Trillian oder irgendeinen Hinweis darauf gefunden hatten, ob ich bei meiner Geburt eine Zwillingsschwester gehabt hatte. Letzteres war natürlich nicht annähernd so wichtig wie die beiden Ersten, aber ..

»Nein! Schau doch hin«, sagte Iris, nahm meine Hand und verdrehte sie um ein paar Zentimeter. »Siehst du, wie der Winkel die Richtung deines Schnitts ändert?«

Ich nickte. »Ja. Entschuldigung. Ich war in Gedanken ganz woanders.«

»Nun, du konzentrierst dich besser auf das Hier und Jetzt. Wenn du eine Sache nach der anderen erledigst, wirst du nichts ein zweites Mal machen müssen.«

Ich stieß einen langen Seufzer aus, holte dann tief Luft und versuchte es noch einmal.

Und diesmal blieb ich mit den Gedanken bei meiner Arbeit.

Wir waren gegen Mitte des Nachmittags fertig, und es wurde Zeit, sich auf den Rückweg zu machen. Während wir in die ungefähre Richtung des Pfades losgingen, brach ich uns wieder Bahn, mit dem Dolch als Macheten-Ersatz. Ich wusste nicht recht, ob ich froh war, von hier fortzukommen. Nicht, dass es mir im Finstrinwyrd gefallen hätte. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir seine schattigen Tiefen hinter uns ließen. Aber wenn wir uns erst aus dem Wald hinausgearbeitet hatten, würden wir in die Erdwelt zurückkehren. Und das brachte mein Herz in diesen Zwiespalt.

Ich wäre wirklich gern eine Weile in der Anderwelt geblieben. Irgendwo hingehen, wo es nett war, mich zurücklehnen und richtig entspannen. Aber die Gedanken an Menolly und Maggie, Chase und unser Zuhause in der Erdwelt drängten sich dazwischen, und ich erkannte, dass zu Hause in Seattle mir inzwischen beinahe ebenso viel bedeutete wie zu Hause in Y'Elestrial.

Unentschlossen schwankte ich hin und her: Anderwelt, Erdwelt; Anderwelt, Erdwelt...

Zur Hölle. Ich schnaubte laut. Wenn ich so gründlich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte, was ich wirklich wollte. Wie üblich. Als Iris bei uns eingezogen war, hatte sie sich ständig darüber beklagt, dass ich in meiner Katzengestalt oft vor der Tür miaute, bis sie sie öffnete. Dann blieb ich mitten auf der Schwelle stehen, offenbar unentschieden, ob ich nun hinaus- oder hineinwollte. Deshalb hatte sie schließlich die Katzenklappe eingebaut.

Als wir aus dem Unterholz auf den Pfad hinausstolperten, blickte Camille sich stirnrunzelnd um. »He, das ist aber nicht die Stelle, wo wir den Pfad verlassen haben. Ich kann mich an diesen Punkt überhaupt nicht erinnern. Ich könnte wetten, wir sind ein Stück weiter den Pfad entlang gelandet - tiefer im Wald als die Stelle, von der wir zu dem Weiher abgebogen sind.«

Ich betrachtete die Bäume um uns herum. »Du hast recht. Was bedeutet, dass wir für den restlichen Rückweg noch länger brauchen werden. Ich hoffe, es ist nicht allzu viel weiter.«

Iris, die ein hervorragendes Gespür für Distanzen und Richtungen hatte, vergewisserte sich, dass wir tatsächlich in die richtige Richtung gingen, und wir liefen los. Die Sonne -

und Morios Uhr - sagten uns, dass es drei Uhr nachmittags war. Wenn wir nicht mehr als zwei, drei Kilometer vom Kurs abgekommen waren, würden wir den Streifen Grasland und das Portal gegen fünf erreichen und rechtzeitig zum Abendessen wieder zu Hause sein.

Als wir um eine Biegung im Pfad kamen, blieb Camille stehen und deutete nach rechts.

Dort, etwa zwanzig Meter weit im Wald an einem Trampelpfad, lag eine Hütte. Sie war von einem soliden Holzzaun umgeben, und statt der wuchernden Brombeeren gedieh darin ein Gemüse- und Kräutergarten. Große Kristalle schützten das Tor, einer auf jeder Seite, und sogar ich konnte die Magie spüren, die zwischen den rauchigen Quarzkristallen hin und her lief. Sie waren gut neunzig Zentimeter groß, ihre Spitzen zeigten gen Himmel, und jeder von ihnen musste mehrere hundert Pfund wiegen.

Eine Gestalt, die dicht am Zaun stand, starrte uns an. Ich griff nach meinem Dolch, doch Camille stieß plötzlich einen leisen Schrei aus und rannte auf den Mann zu.

»Was machst du denn? Bist du völlig ver…«, begann ich, doch sie winkte. Der Mann - ein Svartaner, so schien es zumindest - winkte zurück. Er sah auf gefährliche Weise gut aus, viel weniger zivilisiert als Trillian, doch der Schimmer seiner pechschwarzen Haut war anziehend, und seine Augen waren genauso hellblau wie Trillians. Er trug das Haar viel kürzer, es fiel ihm kaum bis in den Nacken, und er hatte einen dichten Oberlippen- und Kinnbart.

Sobald Camille losrannte, folgte Smoky ihr natürlich auf dem Fuße, und Morio ebenso.

Ich warf Iris einen Blick zu, zuckte mit den Schultern, und wir beeilten uns, die anderen einzuholen.

Camille plapperte wie ein Wasserfall. »Darynal! Du bist es wirklich, nicht zu fassen.« Zwei Meter vor dem Tor blieb sie abrupt stehen und betrachtete die Kristalle. »Hast du hier irgendwelche Banne installiert, von denen ich wissen sollte?«

Er grinste ihr gemächlich entgegen. »Wenn das nicht Trillians Mädchen ist. Camille -

lange her, du hinreißendes Weib. Aber es überrascht mich nicht, dich hier zu sehen.« Er beugte sich über den Zaunpfahl, schloss die Augen und fuhr mit der Hand über ein Zeichen, das vorn auf das Tor gemalt war. »So, jetzt kann nichts mehr passieren. Komm herein und bring deine Freunde mit.«

Camille winkte uns, ihr zu folgen. Smoky sah alles andere als erfreut aus. Das war ich ehrlich gesagt auch nicht. Jeder Freund von Trillian war mir von vornherein suspekt.

Doch wir traten stumm durch das Tor und versammelten uns hinter den beiden an der Haustür. Darynal öffnete sie und trat beiseite, um uns einzulassen.

Sobald ich durch die Tür war, blickte ich mich nach irgendwelchen Hinweisen darauf um, dass dies eine Art Falle sein könnte. Vielleicht hatte der Argwohn meiner Schwestern allzu sehr auf mich abgefärbt, aber jemandem, den meine Schwester seit über einem Jahr nicht mehr gesehen hatte, vertraute ich nicht so ohne weiteres. Vermutlich sogar viel länger, wenn Darynal Camille als Trillians Mädchen bezeichnete, es sei denn, die beiden Männer hatten sich in den vergangenen paar Monaten getroffen. Camille und Trillian hatten sich vor Jahren getrennt, und Trillian war erst vor ein paar Monaten Erdseits aufgetaucht - seitdem waren sie wieder zusammen.

In einer so langen Zeitspanne konnte zu viel geschehen. Allianzen konnten geschmiedet. .

und gebrochen werden.

Vom Eingang aus erkannte ich drei Räume. Eine Küche, ein Wohnzimmer und vermutlich das Schlafzimmer. Die Hütte war aus dicken Baumstämmen gebaut und hatte etwas Solides, eine Bodenständigkeit, die ich nie mit Trillian in Verbindung gebracht hätte.

An den Wänden aufgereihte Geweihe dienten als Haken, an denen diverse Taschen und Kleidungsstücke hingen. Praktische Trophäen, dachte ich. Ein verblichener Diwan mit Sessel stand an einem Ende des Wohnzimmers, ein grober Holztisch und ein Stuhl auf der anderen Seite. Neben dem Schreibtisch ragte ein Regal vol er Schriftrollen und Bücher auf. Anscheinend konnte Darynal also lesen.

Suppenduft drang aus der Küche herüber, und mir lief das Wasser im Munde zusammen.

Wir hatten seit Stunden nichts mehr gegessen. Ich schnupperte, und der Geruch von Karotten und warmer Fleischbrühe stieg mir in die Nase. Vielleicht war Darynal doch kein so übler Kerl. Immerhin, ein Mann, der Suppe kochen konnte, die derart himmlisch roch, konnte nicht durch und durch schlecht sein, oder?

»Das ist doch nicht etwa Rinderbrühe, die ich da rieche, oder?«, platzte ich heraus, weil mein Magen laut knurrte.

Camille warf mir einen Blick zu, der Bände über meinen Mangel an Manieren sprach, aber Darynal lächelte nur.

»Allerdings. Delilah, nicht wahr? Möchtet ihr alle mir nicht bei einem späten Mittagessen Gesellschaft leisten?« Er wies mit einem Nicken zur Küche.

»Woher kennt Ihr meinen Namen?«, fragte ich und erstarrte.

»Trillian hat mir alles über Euch erzählt«, antwortete er.

Er hatte wohl doch in den vergangenen Monaten mit Trillian gesprochen. »Ihr habt ihn also in letzter Zeit gesehen?«, fragte ich.

Darynal neigte den Kopf. »Er wohnt manchmal bei mir, wenn er nach Artanyya zurückkehrt.«

Artanyya ... die Bezeichnung der Svartaner für die Anderwelt.

»Er ist aber jetzt nicht hier, oder?« Camille blickte sich um, und eine wilde Hoffnung flackerte in ihrem Gesicht auf, dass wir vielleicht ein Riesenglück hatten - dass Trillian sich vielleicht wohlbehalten hier bei seinem besten Freund versteckte.

Doch Darynal zerschmetterte ihre Hoffnung mit einem raschen: »Nein, ich bedaure. Er ist im Augenblick nicht hier. Gleich gibt es Suppe und frisches Brot«, fügte er hinzu und verschwand in der Küche.

»Ich helfe ihm«, sagte Iris und folgte ihm.

Sobald die beiden das Zimmer verlassen hatten, stieß Smoky praktisch auf Camille herab, und seine Augen glühten beinahe. »Wer ist er? Was hast du mit ihm zu tun?«

»Das wollte ich sie gerade fragen«, meldete ich mich zu Wort. »Woher weißt du, dass wir ihm trauen können?«

Sie bedeutete uns beiden, stil zu sein.

»Trillian und Darynal sind blutgeschworene Brüder. Sie sind durch einen Pakt aneinander gebunden, den sie in ihrer Kindheit geschlossen haben. Und sie haben nicht nur einen Schwur geleistet. Sie haben sich vor den Göttern aneinander gebunden. Sollte Darynal Trillian irgendwie verraten, würde sein eigener Schwur ihn niederstrecken. Und umgekehrt. Trillian hat mir erzählt, dass sie den Pakt damals geschlossen haben für den Fall , dass jemals Zeiten wie diese kommen würden. So konnten sie sicher sein, dass es selbst in den dunkelsten Stunden jemanden geben würde, dem sie vol auf vertrauen können.«

Wenn das stimmte, musste Darynal uns höflich behandeln, weil Trillian und Camille ebenfalls aneinander gebunden waren. Ich legte mein Misstrauen ab, und auch Smoky entspannte sich sichtlich. Morio zog die Augenbrauen hoch und spazierte langsam durchs Zimmer, bis Unterlagen auf dem Schreibtisch seine Aufmerksamkeit fesselten.

 

»Darynal ist ein Fallensteller, nicht wahr?«, fragte er. »Hier ist eine Quittung für zwanzig Wildfuchs-Pelze.« Er schauderte und wandte sich ab.

Camille nickte. »Tut mir leid, aber ja, das ist er. Er ist so gar nicht wie der typische Svartaner. Er lebt am liebsten allein und ist ein Mann der Natur, durch und durch. Er stellt Fallen, er jagt, er fischt. Ich glaube, er hält auch Bienen, und Trillian hat mir erzählt, dass er außerdem den besten Apfelwein der Welt macht.«

»Trillian sagt die Wahrheit«, bemerkte Darynal, der gerade wieder hereinkam. »Das Essen steht auf dem Tisch. Bitte, kommt herüber in die Küche.«

Wir folgten ihm in den großen Raum, wo ein grober Holztisch mit Essen beladen war.

Auf den Bänken lagen dicke Kissen. Ich schwang ein Bein über die Bank, blickte mich in der Küche um und stellte fest, dass ich Darynals Heim gemütlich fand. Die Knoblauchkränze an der Wand, die Körbe voll Bohnen, Kartoffeln und Wurzelgemüse, die frischen, deftigen Brotlaibe, all das machte die rauhe Einrichtung mehr als wett.

Das Mittagessen bestand aus würziger Rindersuppe mit Graupen, einer großen Platte frischem Brot mit Butter, einem Tiegel vom besten Honig, den ich je gekostet hatte, und Krügen voll schäumendem Apfelwein, erwärmt und mit Muskat und Zimt gewürzt. Das war die beste Mahlzeit, die ich seit langem gegessen hatte. Das Essen in der Anderwelt war köstlich und hatte mehr Geschmack... Das lag vermutlich an den vielen Zusatzstoffen und den ausgelaugten Böden Erdseits.

Während des Essens war Camille recht still. Sie blickte immer wieder zu Darynal auf, und ich wusste, dass sie an Trillian dachte. Nach einer Weile beschloss ich, die Frage zu stellen, die sie nicht über die Lippen brachte.

»Darynal, habt Ihr Trillian in letzter Zeit gesehen? Er ist verschwunden und gilt als vermisst, und wir machen uns Sorgen.« Ich wies mit einem vielsagenden Blick auf Camille. »Sie hat große Angst um ihn.«

Darynal hob den Kopf und runzelte die Stirn. »Vermisst? Trillian ist nicht verschwunden. Ich habe ihn erst vor drei Tagen gesehen. Außer... ist ihm seither etwas zugestoßen?«

»Vor drei Tagen!« Camille sprang auf. »Was soll das heißen? Er ist schon seit mehreren Monaten verschollen, und ich habe entsetzliche Angst um ihn!« Sie stand auf und trat zurück. »Ich hatte befürchtet, die Goblins hätten ihn... «

»Du meinst, er hat dir nichts gesagt? Ich bin davon ausgegangen... o-oh... « Der Ausdruck auf Darynals Gesicht sprach Bände. Trillian war nicht verschwunden, Trillian war ganz in der Nähe, und Trillian hatte uns bewusst in dem Glauben gelassen, er sei in großer Gefahr.

Camille sah aus, als wollte sie in Tränen ausbrechen, doch irgendwo kurz vor ihren Augen verschwanden die Tränen, und ich sah, wie die Wut in ihr hochstieg. Darynal hatte vollkommen recht: O-oh. O-oh war genau das, was man empfand, wenn Camille wütend wurde. Und Darynal konnte das heraufziehende Unwetter ebenfalls spüren.

Er hob die Hände. »He, das ist doch nicht meine Schuld. Ich habe angenommen, dass er dir erzählt hat, was er hier tut. Mir hat er nicht gesagt, dass er es dir verschwiegen hat.«

»Ich hoffe nur, Trillian hat dir auch von meinem jähzornigen Temperament erzählt, denn dann ist dir hoffentlich klar, dass es viel besser für dich ist, mir alles zu erzählen. Sofort.

Wenn nicht. .« Mit jedem Satz trat Camille einen Schritt vor, und Darynal wich zurück.

»O verdammt.« Darynal brachte sich hinter dem Tisch in Sicherheit. »Immer mit der Ruhe, Weib. Du kannst dem Boten nicht die Schuld an der Nachricht geben. Ich hatte keine Ahnung, dass Trillian es tatsächlich geschafft hat, diese Sache vor dir geheim zu halten. Ich erzähle dir alles. Immerhin hat er mir nicht verboten, dir etwas zu sagen. Er hätte wohl nie gedacht, dass es so lange dauern würde, oder dass du jemals vor meiner Haustür aufkreuzen könntest. Nur, bitte, ziel nicht mit einem deiner fehlgeleiteten Energieblitze auf mich. Bitte!«

Offensichtlich wusste Darynal über Camilles unzuverlässige Magie Bescheid.

»Dann heraus damit! Sofort! Warum zum Teufel hat Trillian mich glauben lassen, er sei von den Goblins gefangen genommen worden? Warum zum Teufel hat Königin Asteria mir erzählt, er sei verschwunden? Was ist hier los?«

Mit jeder Frage wurde meine Schwester lauter. Ich warf Iris einen Blick zu, erleichtert, dass Camilles Zorn nicht uns galt. Iris schien ganz meiner Meinung zu sein, denn sie erwiderte meinen Blick mit dem Ansatz eines Lächelns.

Smoky räusperte sich. »Die Dame hat Euch Fragen gestellt. Ich schlage vor, Ihr beantwortet sie auf der Stelle. Falls Ihr es noch nicht bemerkt haben solltet, ich bin ein Drache. Ich bin außerdem Camilles Ehemann... «

»Einer ihrer Ehemänner«, warf Morio ein.

»Ja, ja... einer ihrer Ehemänner, und ich sehe es nicht gern, wenn jemand meine Frau ignoriert.« Der Drache lächelte hässlich, während Darynal sich unter seinem Blick wand.

»Aufhören! Ich sagte doch, ich werde es ihr erzählen. Lasst nur mein Haus - und mich -

in einem Stück stehen. Gütige Götter, Trillian hatte recht. Du machst keine Kompromisse, was?« Darynal ließ sich wieder auf der Bank nieder und bedeutete Camille, sich ebenfalls zu setzen. Er musterte sie mit einem seltsamen Blick. »Erstens hatte ich keine Ahnung, dass du verheiratet bist. Aus irgendeinem Grund glaube ich, dass Trillian auch nichts davon weiß.«

»Ich habe Smoky und Morio geheiratet, um eine Seelenverbindung herzustellen, damit ich auch ihre Kraft nutzen kann, um nach Trillian zu suchen - weil wir glaubten, er sei in Gefangenschaft geraten und in großer Gefahr.« Sie hielt inne und wurde blass. »Du meinst, ich habe ganz umsonst geheiratet?«

Smoky räusperte sich. »Ich glaube, wir sind soeben schwer beleidigt worden«, sagte er.

Morio kicherte. »Hörte sich ganz so an.«

»Nein, nein - aber... « Camille schüttelte den Kopf. »Nun hört schon auf damit, ihr beiden.« Sie wandte sich wieder Darynal zu. »Okay, heraus mit der Wahrheit, und zwar sofort. Wo ist Trillian, und warum ist er wie vom Erdboden verschluckt?«

Darynal seufzte tief. »Von mir hast du das aber nicht gehört. Verstanden?« Als sie nickte, stützte er die El bogen auf den Tisch. »Ich weiß nicht alle Einzelheiten. Das darf ich auch nicht; es wäre zu gefährlich für Trillian. Aber er ist im vergangenen Mondzyklus kreuz und quer durch den Finstrinwyrd gestreift. Er folgte der Spur Eures Vaters, aber dann geschah etwas. Etwas sehr Schlimmes. Lethesanar hat Wind davon bekommen, dass er hier ist, und einen Trupp Spurensucher hinter ihm hergeschickt.«

Ich wurde bleich. »O verflucht, dann stimmt es also doch. Eine Bande Goblins hat ihn erwischt?«

»Nicht direkt. Sie hatten ihn schon beinahe, doch er konnte entkommen. Danach allerdings war klar, dass Trillian sich in Luft auflösen musste. Also hat er im Verborgenen weiter nach Eurem Vater gesucht. Anscheinend ist Euer Vater auf Informationen gestoßen, die den Krieg entscheiden könnten. Sowohl Lethesanar als auch Tanaquar suchen nach ihm. Der Schlüssel, den er bei sich trägt, könnte das Blatt des Krieges wenden.«

Wir lehnten uns zurück und versuchten, das zu verdauen. Eine höchst geheime Mission, in die nicht nur Camilles Liebhaber, sondern auch unser Vater verwickelt war. Und wenn Trillian, der Vater suchte, schon in Gefahr schwebte, dann musste sie für Vater umso größer sein.

»Warum bewachen sie nicht Euer Haus ? Fürchtet Trillian denn nicht, dass man Euch überwachen könnte?«, fragte ich.

Darynal lachte. »Nein... Ich bin als Goblin-Sympathisant bekannt. Ich mache Geschäfte mit ihnen und unterstütze ganz öffentlich den Goblin-König. Trillian kommt und geht im Schutz der Nacht, und er ist ein Meister der Tarnung. Aber ihr dürft nicht lange bleiben.

Ich habe einen Illusionszauber gegen neugierige Blicke auf das Tor gelegt, als ihr eingetreten seid. Aber ich kann ihn nicht lange aufrechterhalten, und Trillian sollte euch hier auch nicht antreffen. Im Augenblick darf er sich wirklich durch nichts ablenken lassen, Camille. Er muss sich ganz auf seine Mission konzentrieren.«

Der Blick in seinen Augen sagte alles. Trillian konnte es sich im Moment nicht leisten, seine Aufmerksamkeit zu teilen, und wenn er merkte, dass wir nach ihm suchten, würde er seine Bemühungen, sich zu verbergen, unseretwegen verdoppeln müssen.

»Wenn wir ihn finden«, sagte ich langsam, »riskieren wir damit, den Feind zu ihm zu führen, und womöglich bringen wir unseren Vater in noch größere Gefahr.«

»So ist es. Bitte esst in Ruhe, und dann geht. Sucht nicht nach ihm, fragt nicht nach ihm.

Ich verspreche, euch zu benachrichtigen, falls irgendetwas geschieht, aber solange ich nicht vor eurer Tür stehe, geht einfach davon aus, dass er lebt und es ihm gutgeht. Lasst ihn tun, was er am besten kann.«

Darynal zögerte, streckte dann die Hand aus und hob Camilles Kinn an. Er beugte sich vor, bis seine Lippen beinahe die ihren berührten, und sah ihr tief in die Augen. Smoky straffte die Schultern.

»Trillian vergöttert dich. Er betet dich an. Er würde niemals einfach davonlaufen und dir Kummer bereiten, wenn der Ausgang dieses Krieges nicht so ungewiss wäre. Kannst du ihn seine Arbeit tun lassen, ohne dich einzumischen?«

Camille schluckte schwer und nickte dann. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und blickte beinahe verängstigt drein. »Das passt mir nicht. Es widerstrebt mir, mit jeder Faser meines Wesens. Aber ich werde ihn in Ruhe lassen. Es ist nur... ich liebe ihn.«

Smoky beugte sich vor und zog entschlossen, aber sacht Darynals Hand von Camilles Kinn. »Genug jetzt. Wir haben verstanden. Wir lassen ihn seine Arbeit tun, und Morio und ich werden Camille schon beschäftigen, bis Trillian zurückkehren kann. Wir sollten jetzt gehen. Allein unsere Anwesenheit hier gefährdet seine Mission.«

Morio erhob sich. »Smoky hat recht. Danke, Darynal. Zumindest konntet Ihr unsere größte Sorge zerstreuen. Wir wissen mehr, als wir wissen dürften, aber seid unbesorgt - von uns wird niemand etwas erfahren. Und wir werden auch Königin Asteria nicht sagen, dass wir Bescheid wissen.«

Ich rückte näher zu Camille heran. Sie murmelte ein Dankeschön und drückte Darynal stil an sich. Er küsste sie auf die Stirn, beinahe wie ein großer Bruder, und warf mir dann einen Blick zu. »Ihr seid noch hungrig. Hier, trinkt doch aus, ehe Ihr geht«, sagte er und hielt mir meine Suppenschüssel hin.

Ich lächelte ihn an. »Ihr seid kein übler Kerl, das muss ich schon sagen.« Schnell kippte ich den Rest meiner Suppe hinunter, nahm dankbar eine dicke Scheibe Brot mit Butter an, und wir verließen das Haus.

Während wir leise zum Tor hinausschlüpften und so schnell wie möglich davoneilten, blieb Camille still. Ich wusste, dass sie diese Wendung erst gründlich überdenken musste und darüber reden würde, wenn sie so weit war. Also nickte ich Iris zu, und wir setzten uns ein Stück von Camille und den Jungs ab.

»Das ist ja eine schöne Bescherung. Camille hat sich an diese beiden gebunden, obwohl das überhaupt nicht nötig gewesen wäre«, sagte ich bekümmert. Die Hochzeit hatte mir widerstrebt, auf irgendeiner Ebene, an die ich bewusst nicht herankam, obwohl ich sowohl Smoky als auch Morio sehr mochte.

Iris seufzte tief. »Sie hätte es irgendwann sowieso getan. Das weißt du auch, wenn du tief in dein Herz hineinschaust. Was dir zu schaffen macht, mein hübsches Tigerkätzchen, ist die Veränderung. Du hattest deine Schwestern so lange ganz für dich, ihr steht euch sehr nahe, und du willst nicht, dass irgendjemand oder irgendetwas sich dazwischen drängt.

Anscheinend ist dir nicht klar, dass Familien sich vergrößern und erweitern können. Das ist die Katze in dir: Du hast dein Revier und willst, dass deine Leute auch deine Leute bleiben. Du musst die Angst überwinden, dass Camille dich verlassen könnte. Sie wird da bleiben, wo sie jetzt ist - an deiner Seite, Schätzchen. Das weißt du doch, du musst dir nur erlauben, es deutlich zu sehen.«

Ich starrte sie an und konnte nicht antworten, weil ich den Mund voll Butterbrot hatte. Während ich schweigend aufaß, fragte ich mich, ob sie recht hatte. Es hatte mir nicht gepasst, dass Trillian zurückgekehrt war. Aber lag das an Trillian selbst oder daran, dass meine Schwester ihn so bereitwillig wieder in ihr Leben aufgenommen hatte? Und Smoky... und Morio... wünschte ich mir vielleicht tatsächlich nur, dass die Dinge blieben, wie sie waren?

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, fügte Iris hinzu: »Das Leben kann nicht stil stehen, weißt du? Menschen und Beziehungen müssen sich entwickeln. Sieh dich nur an: Du trägst das Mal des Herbstkönigs, und erst jetzt beginnst du die gewaltigen Veränderungen zu begreifen, die dadurch in dein Leben treten werden. Verüble der Natur nicht ihren unablässigen Drang, voranzuschreiten. Das ist der Lauf der Welt. Selbst der Tod ist ein Übergang, ein Fortschritt. Du kannst die Zeit nicht anhalten, Delilah. Du kannst die Vergangenheit nicht in die Gegenwart herüberholen. Alles bewegt sich, alles verschiebt sich und dreht sich weiter. Es liegt allein bei dir, ob du dich den Veränderungen stellst oder in ihrem Staub zurückbleibst.«

Ich ließ den Kopf hängen und starrte auf den Pfad, den wir flott entlangliefen. Sie hatte recht, doch ich wollte mich den vielen Veränderungen nicht stellen. Und die schlimmste - die Veränderung, die meinem Herzen am nächsten kam -war Chase. Was sollte ich tun?

Er wollte, dass ich ihn anrief, aber was konnte er schon sagen? Wollte er mir erzählen, wie sehr er es genoss, Erika zu vögeln? Oder dass sie ihm nichts bedeutete? Dass er sich einen Dreier wünschte? Obendrein hatte ich diese Verabredung mit Zachary.

Und im größeren Maßstab betrachtet, mussten wir ein Geistsiegel finden und vor den Dämonen in Sicherheit bringen. Scheiß auf Beziehungen; die Welt zu retten war schon schwer genug, ohne dass einen Gefühle dabei durcheinanderbrachten.

Das Leben war so viel einfacher gewesen, als ich Männer noch ignoriert hatte und lieber auf allen vieren herumgelaufen war. Die Versuchung war groß, wieder zu diesem Zustand zurückzukehren, zu sagen: Scheiß drauf, ich liebe niemanden außer auf freundschaftliche oder familiäre Art. Doch Iris' Worte gingen mir durch den Kopf, und ich wusste, dass ich nicht einfach wieder so werden konnte. Was blieb also für mich?

Als wir die breite Wiese erreichten, hing die Sonne schon tiefer am Himmel, und die Vögel zwitscherten laut. Ein Kontingent Wolken hielt auf uns zu, eine graue Armee, bereit, ihre Regensalven auf uns herabprasseln zu lassen. Ich rüttelte mich aus meinen trübseligen Gedanken auf und ging auf das Portal zu. Wir mussten nach Hause, und so sehr ich die Anderwelt liebte, wollte ich doch im Augenblick nur noch zurück zu Maggie und Menolly. Mit ein bisschen Glück würde mir schon eine Lösung für meine Probleme mit Chase einfallen.