Kapitel 27

 

Jede Schlacht ist anders. Jeder Kampf hat seine eigene Seele. Auf jedem gespenstischen Schlachtfeld spuken nicht nur die Geister der Toten umher, sondern auch die Seele der Schlacht. Genauso hat jedes Schwert ein Bewusstsein.

Jede Klinge einen Namen. Manchmal schweigen Stahl und Silber, bis man sie sacht aus ihrem Versteck hervorlockt. Manchmal geben sie sich auch dann nicht zu erkennen. Und manchmal erwachen sie ganz von allein.

Mein Dolch vibrierte in meiner Hand, während ich den Falxifer anstarrte. Ich sog scharf den Atem ein. War das möglich? Meine Klinge hatte noch nie mit mir gesprochen, aber jetzt hörte ich das Flüstern einer Frauenstimme, zart und ätherisch und kalt wie Eis.

»Lysanthra«, flüsterte sie. »Ich bin Lysanthra. Und ich bin deine Klinge.«

Ohne den Blick von meinem Gegner abzuwenden, antwortete ich ebenso lautlos, wie die Botschaft mich erreicht hatte: »Ich bin Delilah. Ich bin Fee, Mensch und Werwesen. Und... ich bin eine Todesmaid.«

Ich mochte den Begriff verabscheuen, aber ich musste mich der Tatsache stellen.

Ich gehörte nicht nur zu drei Reichen - dem der Feen, der Menschen und dem Reich der Katzen-, sondern wandelte außerdem im Schatten des Todes. Ich folgte den Spuren meines Meisters.

Und damit stand mir die Wahrheit, vor der ich mich seit Monaten versteckt hatte, plötzlich direkt vor Augen. Sosehr ich mich auch bemüht hatte, meinem Schicksal zu entgehen: Ich wusste, dass ich mich der Person stellen musste, zu der ich wurde - und sie annehmen.

Delilah, die Todesmaid. Delilah, die Seelen vernichtet. Delilah, die die Toten erntet.

Meine Klinge ließ einen Energiestoß durch meine Hand zucken, und ihr leises Lachen klang mir in den Ohren. »Dein Vater hat klug gewählt, als er mich dir schenkte. Erwecke mich, Delilah. Ich werde dir helfen, durch die Dunkelheit zu gehen. Ich werde dich lehren, wie du stark werden und deine Seele beisammenhalten kannst, wenn alles um dich herum im Wahnsinn versinkt.«

Bestimmung in Aktion. Schicksal zum Anfassen. »Wie soll ich dich wecken?«, fragte ich. »Und warum hast du noch nie zuvor mit mir gesprochen?«

Lysanthras Atem kribbelte durch meinen Ellbogen, durch meine Schulter bis in mein Herz. »Nur wenn mich eine Kriegerin führt, die aus der Tiefe ihrer Seele liebt, und die kämpft, um denjenigen zu schützen, den sie liebt, nur dann spreche ich. Du standest manchmal schon kurz davor, mich herbeizurufen, aber heute -

heute würdest du lieber im Kampf sterben, als den, den du liebst, vernichtet zu sehen.«

Chase. Es musste Chase sein. Ich war eben doch in Chase verliebt. Trotz der Leidenschaft, die mich mit Zach verband, und des Kummers, den Chases Lügen und Verrat mir bereitet hatten, liebte ich ihn immer noch. War das dumm von mir? Schon möglich. Aber manchmal halten sich unsere Herzen nicht an die Regeln der Logik. Manchmal sehen die Ewigen Alten gern zu, wie wir uns winden.

»Sag mir, was ich tun soll.«

Lysanthras Stimme war so zart, dass sie an das Klingeln eines Windspiels erinnerte, den zarten Ruf eines nachtaktiven Vogels nach seinem Gefährten.

»Sprich meinen Namen dreimal laut aus. Dann gehöre ich dir. Aber dieses Geschöpf wirst du mit meiner Hilfe nicht töten können. Dazu musst du deine eigenen Kräfte gebrauchen.«

Ich hob die Klinge. Der Falxifer wartete, stumm und brütend. Karvanak wirkte ungeduldig, schien die Dinge aber nicht beschleunigen zu wollen. Klug von ihm.

Der Falxifer konnte ihn binnen drei Sekunden zu Hackfleisch verarbeiten.

»Lysanthra, Lysanthra, Lysanthra«, rief ich und hob die Klinge. Ein Lichtstrahl schoss aus der Spitze hervor, und ich errötete, als neue Kraft in meine Adern strömte. Lysanthra verstummte, doch ich wusste, dass wir nun aneinander gebunden waren.

Camille blieb still und hielt den Blick erst auf meine Klinge, dann auf mein Gesicht gerichtet. Als Menolly den Mund öffnete, um etwas zu sagen, brachte Camille sie zum Schweigen und lächelte mir feierlich zu.

Ich wandte mich wieder dem Falxifer und Karvanak zu. »He, Dämon - du Abschaum der U-Reiche. Wenn du dir deiner Sache so sicher bist, dann komm her und kämpfe. Du hast den Falxifer im Rücken, also, worauf wartest du?«

Karvanak knurrte, begann zu schimmern, und dann wurde sein Kopf zu dem eines Tigers, die Fingernägel wuchsen zu Klauen, und er trat vor.

In diesem Moment kreischte etwas mit dem Lärm eines herandonnernden Güterzugs die Treppe herab, ein verschwommener Umriss aus Weiß und Silber platzte herein wie ein Wirbelsturm. Smoky war aus dem Ionysischen Meer herbeigerast, hatte den Dämon umgerissen und saß nun auf ihm.

Sogleich machte Smoky sich daran, Karvanak fürchterlich zu verprügeln, doch der Räksasa war stark. Er bekam eine Hand frei, hieb mit den Klauen nach Smoky und fuhr dem Drachen damit durchs Gesicht. Er war frei.

»Wag es ja nicht, ihm weh zu tun!« Camille sprang vor und zückte das Einhorn-Horn. Sie hatte es in den vergangenen paar Tagen bereits einmal benutzt. Wie viel Kraft hatte es noch übrig?

Meine Frage wurde prompt beantwortet, als ein Eisstoß aus der Spitze hervorschoss wie ein gefrorener Blitz. Der Eisblitz traf Karvanak mitten zwischen die Ohren und lenkte den Dämon so lange ab, dass Vanzir und Menolly eine Chance bekamen, einzuspringen und Smoky zu helfen.

Karvanak brüllte und stürzte sich auf Vanzir. Er schlug den Traumjäger nieder und trat über ihn hinweg, um Zachary anzugreifen, der versuchte, Chase zu beschützen. Mit einem einzigen Schlag mit dem Handrücken schleuderte der Dämon Zach gegen die Wand und drehte sich nach Chase um, der noch unter Schock stand.

Menolly flog förmlich durch den Raum, aber Zach war schneller. Er rappelte sich auf, senkte die Schultern und rammte Karvanak den Kopf in die Magengegend.

Damit trieb er ihn zurück und hielt ihn lange genug auf, dass Menolly sich Chase schnappen und ihn beiseiteziehen konnte.

Karvanak knurrte und wirbelte herum, und sein Fuß landete in Zachs Kreuz. Er ging zu Boden. Smoky stürmte vor, doch dann wurde meine Aufmerksamkeit von dem Kampf abgelenkt - ich merkte, dass der Falxifer auf mich zuhielt.

Ich zweifelte nicht daran, dass er vorhatte, jeden in diesem Raum zu töten. Wenn wir alle vernichtet waren und Karvanak dann noch lebte, würde der sich vermutlich als Nächster auf der Speisekarte wiederfinden. Mit beschworenen Geistern lief es selbst für einen Dämon nie ganz so, wie man sich das vorgestellt hatte.

Ich steckte Lysanthra weg und konzentrierte mich auf die wirbelnde Energie, die in schnellem Rhythmus unter meiner Tätowierung pulsierte.

»Hi'ran«, flüsterte ich. »Helft mir. Ich brauche Euch. Ich brauche Eure Macht.

Ich brauche Eure Kraft.«

Ein leises Lachen trieb mit einem Hauch von Herbstfeuer und Friedhofsstaub an mir vorüber. »Ich schicke dir Hilfe. Lass los und verwandle dich. Nur du allein kannst dieses Wesen töten. Deine Schwestern werden sterben, wenn du es nicht besiegst.«

Also ließ ich den Panther heraus. Hände wurden zu Tatzen, das Rückgrat verlängerte sich, die Ohren bekamen Spitzen, die Zähne wuchsen lang und scharf, Fell bedeckte meine Handflächen, hüllte meine Beine ein, die Arme, das Gesicht und den Rücken... Die Welt wurde in Grautöne getaucht, Gerüche wurden stärker, und Triebe waren schwerer zu beherrschen.

Während sich mein Körper verwandelte, ließ ich mich in die üppige Energie aufgehen, die mein Panther-Selbst besaß. Ich holte tief Luft, als sich der Nebel um mich lichtete, und stand wieder dem Falxifer gegenüber. Alle anderen waren verschwunden, und wieder einmal kämpfte ich allein auf der Astralebene.

Das Wesen war in Schatten gehüllt gewesen, und ich hatte es in meiner zweibeinigen Gestalt kaum erkennen können - doch nun sah ich ganz deutlich, was er war: ein Avatar des Todes. Die Schatten waren verschwunden, und er stand leuchtend weiß vor mir, glühend wie Magma, das sich an die Oberfläche der Welt emporarbeitete.

Der Falxifer strahlte so gleißend hell , dass man ihn nur schwer ansehen konnte, doch mein drittes Augenlid beschützte meine Augen, und ich bewegte mich langsam vorwärts. Als gewöhnliches Werwesen hätte ich ihn mit meinen Klauen nicht berühren können, und meine Zähne hätten ins Leere geschnappt. Doch mit der Energie des Herbstkönigs im Rücken besaß ich die Macht, dieses Wesen aus der Welt der Schatten zu besiegen.

Ich duckte mich, als der Falxifer auf mich zutrat. Eins... lass ihn nahe genug herankommen... zwei... bring dich genau in die richtige Position... und dann -

spring! Ich packte ihn mit den Vorderpfoten. Den Bruchteil einer Sekunde lang spürte ich, wie meine Essenz aus meinem Körper herausgelockt wurde, als er mich in sein Energiefeld einsog, doch ich riss mich zurück. Er taumelte, nur ganz kurz, doch das sagte mir, dass er meine Kraft unterschätzt hatte.

Und dann rangen wir miteinander. Er warf mich um - seine Kraft war phänomenal. Ich konnte nur mit Mühe verhindern, dass er mich zerquetschte.

Falls es ihm gelänge, die Arme um meinen Hals zu schlingen, wäre ich so gut wie tot. Ich reckte den Kopf nach hinten und grub die Zähne tief in seine Schulter, während wir über den Boden rollten.

Und dann machte ich einen Fehler. Ich ließ ihn los, um ihn besser packen zu können.

Diesen Augenblick nutzte er, um mich herumzuwerfen, so dass er jetzt unter mir lag, einen Arm um meinen Bauch, den anderen um meinen Hals geschlungen. Meine Pranken waren zur Decke gerichtet. Ich wand mich, konnte mich aber nicht befreien. Der Arm schlang sich immer fester um meinen Hals und drückte mir die Luft ab. Ich zappelte, doch er ließ nicht locker, und ich wagte es nicht, mich zu verwandeln, denn dann würde er mir den Hals einfach brechen wie einen Zahnstocher. Die Zunge hing mir aus dem Maul, und mein Bewusstsein trübte sich.

Als der Nebel um mich grauer und dunkler wurde, hörte ich ein Knurren irgendwo in der Ferne. Ich konnte nichts sehen, weil alles schwarz wurde - aber ich bereitete mich darauf vor, den Kampf aufgeben zu müssen. Meine Schwestern verließen sich auf mich, aber ich war nicht stark genug. Ich würde sie im Stich lassen. Menolly würde vielleicht entkommen können, und Smoky und Rozurial, aber die anderen würde dieses Wesen zunichtemachen, sogar Vanzir.

Ich hob mich in einer trägen Spirale aus meinem Körper. Würde ich direkt an Hi'rans Seite erscheinen? Oder noch Gelegenheit bekommen, vorher meine Ahnen zu sehen? Ich hätte Mutter zu gern wiedergesehen, wenigstens einmal, ehe ich ins Reich des Herbstkönigs übertrat.

Autsch!

Etwas biss mich in den Schwanz. Fest. So fest, dass der Schmerz mich in meinen Körper zurücksog. Ich riss die Augen auf und merkte, dass der Falxifer seinen Griff gelockert hatte und ich wieder atmen konnte. Im nächsten Moment ließ er mich los, und ich machte einen Riesensatz weg von ihm, als er auf die Füße sprang. Energie knisterte um ihn herum, als er begann, irgendetwas Hässliches herbeizurufen.

Wer zum Teufel hatte mich gerettet? Ich blickte mich um und entdeckte zu meiner Überraschung eine Leopardin hinter mir. Sie war so gefleckt wie ich schwarz, ein Stofffetzen hing ihr aus dem Maul, und sie zwinkerte mir zu und knurrte dann leise. Sie kam mir so schrecklich bekannt vor. Wer auch immer sie sein mochte, auf der physischen Ebene war sie tot. Hier jedoch war sie schlank und stark und - zur Hölle, das Wichtigste war, dass sie den Falxifer tatsächlich verletzen konnte! Der Fetzen in ihrem Maul stammte von seinem Gewand.

In diesem Augenblick ließ der Falxifer einen Energieblitz los, und ich erkannte ihn sofort daran, wie er sich anfühlte. Todesmagie. Die konnte meiner geisterhaften Leoparden-Freundin nichts anhaben, mir aber schon. Ich schaffte es, dem Blitz auszuweichen, und er schlug genau an der Stelle ein, wo ich eben noch gestanden hatte.

Noch während ich zur Seite hechtete, sammelte sich die Leopardin zum Sprung und griff den Falxifer an. Das Geschöpf aus der Schattenwelt wich beiseite, und ich schüttelte mich nach meinem Sturz. Die Leopardin griff ihn erneut an, also nahm ich die andere Seite, und als der Falxifer ihr leichtfüßig auswich, sprang ich direkt hinter ihn. Er prallte mit den Beinen gegen mich, strauchelte und krachte rücklings zu Boden.

Die Geisterleopardin grub die Zähne in seinen Arm, und ich sprang auf seine Brust. Meine Pranken hielten ihn niedergedrückt, und ich starrte in dieses weißglühende Gesicht. So schön, so strahlend, dass ich seine Züge kaum ausmachen konnte. Dann verbiss ich mich tief in seinem Hals. Die Leopardin schlitzte ihm mit den Klauen den Bauch auf, und ihre gefleckte Pranke kitzelte mich am Bauch, als sie unter mich griff, um an das Wesen heranzukommen.

Der Falxifer wand sich kreischend, und ich packte seine Kehle noch fester und fühlte die Energie aus ihm entweichen wie Luft aus einem lecken Ballon. Und dann - einfach so -war er verschwunden. In Nichts aufgelöst. Puff - weg.

Ich blieb einen Moment lang stehen und starrte auf die Stelle, wo er eben noch gelegen hatte. Die Leopardin spazierte zu mir herüber, schnupperte freundlich an meinem Hals und trat zurück. Ich sah ihr in die Augen. Sie kam mir vertraut vor, aber ich hatte sie noch nie zuvor gesehen.

»Wer bist du?«, fragte ich.

Sie stieß ein leises Grollen aus. »Tja, du kennst mich wohl nicht, obwohl ich dein ganzes Leben lang über dich gewacht habe. Bist du verletzt?«

»Nein, ich glaube nicht. Du hast mein ganzes Leben lang über mich gewacht?«

Ich neigte den Kopf zur Seite, und mein muskulöser Körper fühlte sich solide und beruhigend an. Wenn der Panther hervorkam, um zu spielen, fühlte ich mich beinahe unverwundbar, obwohl ich wusste, dass ich das nicht war.

Sie sah mich mit leuchtenden Augen an. Sie hatten dieselbe Smaragdfarbe wie meine. Und dann sah ich ein Schimmern, das sie umgab, und flatterndes blondes Haar, und sie begann zu verschwinden. Ich rannte los, als ich plötzlich begriff.

»Warte, geh nicht weg! Komm zurück!« Ich sprang dorthin, wo sie gestanden hatte, hörte aber nur eine letzte Botschaft von ihr.

»Ich werde immer da sein, Schwester. Ich werde immer über dich wachen.«

Und damit war sie verschwunden. Ich starrte ins Leere, bis der Geruch von Herbstfeuern wieder um mich herumwehte - da schloss ich die Augen und glitt in die Bewusstlosigkeit hinüber.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich in meiner gewohnten Gestalt auf dem Rücken, und Camille tätschelte mir das Gesicht. »Delilah, Delilah? Alles in Ordnung?«

Ich blinzelte im grellen Licht, das den Raum erfüllte, und ließ mir von ihr helfen, mich aufzusetzen. Wo zum Teufel war ich? Ich blickte mich um und stellte fest, dass wir uns im Krankenhaus des AETT-Hauptquartiers befanden und ich auf einer Untersuchungsliege saß.

»Wie lange war ich weg?«, fragte ich und verzog das Gesicht. Mein Kopf tat entsetzlich weh.

»Etwa eine Stunde. Du bist mit dem Kopf auf ein Leitungsrohr geknallt, als du umgekippt bist, aber Sharah sagt, es sei nichts Schlimmes passiert. Wie fühlst du dich?« Sie zog einen Rollstuhl zu mir herüber und zwang mich, darin Platz zu nehmen. »Du wirst nicht herumlaufen, bis wir sicher sind, dass du keine Gehirnerschütterung hast.«

»Chase - wie geht es Chase? Und Karvanak... « Panik überkam mich, als mir plötzlich einfiel, wie ich hierhergekommen war. Ich versuchte aufzustehen, aber mir wurde so schwindelig, dass ich mich sofort wieder hinsetzte. Ich musste mir den Kopf wirklich heftig angehauen haben.

Während Camille mich auf den Flur hinausschob, stiegen die Bilder vor meinem inneren Auge auf. Karvanak. Chase. Und - meine Schwester. Die Geisterleopardin. Es stimmte also, ich hatte tatsächlich eine Zwillingsschwester, und sie war gestorben. Ich versuchte, das zu verdauen, während Camille mich durch eine Flügeltür manövrierte. Sie schob mich in einen großen Raum mit drei Betten und mehreren Stühlen. Wir waren in einem der Krankenzimmer.

Chase war da, er schlief in einem Bett. Bizarrerweise stand Menolly neben ihm und hielt seine Hand.

Zachary lag ebenfalls in einem Bett und sah aus wie eine Mumie, so gründlich war er in Verbände gewickelt. Smoky saß auf einem Stuhl, und zum ersten Mal, seit wir ihn kannten, sah er müde aus. Vanzir war auch da, mit mehr Verbänden und Pflastern, als ich zählen konnte, und einem Unterarm in einer Schiene. Alle waren mit Blutergüssen übersät, auch Camille.

Morio und Sharah traten ein.

»Chase, Zach - wie geht es ihnen? Ist Karvanak tot?« Ich bedeutete Camille, mich zu Chase zu schieben. Menolly trat beiseite und schenkte mir ein sanftes Lächeln, das für ihre Verhältnisse einem lauten Jubelschrei gleichkam.

»Chase wird wieder, aber es gibt leider keinerlei Möglichkeit, dieses Fingerglied je wieder anwachsen zu lassen«, antwortete Sharah. »Ich mache mir mehr Sorgen um seinen Geist. Sie haben ihn übel zugerichtet. Ich erkenne zahlreiche Anzeichen für Folterungen, und nicht alle davon hinterlassen nur äußerliche Spuren. Er ist durch die Hölle gegangen. Ich habe ihm ein Schlafmittel gegeben.

Schlaf und Ruhe sind für seine Heilung besonders wichtig.«

Ich starrte auf meinen schlafenden Detective hinab und fragte mich, wie wir diese Hölle überwinden sollten. Wie würde er gegen diese neuen Dämonen kämpfen, die ihn heimsuchen würden, wenn er erwachte?

»Und Zach?«, fragte ich leise.

Sie zuckte mit den Schultern. »Er wird sich wieder erholen, aber es wird lange dauern, bis sein Rücken richtig verheilt ist. Wenn Karvanaks Tritt nur eine Spur kräftiger gewesen wäre, hätte er ihm das Rückgrat gebrochen. Wie es aussieht, hat Zach sich das Steißbein gebrochen, zwei Rückenwirbel, eine Hüfte, ein Bein, ein Handgelenk, und er hat jede Menge Prellungen erlitten. Ich vermute, dass er frühestens in einem halben Jahr wieder ohne Hilfe wird gehen können, und möglicherweise wird er sein Leben lang hinken. Es ist noch zu früh, um das einschätzen zu können.«

»Er wurde so schwer verletzt, als er Chase das Leben gerettet hat«, sagte Menolly.

»Er hat sich zwischen Chase und Karvanak geworfen.«

Ich stemmte mich aus dem Rollstuhl, ignorierte Camilles Flehen und ging vorsichtig die paar Schritte zu Zachs Bett. Szenen des Kampfes stiegen aus meiner Erinnerung auf. Blut, so viel Blut an unseren Händen. Mein Puls beschleunigte sich, und plötzlich bemerkte ich, dass diese Erinnerungen kein Grauen mehr in mir auslösten, sondern einen Adrenalinstoß. Es juckte mich förmlich in den Fingern, die Jagd fortzusetzen, den Feind zu verfolgen und ihn in Stücke zu reißen.

»Du hast Chase gerettet«, flüsterte ich und beugte mich vor, um Zach auf die Stirn zu küssen. »Jetzt erinnere ich mich wieder daran. Kurz bevor ich mich verwandelt habe... habe ich gesehen, wie du dich vor Chase geworfen hast, um ihn zu schützen.« Ich blickte zu den anderen zurück. »Was ist mit ihm? Was ist mit Karvanak?«

»Am Ende haben wir es nur mit vereinten Kräften geschafft, ihn zur Strecke zu bringen«, sagte Smoky. Er winkte Camille zu sich heran, und sie setzte sich auf seinen Schoß. Er schlang den Arm um ihre Taille und seufzte tief. »Er war ein Höherer Dämon, aber dennoch... war er nur ein Dämon. Es gibt Tausende wie ihn in den Unterirdischen Reichen.« Er sprach den Gedanken nicht aus, der uns allen bei diesen Worten durch den Kopf ging.

Tausende von Dämonen, die nur darauf warteten, dass Schattenschwinge die Schleusen öffnete.

Jetzt fiel mir auf, dass Fraale und Roz nirgends zu sehen waren. Als ich mich nach ihnen erkundigte, runzelte Menolly die Stirn. »Sie sind nach dem Kampf gleich gegangen. Roz hat gesagt, sie müssten miteinander reden.«

»Zum Teufel. Diesmal haben wir das Siegel gerettet, aber fast zwei von uns verloren.« Ich ging zurück zu Chase und nahm seine Hand. Was wohl geschehen würde, wenn er aufwachte ? Mit ihm... mit uns ?

»Ich nehme an, alle anderen sind unversehrt? Mehr oder weniger?«, fragte ich, Chases Hand noch in meiner. Seine andere Hand war dick verbunden, und seine etwas gesündere Gesichtsfarbe sagte mir, dass die Infektion erfolgreich bekämpft wurde. Aber Infektionen und eingebüßte Fingerspitzen waren nichts im Vergleich zu schlimmen Erinnerungen.

»Ja«, sagte Camille. Sie sog tief die Luft ein, hielt sie kurz an und stieß sie dann scharf wieder aus. »Und du - du hast uns alle gerettet. Der Falxifer hätte alle in diesem Raum getötet, wenn du nicht... na ja... getan hättest, was du eben getan hast.«

Ich blinzelte nachdenklich. Ich hatte den anderen ja noch nichts von dem Geisterleoparden erzählt. Meiner Zwillingsschwester. Ich versuchte, die passenden Worte zu finden, doch dies war nicht der richtige Zeitpunkt. Im Moment konnte ich an nichts anderes denken als den Schmerz tiefster Erschöpfung, der sich durch meinen ganzen Körper zog. Daran, dass meine beiden Liebhaber schwer verletzt waren. Daran, dass mein Dolch zu mir gesprochen hatte, meine tote Schwester erschienen war, um an meiner Seite zu kämpfen, und dass mein Herr - einer der Schnitter - wollte, dass ich sein Kind gebar. Ich fühlte mich derart überwältigt, dass ich gar nicht wusste, wo ich anfangen sollte.

Und dann geschah ein Wunder. Vielleicht hatte auch eine der Ewigen Alten für einen Augenblick auf uns herabgelächelt. Chase schlug die Augen auf und drückte meine Hand. Ich winkte Sharah herbei.

»Er ist wach. Du hast doch gesagt, du hättest ihn sediert.«

»Nein«, flüsterte Chase, als Sharah herbeieilte. »Ich muss Delilah etwas sagen, ehe ich schlafe. Bitte.«

Sharah trat zurück und nickte mir zu.

Ich beugte mich über das Bett und hielt das Ohr dicht an Chases Lippen. »Was ist denn, mein Schatz?«

Er erschauerte und flüsterte dann: »Es tut mir leid. Das mit Erika. Ich war so ein Idiot. Ich dachte... ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, aber bitte, sag mir, dass du mich nicht verlassen wirst. Versprichst du mir, dass du nicht weggehst?«

Ich starrte in diese tiefbraunen Augen und stürzte hinein. Ich verlor mich so tief darin, dass ich keine Chance mehr hatte, umzukehren und zu gehen. »Ich bin hier. Ich gehe nicht weg. Wenn du dich besser fühlst, reden wir darüber. Wir finden schon einen Weg.«

Eine Träne rann ihm über die Wange, und er drückte meine Hand an seine Lippen. »Du bist es, Delilah. Nur du. Und ganz egal, was nötig ist - welches Arrangement du willst, ich werde es akzeptieren. Was immer ich tun soll, um meine Lügen wiedergutzumachen, sag es mir, und ich tue es. Selbst wenn... selbst wenn du Zachary willst. Er hat mir das Leben gerettet und wäre selbst beinahe umgekommen. Wie könnte ich ihm das je vergessen? Wie kann ich ihm das je vergelten?«

Ich drückte ihm den Zeigefinger an die Lippen. »Psst. Streng dich jetzt nicht an.

Du musst schlafen, und wenn du aufwachst, bin ich da. Wir finden einen Weg, Chase. Meine Eltern haben es geschafft; irgendwie werden wir es auch schaffen.«

Seine Augen schlossen sich, und ein leichtes Schnarchen drang pfeifend aus seiner Nase. Da lächelte ich. Alles würde wieder gut werden. Musste einfach wieder gut werden.