Kapitel 17

 

Delilah? Delilah!« Camilles Stimme hallte durch den Nebel, der meine Gedanken einhüllte. Ich blinzelte und merkte, dass ich auf den Knien hockte, vornübergebeugt mit der Stirn am Boden, die Hände schützend über dem Hinterkopf.

Die letzten Worte des Herbstkönigs klangen mir noch in den Ohren, als ich mich umblickte. Sämtliche Totenmänner lagen, nun wahrhaftig tot, in der unterirdischen Kammer verteilt. Alle - bis auf Smoky natürlich - waren mit Blut und Dreck bedeckt. Ich stöhnte leise, als Camille und Menolly mir aufhalfen.

»Kannst du stehen?«, fragte Menolly, die mir fest in die Augen sah. Sie wusste es.

Vielleicht nicht, was genau geschehen war, aber dass etwas geschehen war. Sie merkte das immer.

Ich nickte. Aber ich würde den Teufel tun und jetzt darüber sprechen, was gerade passiert war. Wir hatten immer noch einen Schatten auszuschalten und ein Geistsiegel zu finden.

»Ja. Ich bin wohl nur ein bisschen durchgedreht, glaube ich.« Ich zitterte und entzog mich ihrem Griff. »Bringen wir es zu Ende und sehen zu, dass wir nach Hause kommen. Ich brauche dringend Schlaf.« Was ich jedoch wirklich brauchte, war irgendetwas, das mich aus meinen Gedanken riss. Was mich den Herbstkönig und den Tod und Geister vergessen ließ und von Elementarfürsten gezeugte Kinder. Mein Blick fiel auf Zach. Was ich jetzt brauchte, war ein blonder, umwerfend gutaussehender Werpuma.

Er blinzelte und erwiderte meinen intensiven Blick, während sich langsam ein Lächeln über sein Gesicht breitete. Er konnte meine Erregung wittern. Das wusste ich, weil auch ich den Duft des Begehrens roch, den er verströmte. Er wollte mich ebenso sehr wie ich ihn.

Menolly und Camille wechselten einen Blick und zuckten mit den Schultern.

»Okay, wenn dir nichts fehlt, gehen wir weiter.« Camille wies auf das hintere Ende der Höhle. Irgendwo dort war das Geistsiegel und zweifellos auch der Schatten.

Während wir durch Blut und Leichen der Totenmänner wateten, hatte ich das Gefühl, dass die Höhlenwände immer dichter um mich zusammenrückten. Ich mochte keine unterirdischen oder allzu kleinen Räume. Klaustrophobie, so hatte meine Mutter das genannt und den Grund in meinem Werkatzen-Wesen vermutet. Katzen waren nicht gern eingeschlossen, obwohl sie gemütliche Eckchen zu schätzen wussten. Mutter hatte stets gesagt: »Treib eine Katze nie in die Ecke, sonst kratzt sie dir die Augen aus. Katzen wollen immer die Möglichkeit zur Flucht haben, auch wenn sie sich dann dafür entscheiden, sie nicht zu nutzen.« Ich hatte lange geglaubt, dass sie mich damit auf ihre sanfte Art tadeln wollte.

Ich war nie gut darin gewesen, eine Tochter zu sein, jedenfalls nicht die Art Tochter, mit der meine Mutter gut klargekommen wäre. Ich hatte immer im Wald herumstreifen, Jungenkleidung tragen, Käfer fangen und auf Bäume klettern wollen. Einen Wildfang, so hatte sie mich oft genannt, obwohl ihre Stimme dabei liebevoll geklungen hatte. Ich hatte mir immer ihre Anerkennung, ihre Zustimmung gewünscht, aber stets das Gefühl gehabt, dass ich ihren Erwartungen nicht gerecht wurde - obwohl sie so etwas nicht ein einziges Mal geäußert hatte.

Ich vertrieb die Gedanken an die Vergangenheit aus meinem Kopf und eilte nach vorn, wo Roz und Vanzir mich erwarteten.

»Hat einer von euch schon mal mit einem Schatten gekämpft?« Ich hoffte auf ein Ja, hätte mich aber auch mit einem Nein, aber ich weiß, wie man sie töten kann zufriedengegeben. Leider bekam ich keines von beidem.

»Nein«, antwortete Roz und schüttelte den gelockten Pferdeschwanz. »Ich habe im Lauf der Jahre eine Menge Geister gesehen und gegen ein paar Gespenster aus der Schattenwelt gekämpft, aber Schatten - die spielen in der Oberliga. Normalerweise findet man sie nur bei sehr alten Ruinen oder auf Schlachtfeldern.«

Vanzir schüttelte ebenfalls den Kopf. »Ich auch nicht, aber ich habe schon ein paar gesehen. Sie können ziemlich harte Gegner sein, soweit ich gehört habe. Aber ich weiß, dass sie Licht verabscheuen. Die Sonne können sie nicht ertragen, und während des Tages sieht oder fühlt man sie sehr selten.«

»Wunderbar«, brummte ich. »Wir sind in einer Höhle, mitten in der Nacht. Der perfekte Ort und Zeitpunkt für den Schatten, uns ordentlich was vorzuspuken.«

Camille und Morio holten uns ein. »He, wir haben eine Idee, wie wir das vielleicht nutzen könnten«, sagte Morio. »Wenn sie Licht verabscheuen, werfen wir eben die Sonne an.

Camille hat das Einhorn-Horn dabei; sie kann es benutzen, um ihre Macht über Feuer und Blitze zu stärken. Wenn wir eine Schockwelle aus Licht durch die Höhle schicken, verschafft uns das vielleicht genug Zeit, uns das Siegel zu schnappen und damit zu verschwinden.«

Menolly räusperte sich. »Du meinst, du willst den Geist... na ja... am Leben lassen? Gar nicht erst versuchen, ihn zur Höll...«

»Genau genommen, würden wir ihn sowieso nicht zu Hei zurückschicken«, unterbrach Smoky ihn. »Schatten stammen für gewöhnlich aus der Schattenwelt. Hei herrscht über die eisigen Tiefen der Unterwelt.«

»Ich habe nicht von der Göttin gesprochen, du feuerspeiende Eidechse.« Menolly warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Ich habe das wortwörtlich gemeint - in die Hölle. Du weißt schon, das ist da, wo die feurigen Kerlchen in roten Lackleggins auf den Schädeln ihrer Feinde herumtanzen.«

Ich schnaubte. »Schon klar. Du weißt genauso gut wie ich, dass Luzifer ein Gott ist und kein Teufel und dass die meisten Geister mit den Unterirdischen Reichen nichts zu tun haben. Abgesehen davon ist Schattenschwinge viel gefährlicher als jegliche Wesenheit, die sich ein Sterblicher ausdenken könnte. Jetzt mal im Ernst: Wenn wir ohne einen Kampf hier rauskommen, umso besser. Der Schatten macht doch sonst keinen Ärger - nicht, dass wir wüssten. Er ist vermutlich an diesen Ort gebunden. Was meint ihr, wie viele Leute hier zufällig vorbeischauen? Ich will jedenfalls nur noch hier weg, nach Hause und in die Badewanne.«

»Kann sein, dass er hier bleibt, aber vermutlich nicht... da gibt es keine Garantien. Der Schatten könnte uns doch folgen und das Siegel suchen«, wandte Menolly ein. »Woher wollen wir wissen, dass er nicht hergeschickt wurde, um das Geistsiegel zu schützen und denjenigen zu verfolgen, der es stiehlt? Die Geister können nicht sprechen. Was tun wir denn, wenn er uns aufspürt? Sollen wir ihm vielleicht sagen, tut uns furchtbar leid, aber wir haben das Siegel schon weitergereicht?«

»Tja, da könntest du wohl recht haben. Wenn du meinst, dass du ihn bannen kannst, schön, aber ich möchte mich nicht in einen einseitigen Kampf verwickeln lassen.« Ich runzelte die Stirn.

»Meine Damen, wir haben jetzt keine Zeit zum Streiten«, unterbrach Roz unsere Debatte.

Er zeigte auf den Durchgang zur hinteren Kammer, aus dem eine schattenhafte Gestalt hervorkam.

Der Geist war eine schwarze Silhouette, ganz ähnlich dem Wiedergänger, mit dem wir zuvor gekämpft hatten, bis auf die glühenden Augen. Rot natürlich. Diese Dinger schienen irgendwie immer rotglühende Augen zu haben. Der Schatten starrte in unsere Richtung und ließ eine Woge bösartiger Energie los, die auf uns zurollte wie ein Tsunami auf einen Strand.

»Scheiße, er benutzt irgendeine Art Energie-Absaugung«, rief Menolly und rannte auf ihn zu. Ich versuchte sie aufzuhalten, bekam aber kaum den Mund auf.

Als sie nach ihm schlug, fuhr ihre Hand einfach hindurch, als wollte sie Nebel verhauen.

Verblüfft taumelte sie zurück. Der Schatten ignorierte sie. Menolly stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete das Wesen. Ich kämpfte darum, einen klaren Gedanken zu fassen, aber zu mehr war ich nicht in der Lage, so stark war der konzentrierte Hass, der auf uns zurollte.

Menolly gab Smoky einen Wink, als der Schatten sich langsam in Bewegung setzte. »Hast du was zu bieten? Offenbar stelle ich für ihn keine Bedrohung dar.«

Smoky runzelte die Stirn und bedeutete Zach, Roz, Camille und mir, hinter ihn zu treten.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte er düster. »Ich werde es versuchen, aber Geister hatten noch nie sonderlichen Respekt vor mir.« Er legte die Fingerspitzen zusammen und formte mit den Daumen ein Dreieck. »Geist, o Geist, das Leuchtfeuer lodert, und ich rufe meine Ahnen an. Dracon, dracon, dracon, jagt dieses Geschöpf zurück in die Schattenwelt! Schafft diesen Geist hinweg von mir!«

Als ein silberner Lichtblitz aus Smokys Händen hervor direkt auf den Schatten zuschoss, duckte sich der Geist kurz, richtete sich jedoch gleich wieder auf. Ich starrte ihn an. Nicht einmal Smoky konnte dieses Ding ins Wanken bringen. Scheiße. Mir brach der kalte Schweiß im Rücken aus, als das Ding direkt vor dem Drachen verharrte. Konnte es ihm etwas antun? Konnte Smoky uns nicht vor ihm schützen?

In diesem Moment fassten Morio und Camille sich an den Händen und traten zur Seite, um freies Schussfeld zu haben. Sie hatten bereits mit ihrem Spruch begonnen, und die Kraft, die sie zwischen sich aufbauten, jagte mir eine Höllenangst ein.

Ein tiefes Grollen erhob sich unter ihren Füßen, und bläulicher Nebel stieg aus dem Boden auf und wallte um sie herum. Camille hielt das Horn des Schwarzen Einhorns in der rechten Hand, die linke war mit Morios rechter verschränkt. Er wiederum hielt in der linken ein etwa keksgroßes silbernes Medaillon, das ich noch nie gesehen hatte.

Smoky starrte die beiden einen Moment lang an, stieß dann Zach und mich aus dem Weg und wich selbst zurück. Menolly ging in Deckung, und Roz und Vanzir hechteten ihr nach. Anscheinend konnten alle diese aufsteigende Energie spüren. Ich stellte erleichtert - und ein wenig verlegen - fest, dass ich also nicht die Einzige war, die ihr auf keinen Fall im Weg stehen wollte. Ich spähte hinter Smokys langem weißem Trenchcoat hervor, um nichts zu verpassen.

»Reverente destal a Mordenta, reverente destal a Mordenta, reverente destal a Mordenta...« Morio und Camille sprachen wie aus einem Munde und boten dem Schatten mit einem wilden, raubtierhaften Ausdruck auf den Gesichtern die Stirn. Ihre Stimmen hallten durch die Höhle und unterstrichen jeden Vers mit einem spürbaren Zustrom von Kraft. Der Nebel begann sich um sie herum zu drehen, als Camille das Einhorn-Horn in die Luft reckte. Funken sprühten aus der Spitze hervor und sammelten die Dämpfe, die aus dem Boden aufstiegen, zu einem gewaltigen Wirbel, einer schweren Gewitterwolke, die tief über ihren Köpfen hing.

Der Schatten stieß ein Kreischen aus und bewegte sich auf sie zu. Er hielt inne, als Camille den Spruch unterbrach und sagte: »Wag es ja nicht. Verschwinde, du Wurm, oder wir zerblasen dich zu Rauch und Asche.«

Ihre Stimme wurde von einer plötzlichen Brise erfasst. Ich konnte nicht erkennen, woher der Windstoß kam, aber er fuhr durch die Höhle, heulte wie eine Banshee und brachte ein Beben wie von einem Güterzug mit. Die Wolke über Camilles Kopf ließ ein tiefes Grollen hören - Donner. Die Spitze des Einhorn-Horns glühte jetzt.

Der Schatten rückte wieder vor, und nur die Augen glommen aus dem in Dunkel gehüllten Körper.

»Reverente destal a Mordenta!«, brüllte Morio, und Camille warf den Kopf zurück.

»Augen zuhalten!«, kreischte sie, und uns blieb gerade noch genug Zeit, den Blick abzuwenden, ehe ihr Zauber sich zu einem Lichtblitz konzentrierte, der weißglühend aus der Spitze des Horns hervorschoss. Er fuhr wie eine vielzinkige Gabel in den Geist hinein, und das Licht erhellte die ganze Höhle. Einen Moment lang sah ich nur helle Flecken vor den Augen, und dann erlosch das grelle Licht so plötzlich, wie es erschienen war. Der Schatten verschwand.

Menolly stöhnte, und ich rannte zu dem Felsen, hinter den sie sich geduckt hatte. Sie hatte ein paar Verbrennungen erlitten, aber die versengten Stellen - vor allem unter den Augen und an den Fingerspitzen - heilten bereits. Ich half ihr auf.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich überflüssigerweise. Offensichtlich hatte sie es relativ unbeschadet überstanden.

»Ja«, sagte sie. »Den Göttern sei Dank, dass sie einen Blitz benutzt hat, statt Feuer zu beschwören, sonst wäre ich jetzt wohl ein Häufchen Asche.«

Camille eilte mit weit aufgerissenen Augen zu uns herüber. »O Große Mutter, das tut mir so leid! Bist du verletzt? Ich hatte ja keine Ahnung, dass die Wirkung derart gewaltig sein würde«, flüsterte sie und starrte auf das Horn in ihrer Hand. »Ich werde wohl noch ein bisschen üben müssen, ehe ich es vernünftig kontrollieren kann. Aber ich habe damit ja auch einen Blitz aufgehalten, als Eriskel mich auf die Probe gestellt hat.«

Eriskel war der Dschindasel des Horns, eine Art Schutzgeist, einem Dschinn nicht unähnlich, aber weder so mächtig noch so bösartig. Der Dschindasel wachte über die Elementare, die in dem Horn aus sich verjüngendem Kristall steckten. Ich hatte nicht alles verstanden, was Camille uns hatte erklären wollen, aber ich wusste, dass das Horn eine machtvolle Waffe war. Und ich hatte so das Gefühl, dass sie keine Ahnung hatte, wie machtvoll genau. Noch nicht.

»Da wirst du noch etwas üben müssen, allerdings. Pass bloß auf, dass ich dann nicht in Reichweite von dem Ding bin!«, schnaubte Menolly und stapfte zu der Stelle, wo der Geist verschwunden war. Von dem Schatten war nichts mehr zu sehen. Er war weg.

Wir alle wechselten einen Blick, und ich sah, wie Vanzir den Durchgang zur Kammer beäugte. Ein hässlicher und ausgesprochen unfreundlicher Gedanke zuckte mir durch den Kopf. Ich raste zu der Kammer.

Dort lag auf einem Podest aus Granit ein offenes Kästchen, von Hand aus Kristall geschliffen. In dem Kästchen lag ein Anhänger. Ein Rubin, in Bronze gefasst. Langsam nahm ich den schweren Talisman heraus, und in dem Edelstein flackerte schillerndes Licht auf, das mir den Atem verschlug. Das vierte Geistsiegel.

Als ich zum Durchgang blickte, stand Vanzir da und starrte mich an. Er lehnte an dem Bogen im Fels, und als sein Blick auf das Geistsiegel fiel, griff ich ohne zu zögern nach meinem Dolch. Er schnaubte.

»Wenn ich dir das Siegel wegnehmen wollte, könnte dein Dolch mich nicht daran hindern«, sagte er, und ein verächtlicher Unterton heizte seine Worte auf. »Glaub mir, nichts könnte sich mir in den Weg stellen, Werkatze. « Einen Augenblick lang schien er in die Höhe zu wachsen, und seine Augen glühten auf. Dann verblasste das Glimmen, und er entspannte sich.

»Ich habe euch mein Wort gegeben. Ich habe mich durch das Knechtschaftsritual an euch gebunden. Abgesehen davon, mir selbst die Kehle aufzuschlitzen, kann ich nicht mehr viel tun, damit ihr mir glaubt. Aber ich werde es ein letztes Mal versuchen. Ich begehre das Siegel nicht. Ich will auch nicht, dass Schattenschwinge es besitzt. Du scheinst das nicht zu glauben, aber die Existenz meiner Art hängt davon ab, dass die Menschheit seine Herrschaft unbeschadet übersteht. Wir haben ein sehr überzeugendes Motiv dafür, euch zu helfen.«

Damit wandte er sich ab und verließ die Kammer.

Ich sah ihm nach und fragte mich, was er damit gemeint hatte. Beinahe hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich an ihm gezweifelt hatte. Doch dann machten Menollys und Camilles Stimmen, die sich dem Durchgang näherten, mir wieder Mut. Ich legte die Schuldgefühle ab. Wir befanden uns im Krieg. Ich musste misstrauisch bleiben. Wenn Vanzir unseren Argwohn auch nicht verstehen konnte, so würde er doch lernen müssen, damit zu leben.

Der Marsch zurück zum Auto war endlos weit, und die Fahrt nach Hause schien ewig zu dauern. Wir waren alle völlig erschöpft. Camille schlief auf dem Rücksitz ein, den Kopf an Menollys Schulter. Vanzir saß schweigend ein wenig von ihnen abgerückt.

Auch Morio pennte, neben Smoky und Rozurial. Zach fuhr, und ich saß vorn neben ihm.

Während er den Wagen durch die kühle Frühlingsnacht lenkte, beobachtete ich seine Hände am Lenkrad. Ich war müde - fix und fertig, um genau zu sein -, aber auch vollgepumpt mit Adrenalin. Das Einschlafen würde mir schwerfallen. Ich rückte näher an ihn heran.

»Bleibst du heute Nacht bei mir?«, flüsterte ich. Er warf mir einen Blick zu und sah dann wieder auf die Straße. »Bist du sicher?« Ich nickte.

»Was ist mit Chase?«

Ich holte tief Luft, stieß sie wieder aus und sagte: »Das ist meine Entscheidung. Ich entscheide mich dafür, diese Nacht mit dir zu verbringen, wenn du mich auch willst.«

Meine Stimme zitterte ein wenig. Würde er mich denn noch wollen, nach so langer Zeit frustrierten Wartens? Ich hätte es ihm nicht verdenken können, wenn er sich jetzt nicht mehr mit mir einlassen wollte.

Aber Zach lächelte nur. »Delilah, ich will dich immer. Darüber brauchst du dir nie Gedanken zu machen.« Damit war es ausgemacht.

Wir fuhren schweigend bis nach Hause, von wo aus Smoky und Menolly sich sofort mit dem Geistsiegellauf den Weg machten. Camille und Morio waren von ihrer magischen Schwerstarbeit zu erschöpft, um ihnen zu helfen, und ich war einfach zu fertig.

Im Wohnzimmer brannte Licht. Iris hatte auf uns gewartet, obwohl wir ihr gesagt hatten, sie solle nicht aufbleiben. Als wir eintraten, warf sie mir einen besorgten Blick zu. Ich lächelte und nickte.

»Wir haben das Siegel gefunden, und es ist schon auf dem Weg zu... seiner neuen Heimat.« Ich wollte vor Vanzir immer noch nichts von Königin Asteria sagen.

Roz schien mein Zögern zu bemerken, denn er klopfte Vanzir auf die Schulter. »Gehen wir. Wir machen es uns in der Bude gemütlich, die ich für einen Monat zur Untermiete bezogen habe. Mädels, für heute Nacht seid ihr uns los. Ruft uns morgen an, wenn ihr reden wollt. Ich habe das Handy immer dabei.«

Als wir ihnen nachwinkten, schüttelte Camille den Kopf. »Muss ins Bett. Ich schlafe gleich im Stehen ein. Morio geht's nicht viel besser. Smoky hat einen Hausschlüssel.

Schließ die Tür ab, wenn du ins Bett gehst.« Meine Schwester und ihr Fuchsdämon schleppten sich die Treppe hinauf und verschwanden in ihrem Schlafzimmer.

»Delilah, ehe du nach oben gehst, da hat jemand für dich angerufen, während ihr weg wart.« Iris reichte mir die Hälfte von ihrem Sandwich. Anscheinend hatte ich das Essen mit all zu offensichtlichem Appetit beäugt.

»Ich will nichts davon hören, außer es ist ein Notfall .« Ich tippte Zach auf die Schulter.

»Geh schon rauf und warte auf mich.« Er verließ höflich den Raum.

Iris schüttelte den Kopf. »Es war nicht Chase«, sagte sie stirnrunzelnd. »Es war Sharah, und sie hat gesagt, es sei wichtig.«

»Hat sie etwas von einem Notfall gesagt?«

»Nein«, antwortete Iris gedehnt. »Aber sie klang besorgt. Willst du sie denn nicht zurückrufen?«

»Morgen früh. Wenn es ein Notfall ist, wird sie noch mal anrufen. Bis dahin werde ich mich entspannen und ein bisschen amüsieren und ein paar hundert Stunden schlafen«, sagte ich und fuhr mir mit beiden Händen durchs Haar. Ich brauchte eine Dusche, und dann brauchte ich etwas viel Sinnlicheres als scheußliches Wasser, das an mir herablief.

»Zach bleibt über Nacht«, fügte ich hinzu.

Iris lächelte. »Dies sind schwierige Zeiten, Delilah. Du darfst dir den Genuss von Freunden und angenehmer Gesellschaft nicht aus Angst oder fehlgeleiteten Schuldgefühlen verweigern. Du und Chase habt eine Menge zu klären, ehe ihr eine Entscheidung treffen könnt, aber bis dahin würde ich mich an deiner Stelle als ungebunden betrachten.«

Ungebunden. Ich war nicht sicher, ob mir diese Bezeichnung gefiel. Trotzdem küsste ich sie auf die Wange und ging dann nach oben zu dem Mann, der mich mit offenen Armen erwartete.