Kapitel 13

 

Wir kamen zur Abendessenszeit nach Hause. Vanzir und Rozurial spielten vor dem Haus eine Partie Romme an dem Picknicktisch, den Iris bestellt hatte, damit wir im Sommer draußen essen konnten. Sie kamen auf das Auto zugelaufen, sobald wir vor dem Haus hielten.

»Wir haben sie - wir haben die Höhle gefunden«, sagte Roz, als er mich erreichte. »Wir wissen, wo das Geistsiegellist, aber wir haben keine Zeit zu verlieren. Karvanak hat den Goldsucher entführt, und Vanzir hat ihm zwar die Erinnerung gestohlen, aber wir dürfen trotzdem kein Risiko eingehen. Wir müssen noch heute Nacht da raus und uns das Geistsiegel holen.«

Scheiße. Ich war müde. Alle anderen auch. Aber Roz hatte recht. Im Krieg musste der Schlaf nun mal zurückstehen. Schlachten zu gewinnen kam an erster Stelle.

»Ja, da hast du recht. Camille? Was meinst du?«

»Finde ich auch. Hätte das nicht passieren können, nachdem wir ein bisschen geschlafen haben? Aber so kann zumindest Menolly mitkommen, und das ist auf jeden Fall gut.

Wenn die Jungs das Versteck erst morgen früh gefunden hätten, hätten wir ohne sie gehen müssen. So warten wir noch ein paar Stunden, und wenn sie aufwacht, wird sie es kaum erwarten können, loszuziehen. Bis dahin können wir uns ja ein bisschen aufs Ohr legen.« Sie gähnte und blickte auf ihre Hand hinab, die immer noch dick verbunden war. »Diese Wunde setzt mir mehr zu, als ich dachte, aber wenn ich jetzt ein Nickerchen machen kann, wird es schon gehen.«

Ich nickte, aber ich war ein wenig besorgt. Unser Anteil Feenblut sorgte normalerweise dafür, dass alles rasch und problemlos verheilte, doch die Verletzung war sehr hässlich gewesen. Wenn ich es recht bedachte, hatten wir alle ein ziemlich hartes Jahr hinter uns.

»Klingt gut. Iris, meinst du, du könntest etwas zu essen für uns auf dem Tisch haben, wenn wir nachher wieder aufstehen? Etwas Leichtes, aber eiweißreich und süß?«

Sie nickte, obwohl sie selbst müde aussah. »Kein Problem. Da ich nachher nicht mit euch in die Hügel fahre, kann ich mich ausruhen, wenn ihr fort seid. Jetzt kümmere ich mich erst einmal um die Kräuterstecklinge, damit sie versorgt sind, bis du Zeit hast, sie einzupflanzen.«

Ich wandte mich wieder Roz und Vanzir zu. »Also, dann erzählt mal, was uns nachher bevorsteht.«

»Das Siegel liegt in einer Höhle im Vorgebirge in der Nähe der Snoqualmie Falls. Man erzählt sich, dass es in der Höhle spukt. Ich würde diese Gerüchte nicht einfach abtun.

Da oben ist eine Art Geister-Aktivität zu spüren, aber ich kann Dämonen besser erfühlen als Gespenster«, sagte Vanzir.

Er schob den Packen Spielkarten in seine Hosentasche und fuhr fort: »Karvanak wird es uns nicht leicht machen. Falls er es schafft, an Spuren der Erinnerung heranzukommen, wird er sich auf diese Information stürzen. Wie auch immer, der arme Kerl ist schon so gut wie tot. Der Räksasa wird ihm den Geist brechen oder seinen Körper zerstören.«

Schaudernd folgte ich den anderen ins Haus.

Iris ging sofort nach unten, um Maggie zu holen, kehrte dann ins Wohnzimmer zurück und drückte die Gargoyle Smoky in die Hände, der die Brauen hob, sie aber trotzdem festhielt.

»Da du nur hier herumsitzen und reden wirst, kannst du dich ebenso gut nützlich machen. Du passt auf das Baby auf, während ich euch etwas zu essen mache.« Iris duldete keinen Widerspruch, und Smoky gehorchte ihr ebenso selbstverständlich wie jedes andere Mitglied unserer erweiterten Familie.

Maggie gab ihr Muuf! von sich und schlabberte dem Drachen prompt einen Kuss auf die Wange. Smoky lächelte, und eine Strähne seines Haars erhob sich und kitzelte sie am Kinn. Maggie spielte gern mit Smokys Haar, und er neckte sie damit wie eine Katze mit einer Schnur.

Kichernd eilte Iris in die Küche, und das Scheppern von Töpfen und Pfannen versprach, dass das Abendessen fertig sein würde, wenn wir wieder aufstanden. Ich warf einen Blick auf die Uhr. In anderthalb Stunden würde Menolly aufwachen.

»Ab ins Bett«, sagte ich und ging zur Treppe. Camille trottete hinter mir her, gefolgt von Morio, der ebenso müde wirkte wie wir. Die beiden bogen im ersten Stock ab und verabschiedeten sich mit einem kurzen Winken.

»Wir sehen uns beim Essen«, sagte Camille, und sie verschwanden in ihrem Schlafzimmer.

Ich eilte in den zweiten Stock weiter und überlegte, wie ich wohl am schnellsten einschlafen würde. Ich war so müde, dass ich mir nicht einmal die Mühe machte, mich auszuziehen. Ich verwandelte mich, sprang aufs Bett und rollte mich am Fußende zusammen. Als Katze schlief ich immer besser, und tatsächlich, binnen weniger Augenblicke versank ich in einem tiefen, himmlischen Schläfchen.

»Delilah, Delilah! Zeit zum Aufstehen!« Eine Frau hob mich auf die Arme, und ich schnurrte im Halbschlaf genüsslich, als sie mir die Ohren kraulte. Einen Moment später schüttelte ich mich wach und blickte in Menollys Augen. Ich miaute laut, und sie warf mich leicht aufs Bett, wo ich mich gemächlich wieder in einen Zweibeiner verwandelte.

Ich räkelte mich gähnend. »Oh, das hat gutgetan. Wie lange habe ich geschlafen?«

»Ich habe dafür gesorgt, dass die anderen euch wenigstens zwei Stunden lang schlafen lassen, statt anderthalb. Jedes bisschen Ruhe kann einen großen Unterschied machen, was eure Reflexe und allgemeine Aufmerksamkeit angeht. Fühlst du dich gut genug, um es heute Nacht zu versuchen?« Menolly war schon für den Wald angezogen: Jeans, langärmeliger Rollkragenpulli, Jeansweste und ihre kniehoch geschnürten Doc Martens.

Sie lächelte mich mit gefletschten Zähnen an, und ich konnte Blut in ihrem Atem riechen.

»Ich nehme an, du hast schon gegessen.« Ich verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf.

»Mist. Habe ich wieder Mundgeruch?« Sie verdrehte die Augen.

»Ja. Hier. Versuch es mal damit. Ich sage dir doch ständig, dass du immer eines dabeihaben solltest.« Ich warf ihr ein Atemspray im Handtaschenformat zu. Pfefferminz.

Starkes Pfefferminz. Ich liebte das Zeug, weil es ein bisschen wie Katzenminze schmeckte, mich aber nicht dazu verführte, Dummheiten zu machen. Meine Schwestern kannten mein kleines Geheimnis: Katzenminze - das Kraut selbst, aber auch der Tee - war für mich das, was Tequila für einige VBM war, selbst in meiner zweibeinigen Gestalt. Ich hatte nie jemand anderem davon erzählt, weil ich nicht wollte, dass irgendein Scherzkeks mal ausprobierte, wie weit er damit bei mir kam.

Menolly konnte nichts essen oder trinken außer Blut, doch von Atemspray wurde ihr nicht schlecht. Sie sprühte sich ein paar Portionen in den Mund, bis ich kein Blut mehr riechen konnte. Sie hielt das Fläschchen hoch und fragte: »Kann ich das behalten?«

Ich nickte und blickte an mir herab. Meine Aufmachung war ziemlich Grunge mäßig, aber da, wo wir hingingen, spielte das keine Rolle. »Meinst du, die Klamotten sind das Richtige? In der Anderwelt war das Outfit heute brauchbar. Also könnte ich die Sachen ebenso gut heute Nacht tragen. Ich werde sowieso nur wieder furchtbar schmutzig werden. Ich weiß es. Ich bin so trampelig, wie Smoky unnatürlich sauber bleibt. Ist dir auch schon aufgefallen, dass er sich anscheinend nie schmutzig macht?«

»O ja, aber traust du dich, ihn zu fragen, wie er das macht?«

»Hab ich schon.« Ich schnaubte. »Er hat mich nur dreist angegrinst. Vielleicht kann Camille es ihm aus der Nase ziehen. Er ist wirklich sehr verschlossen. Meinst du, er hat ihr schon seinen richtigen Namen genannt?«

»Ha! Das bezweifle ich. Er ist und bleibt ein Drache.« Menolly lächelte. »Komm schon, Kätzchen. Iris hält das Abendessen warm. Camille und Morio sitzen bestimmt schon am Tisch.«

Als ich die Treppe hinunterpolterte, während meine Schwester lautlos hinter mir herglitt, roch ich schon den Duft von Hamburgern und frischem Obst. Mir lief das Wasser im Munde zusammen, und ich sauste in die Küche, auf einmal ganz aufgekratzt. Wir waren mal wieder einem der Geistsiegellauf der Spur -

na und? Wir hatten es bisher geschafft. Wir schafften es immer. Na ja, nicht immer, aber beim vierten Siegel hatten wir einen kleinen Vorsprung, und diesmal würden wir Karvanak nicht gewinnen lassen.

Iris reichte mir einen Burger und einen dicken Melonenschnitz, sobald ich mich auf meinen Stuhl gesetzt hatte. Camille und Morio aßen schon. Smoky betrachtete mit Roz eine Karte, und Vanzir saß in der Ecke. Menolly beugte sich über den Laufstall und setzte sich die Gargoyle auf die Hüfte. Maggie brabbelte etwas und drückte Menolly einen dicken Schmatz auf die Wange.

»Also, das ist unser Plan. Bis zur Abfahrt Skattercreek Road sind es vierzig Minuten Fahrt.« Roz fuhr mit dem Finger die Strecke auf der Karte nach, und ich beugte mich über den Tisch, um ihm zuzusehen. »Dann geht es steil bergauf, wir sollten also Fahrzeuge nehmen, die den Bedingungen gewachsen sind. Dein Jeep müsste es schaffen.

Camille, lass den Lexus zu Hause. Das gilt auch für deinen Jaguar, Menolly.«

Als sein Blick zu Menolly hinüberhuschte, begann in meinem Hinterkopf ein leises Glöckchen zu klingeln. Zwischen den beiden lief irgendetwas. Oder es würde etwas laufen, obwohl ihnen das noch nicht klar war. Natürlich versuchte Roz schon seit einer ganzen Weile, Menolly an die Wäsche zu gehen - aber hatte meine Schwester sich jetzt entschlossen, ihn ranzulassen? Die beiden würden jedenfalls höllisch gut zusammenpassen. Der Incubus und die Vampirin.

Ich beschloss, den Mund zu halten. Camille offenbar ebenfalls, obwohl sie meinen Blick auffing und die Augenbrauen hochzog.

»Wenn wir nur den Jeep nehmen, müssen da also... wie viele von uns rein?« Ich zählte.

Smoky, Roz, Vanzir, Camille, Menolly und ich. »Sechs. Das müsste gehen, aber es wird ziemlich eng.«

»Nehmen wir besser gleich meinen SUV«, sagte Morio. In diesem Moment klingelte das Telefon.

Menolly ging dran, und ich zuckte mit den Schultern und nickte. »Von mir aus. Ich bin sowieso nicht scharf darauf, jetzt zu fahren.«

Ich hatte gerade von meinem Burger abgebissen, als Menolly mir das Telefon hinhielt.

Ich starrte es an und hoffte, es möge nicht Chase sein. Menolly schüttelte ungeduldig den Hörer, bis ich mir schließlich die Finger an der Jeans abwischte und das verdammte Ding entgegennahm.

»Ja?« Nicht allzu freundlich, denn es konnte ja Chase sein, und ich war noch nicht bereit, nett zu ihm zu sein. Aber ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen - es war Zach.

»Ich bin gerade in der Stadt und wollte fragen, ob du vielleicht Lust hast, ins Kino zu gehen.« Seine angenehm grollende Stimme klang so vol und satt wie immer, und mein Körper reagierte sofort auf den tiefen Bariton.

Ich holte tief Luft. »Nein, tut mir leid. Nicht heute Abend. Aber sag mal, möchtest du uns auf einen kleinen Ausflug begleiten? Wir brauchen sämtliche Hilfe, die wir kriegen können.«

Eine Pause, dann ein leises Seufzen. »Geistsiegel, Dämon oder beides?«

»Geistsiegel. Dämonen sind noch nicht dahintergekommen, und dabei würden wir es gern belassen. Wie wäre es mit einer Spazierfahrt hoch nach Snoqualmie?«

 

Er lachte. »Delilah, inzwischen müsstest du doch wissen, dass ich für alles zu haben bin, wenn du dabei bist. Ich beeile mich - müsste in zwanzig Minuten bei euch sein. Fahrt ja nicht ohne mich los.«

Als ich Menolly das Telefon zurückgab, empfand ich selbstgefällige Genugtuung. Zach fürchtete sich nicht davor, uns zu helfen. Zach würde uns nicht im Stich lassen. Ich erzählte den anderen, dass wir ein weiteres Paar Hände an Bord hatten.

»Gut«, sagte Camille, leckte sich Ketchup von den Fingern und griff nach einer Serviette.

»Iris, wenn wir noch Kekse im Haus haben, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, damit herauszurücken. Ich habe immer Heißhunger auf Süßes, wenn wir uns an die Arbeit machen.«

Arbeit... ich blinzelte erstaunt. »Weißt du was, so habe ich das noch nie betrachtet, aber du hast recht. Arbeit. All das hier ist jetzt unser Job, nicht wahr? Mehr als die Buchhandlung oder mein vorgebliches Detektivbüro... mehr als der Wayfarer. Eure Mission, D'Artigo-Schwestern, so ihr sie annehmen wollt: Spürt die magischen Geistsiegellauf und bringt sie in Sicherheit, ehe die Dämonen sie erreichen. Solltet ihr versagen oder ertappt werden, steht Erdwelt und Anderwelt ein grausiges Schicksal bevor ...«

Menolly schnaubte: »Nicht ganz so poetisch, wie der AND sein kann, aber zur Not geht es. Sieh es mal so, Kätzchen: Zumindest sitzen wir nicht hinter einem Schreibtisch. Das wäre nun wirklich die Hölle.«

Zach hielt Wort und traf fünfzehn Minuten später ein, als wir gerade die Route fertig geplant hatten. Ich öffnete die Tür, und da stand er, ordentlich und glänzend gepflegt.

Zach war groß. Er überragte sogar Smoky um zwei Fingerbreit. Mit eins zweiundneunzig war er gut zehn Zentimeter größer als ich. Sein blondes Haar fiel ihm locker bis auf den Kragen, und er hatte immer einen leichten Bartschatten.

Zach war schlank und muskulös, und alles an ihm war golden. Er sah auf kantige Weise gut aus, typisch amerikanisch. Bis auf die Tatsache, dass er als Werpuma zum Ältestenrat des Rainier-Puma-Rudels gehörte.

Ich lehnte mich unwillkürlich vor und sog seinen Duft nach Leder und staubigem Sonnenschein ein. Wir hatten einmal miteinander geschlafen, und obwohl ich mir geschworen hatte, dass das nie wieder vorkommen würde, betrachtete ich ihn jetzt doch aus einem gänzlich neuen Blickwinkel.

Er schien zu spüren, dass sich etwas verändert hatte, denn er beugte sich vor und küsste mich sacht auf die Stirn. Mir zitterten die Knie. Seine Lippen fanden die meinen. Mein Puls raste wie ein hochgedrehter Motor. Er schob die Hand in mein Haar und strich es mir zärtlich aus dem Gesicht.

»Was ist los?«, fragte er. »Ist es aus mit dir und Chase?«

Wir waren bereit zum Aufbruch. Wir hatten einen Job zu erledigen. Nicht der richtige Augenblick für ein langes, tiefschürfendes Gespräch.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Hilf uns erst mal, das vierte Siegel in Sicherheit zu bringen.

Wenn wir das geschafft haben und du nichts gegen ein spätes Abendessen hast, können wir uns danach unterhalten.« Ich wusste, dass ich Zachary gerade nicht nur zum Abendessen einlud, und er wusste es auch.

Das war meine Entscheidung. Chase hatte mich getadelt, weil ich genau das getan hatte, was er sich jetzt auch erlaubt hatte. Eine solche Doppelmoral ließ ich nicht gelten, und wenn er glaubte, ohne meine Zustimmung mit anderen herumspielen zu können, dann würde ich mich da ganz nach ihm richten.

Er strich mir über die Wange. »Was auch immer du willst.«

Als er sich aufrichtete, schlüpfte Camille an mir vorbei und lächelte strahlend, als sie ihn bemerkte. »Schön, dass du da bist, Zach. Und dass du uns begleiten willst. Wir können wirklich jede Hilfe gebrauchen.«

Wir stiegen klappernd die Stufen vor dem Haus hinab und sammelten uns an Morios SUV. Menolly schob Zach zur Fondtür. »Steig ein, Pumajunge. Erst kämpfen, dann reden. Du auch, Kätzchen.«

Mit einem letzten Blick zum Haus, wo Iris mit Maggie auf den Armen in der Tür stand, schob ich mich neben Zach auf den Rücksitz und erschauerte, als sein warmer, muskulöser Oberschenkel sich an meinen presste. O ja, das würde eine interessante Nacht werden.