Kapitel 11

 

Durch ein Portal zu gehen ist etwa so, als spaziere man in einer Ritterrüstung zwischen zwei gigantischen Magneten herum. Es fühlt sich an, als würde man binnen eines Augenblicks in winzige Teilchen zerlegt. Dann verschwinden die Magnete urplötzlich wieder, und ein Wirbelwind spuckt einen an einem Stück auf der anderen Seite wieder aus. Das Ganze ist nicht direkt schmerzhaft, aber schwindlig wird einem dabei schon.

Ich war lange nicht mehr zu Hause gewesen. Als Camille und Menolly vor ein paar Monaten nach Aladril gereist waren, war ich furchtbar neidisch auf sie gewesen. Jetzt war ich dran. Ein Jammer, dass unser Ziel Finstrinwyrd lautete, aber zumindest war die Gefahr mit Morio und Smoky im Rücken nicht ganz so groß wie sonst.

Allein vom Geruch der Luft bekam ich Heimweh. Ushabäume und nachtblühende Khazmirien und der Duft von -Reinheit. Kein saurer Regen, keine Luftverschmutzung bis auf ein wenig Holzrauch.

Als wir aus dem Portal hervorstolperten, musste ich unwillkürlich an Vater denken. Wo war er? Er galt als vermisst, wie Trillian. Mehr wussten wir nicht. War er in Sicherheit?

Verletzt? Gefangen genommen? Seine Seelenstatue war noch intakt, was bedeutete, dass er lebte, aber ansonsten hatten wir keine Ahnung, wo unser Vater stecken oder was er gerade tun mochte. Auch Tante Rythwar war verschwunden.

Der Bürgerkrieg, den Lethesanar in ihrem Drogenrausch angezettelt hatte, hatte unsere Familie auseinandergerissen. Wir konnten nur hoffen, dass Tanaquar, die Schwester der Königin, den Kampf um den Thron bald gewann und in Y'Elestrial wieder für Ordnung sorgte. Wenn man bedachte, was unsere Familie Lethesanars wegen durchgemacht hatte, hoffte ein finsterer kleiner Winkel meines Herzens, dass einer ihrer eigenen Folterknechte ihren Kopf auf einen Spieß an der Stadtmauer stecken würde. Ich versuchte, diesen hässlichen Wunsch zu verscheuchen, aber ich kam nicht dagegen an. Es gefiel mir nur nicht, wie sich dieser Gedanke anfühlte.

Sobald wir das Portal hinter uns gelassen hatten, fanden wir uns auf einem schmalen Streifen Grasland wieder, der zwischen den Ausläufern des Qeritan-Gebirges und dem Finstrinwyrd lag. Der Gebirgszug trennte das Schattenreich vom Reich der Elfen.

Wenn man das Wesen des Schattenreichs bedachte - und des Südlichen Ödlands jenseits -, konnten die Elfen von Glück sagen, dass die Bergkette eine natürliche Barriere bildete.

Während der Sommermonate wurden die Bergpässe dennoch streng bewacht. Der Winter bot mehr Sicherheit. Nur wenige Reisende schafften es über die hohen Berge.

Wer von Südwesten nach Elqaneve wollte, musste einen langen Umweg machen, und die weite Reise war den meisten Plünderern, die auf ein kleines Scharmützellaus waren, zu anstrengend.

Smoky blickte sich um und rümpfte sofort die Nase. »Ich rieche einen Lindwurm.

Elender Hochstapler.« Er runzelte die Stirn. »Er ist vor ein paar Stunden hier vorbeigekommen. Lindwürmer bewegen sich recht schnell vorwärts, also müsste er längst weg sein. Hoffe ich.«

»Wohl nicht scharf auf einen Wettkampf im Feuerspucken, was?« Ich blinzelte und lächelte unschuldsvoll, während er mir einen vernichtenden Blick zuwarf.

»Auf gar keinen Kampf, besten Dank.« Er trat hinter uns. »Ich gebe euch Rückendeckung. Morio, übernimm du die Führung, gemeinsam mit Iris, weil sie weiß, wonach wir suchen. Delilah und Camille, reiht euch in der Mitte ein.«

Morio gehorchte ohne Widerspruch. Offensichtlich hatte er Smoky als Alpha-Männchen akzeptiert. Ich fragte mich nur, wie sich Camilles Ehekonstruktion entwickeln würde, wenn -falls - wir Trillian wiederfanden.

Iris schob sich neben Morio. Sie nickte dem Yokai zu. »Ich bin bereit. Ich weiß, wie Pantherisphir aussieht, aber ich kann euch garantieren, dass wir kein einziges Pflänzchen finden werden, bis wir in die Nähe eines Bachs oder Teichs kommen. Das Kraut wächst in Wassernähe in tiefem Schatten, also müssen wir richtig in den Wald vordringen, um es zu finden.« Sie trug eine dicke Leggins und eine Tunika, die ihre Oberschenkel halb bedeckte. Zusätzlich hatte sie sich mit einer Lederweste, ledernen Knie- und Ellbogenschützern und einem irgendwo ausgegrabenen alten Fahrradhelm ausgestattet.

»Du siehst aus, als wolltest du Skateboard fahren lernen«, sagte ich und lächelte sie an.

Iris verdrehte die Augen. »Lach nicht. Es kann hier drüben ziemlich rauh zugehen, vor allem in dieser Gegend. Ich bin in einem Faustkampf keine ernstzunehmende Gegnerin, und obwohl ich nicht so zerbrechlich bin, wie ich aussehe, kann mich ein Feind leicht verletzen. Ich dachte, das Leder und der Helm würden mir einen gewissen Schutz bieten, falls wir Ärger bekommen. Camille, hast du das Einhorn-Horn mitgebracht?«

»Nein«, antwortete Camille kopfschüttelnd. »Ich wollte es nicht mit herüberbringen. Hier gibt es zu viele Magi, die mich ohne weiteres töten würden, um es in die Hände zu bekommen. Ich habe es für heute in Menollys Unterschlupf versteckt. Wir sollten es eigentlich nicht brauchen. Es gibt hier keine Dämonen, jedenfalls nicht von dem Kaliber, mit dem wir es Erdseits zu tun haben. Und mit Goblins und ähnlichem Geschmeiß wischen wir doch den Boden auf.«

Iris nickte. »Klug gedacht. Schön, dann gehen wir. Ich war bei meinen vielen Besuchen in der Anderwelt noch nie im Finstrinwyrd«, fügte sie hinzu.

»Du bist in der Erdwelt geboren und aufgewachsen«, sagte Morio. »Genau wie ich. Wann warst du zum ersten Mal hier zu Besuch? Ich hatte kaum von der Anderwelt gehört, bis Großmutter Kojote mich aus Japan zu sich beorderte.«

»Die Antwort darauf würde ich auch gern hören. Iris verbirgt hinter dieser hübschen Fassade eine Menge Geheimnisse, wie mir scheint«, setzte ich lächelnd hinzu.

Iris warf einen Blick zu mir zurück und schnaubte. »Allerdings, mein Mädchen. Vergiss nicht, dass ich viel älter bin als du - na ja, jedenfalls chronologisch. Wir Talonhaltija leben sehr, sehr lange, wie viele der reinblütigen Feen, und ich habe mich schon mehrmals ganz neu definiert. Oder vielmehr, mein Leben wurde mir neu vorgegeben.

Was die Anderwelt angeht«, fuhr sie mit gesenkter Stimme fort, »so habe ich von diesem Land erfahren, als ich noch sehr jung war. Mein... ein Freund aus meiner fernen Vergangenheit hat mich oft hierhergebracht, zu einem Picknick oder auf Besuch. Er wurde hier geboren. Wir sind uns in den Nordlanden begegnet.«

Sie verfiel in Schweigen, und ich kannte diesen Gesichtsausdruck. Wir würden über dieses Thema nicht mehr erfahren.

Als wir uns dem schattigen Waldrand näherten, breitete sich eine merkwürdige Stil e über den Streifen Wiese aus, der wie eine natürliche Begrenzung des Waldes wirkte. Ich konnte die Vögel in den Bäumen immer noch vor sich hin singen hören, doch sie klangen eigenartig gedämpft, als hätte jemand eine Stereoanlage leiser gestellt.

Die meisten Wälder in der Anderwelt waren freundlich und offen. Der Finstrinwyrd war da ganz anders. Edeltanne und Erle, Weide, Eibe, Hemlocktanne und Holunder - all diese Bäume besaßen ein Bewusstsein, und sie wachten argwöhnisch über den dunklen Wald.

Ihre Stämme waren hoch und kräftig, mit Knoten in der alten Borke, die wie Gesichter aussahen. Sie beobachteten uns, als wir ihren Wald betraten, und mir sträubten sich die Haare im Nacken. Ich drängte mich dicht an Camille, die schweigend nach meiner Hand griff.

Die Aste ragten über den schmalen Pfad und bildeten ein Gitter über uns, eine Decke aus Blättern und Zweigen. Sie verströmten einen leichten Gestank, und zwischen den Asten hingen haufenweise Spinnennetze.

Leshispinnen fühlten sich in diesem dunklen Wald sehr wohl, und hier und da erhaschte ich einen Blick auf eine der fetten, glänzenden Weberinnen. Sie waren so groß wie ein Silberdollar, glatt und schlüpfrig, mit Gliederbeinen und runden Bäuchen, und ihr Gift konnte einen ausgewachsenen Mann lähmen. Ich hatte Geschichten von einsamen Wanderern gehört, die den Wald betreten hatten und in quer über den Pfad gesponnene Netze gestolpert waren; später hatte man ihre Skelette in Kokons aus Spinnenseide gefunden. Die Wälder von Finstrinwyrd waren für einsame Reisende nicht sicher, außer sie verfügten über starke Magie oder besaßen zumindest starke Talismane, die sie schützten.

Zwischen den Bäumen verstreut wuchsen hier und da Brombeerranken und Skunkwurz, Yungbeerbüsche - die Beeren wurden gern in der magischen Trancearbeit verwendet -

und Eisha, deren Blüten man für Liebes- und Lusttränke erntete. Finstrinwyrd war eine Schatztruhe von Zauber-Zutaten und Kräutern für Heiler, Hexen und Zauberer, doch die Ernte konnte gefährlich sein. Die Leshispinnen waren schon schlimm genug, doch in diesem Wald wimmelte es obendrein von Giftschlangen und scharfzahnigen Wyrratten.

Und dann waren da noch die Goblins und Trolle und anderen, dunkleren Geschöpfe.

Vater hatte uns stets gewarnt, diesen Wald zu betreten, und das allein reichte, um mir eisige Schauer über den Rücken zu jagen. Ich umklammerte zitternd Camilles Hand und versuchte, meine Nerven zu beruhigen. Camille wirkte auf mich allzu ruhig und gesammelt.

Ich runzelte die Stirn. »Hast du denn keine Angst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Hier liegt Spannung in der Luft, ja, aber denk mal daran, was wir im vergangenen Jahr durchgemacht haben. Was könnte schlimmer sein, als gegen Dämonen zu kämpfen? Dredge gegenüberzutreten? Oder Kyoka? Goblins sind lästig, aber für uns leicht zu töten. Erst vor einem Monat haben wir zwei Dubba-Trolle ausgeschaltet. Ich habe fleißig Todesmagie geübt. Und sieh dich an: Du bist vom Herbstkönig gezeichnet worden. Du hast einem der Schnitter höchstselbst gegenübergestanden. Warum solltest du dich fürchten?« Sie lachte. »Ich hätte eher Angst davor, Lethesanars Truppen über den Weg zu laufen, als vor irgendeiner Gefahr, die uns hier erwarten könnte.«

Ich starrte sie an und dachte im Stil en, dass sie sich mit jedem Tag mehr wie Menolly anhörte. Aber sie hatte recht. Nach allem, was wir durchgemacht hatten, sollte ich mich von einem bloßen Wald nicht ins Bockshorn jagen lassen. Außerdem hatten wir Smoky dabei. Der Drache würde nie zulassen, dass Camille irgendetwas geschah, und jeden Feind einfach wegwischen. Eher würde er den ganzen Wald niederbrennen, als dass jemand Camille ein Haar krümmen konnte.

Ich schnaubte leise und sagte: »Du hast recht. Das ist wohl ein Überbleibsellaus unserer Kindheit. So viele Jahre lang wurden wir ermahnt, niemals hierherzukommen und uns niemals in den dunklen Wald zu wagen. Vater hätte sich wohl nie träumen lassen, wo wir heute stehen würden.« Ich verlor mich einen Moment lang in meinen Gedanken.

»Glaubst du, wir werden ihn finden? Werden wir ihn je wiedersehen?«

Camille wurde ernst. »Ich weiß es nicht, Kätzchen. Ich hoffe es, ich würde es zu gern glauben. Genauso, wie ich daran glauben muss, dass ich Trillian wiederfinden werde.

Wenn wir keine Hoffnung mehr hätten, was würde all das noch nützen? Wir müssen immer auf der Hut sein, aber auch an dem Glauben festhalten, dass wir irgendwann wieder mit unseren Lieben vereint sein werden. Denk daran - Cousin Shamas hat zu uns gefunden. Wir alle hielten ihn für tot, aber es geht ihm gut, und er kämpft auf unserer Seite. Wenn jemand den Anschlag einer Meuchlertriade vom Jakaris-Orden überleben kann, dann müssten es auch Vater und Trillian schaffen, sich den Weg zurück zu uns zu erkämpfen.«

Morio blickte über die Schulter zu uns zurück. »Trillian ist gerissener, als ihr glaubt. Er ist ein Überlebenskünstler. Ganz gleich, was mit ihm geschehen sein mag, ihr könnt darauf wetten, dass er sich aus jeder Notlage befreien und die Kontrolle über die Situation übernehmen wird. Denkt daran, er hat jahrelang in den Unterirdischen Reichen gelebt, bevor die gesamte Stadt Svartalfheim in die Anderwelt übersiedelt ist.«

Während wir durch den Wald marschierten, der sich gut dreihundert Kilometer weit bis zum Schattenreich und dem Südlichen Ödland erstreckte, verfiel ich in den Rhythmus des Finstrinwyrd. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich spüren, wie er um uns atmete.

Ich versenkte mich in seinen Pulsschlag und ließ Camilles Hand los. Sie hatte recht. Was gab es hier schon zu fürchten? Wir waren abgehärteter als bei unserem Umzug in die Erdwelt. Wir waren wesentlich gefährlicher, viel weniger vertrauensselig. Es war schwieriger, uns in eine Falle zu locken oder zu besiegen.

In gewisser Weise lebten wir Erdseits in unserer eigenen Schattenwelt. Der Großteil der Menschheit ahnte nicht einmal, in welcher Gefahr ihre Welt schwebte. Und wir standen an vorderster Front und hatten die Schlacht bisher abgewendet. Das Gefühl, unbekümmert durchs Leben zu gehen, hatten wir verloren, als Menolly verwandelt worden war. Dredge hatte unsere Hoffnungen auf ein normales Leben zerstört.

Und dann, nach der Versetzung in die Erdwelt, waren wir mitten in den Plan der Dämonen hineingeraten, und noch der letzte Rest mädchenhafter Cinderella-Träume hatte sich in Luft aufgelöst. Wir stellten hier die eigentliche Gefahr dar. Eine Gefahr für alle Geschöpfe, die uns aufhalten, sich einmischen oder uns schaden wollten. Ich straffte die Schultern und atmete langsam und tief durch.

»Ich rieche Wasser«, sagte Iris und deutete nach rechts. »Kannst du es hören?«, fragte sie mich. »Dein Gehör ist besser als meins.«

Ich lauschte, und Camille ebenfalls. Da, schwach, aber eindeutig - das Geräusch von Wasser, das an ein Ufer plätscherte. »Ja«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob es ein Bach oder ein Teich ist, aber ich höre es.«

»Ich rieche es auch«, sagte Camille. »Das ist kein Bach; es riecht nach Seewasser.«

Ich holte zu Iris auf und starrte die wahrhaftige Mauer aus Unterholz an, durch das wir uns würden schlagen müssen. »Kletten und Dornen. Zauberhaft. Sol en wir lieber weitergehen? Vielleicht finden wir ein Stück weiter vorn einen besseren Weg.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe das im Gefühl. Ganz egal, wie weit wir laufen, wir werden uns durch das Dickicht schlagen müssen, um ans Ziel zu gelangen.«

Morio stimmte ihr zu. »Es wird vermutlich nur schlimmer, je tiefer wir in den Wald vordringen. Und wir wollen doch nicht mehr hier sein, wenn es dunkel wird. Ich jedenfalls nicht.« Er warf einen nervösen Blick über die Schulter. »Ein Kampf bei Tag ist eine Sache, aber die Nacht lockt die Untoten hervor, und ich kann sie hier spüren. In diesem Wald wimmelt es von Geistern.«

»Na gut. Dann los«, sagte ich und wandte mich Iris zu. »Ich bin größer, lass mich vorangehen. Morio, bleib bei Camille. Ich mache uns den Weg frei.«

Ich schob mich ins Gestrüpp und schlug mit dem Silberdolch die Dornenranken beiseite.

Iris hielt sich recht gut - in der Lederweste und den Knieschonern konnten sich die Dornen nicht verfangen, aber einige der Ranken waren auf ihrer Augenhöhe, und ich wollte nicht, dass sie durch meine Schuld ein Auge verlor.

Ich blickte über die Schulter zurück. »Smoky, du bildest die Nachhut. Es wäre nicht gut, wenn sich jemand an uns heranschleicht, während wir in einem dichten Dornengestrüpp festhängen.«

Während ich durch die Brombeeren und hüfthohen Farne pflügte, fiel mir auf, dass mich die Wälder Erdseits zwar nervös machten, aber im Vergleich zum Finstrinwyrd immer noch einem Spaziergang in einem gepflegten Park glichen. Camille war es gelungen, meine Ängste vor dem wilden Wald zu besänftigen, aber ich war nicht so dumm, die Gefahren zu vernachlässigen, die uns hier erwarteten. Wir mochten einen Drachen bei uns haben, aber wenn ein Lindwurm kreischend vom Himmellauf uns herabstieß, würde es einen feurigen Kampf geben, bei dem es uns allen an den Kragen gehen konnte, Smoky eingeschlossen.

Ich schob den Dolch durch ein Gestrüpp aus Beerenbüschen, als ich von links das leise Echo eines Singsangs hörte. Irgendwo vor uns sang jemand. Oder... sprach einen Zauber. Ich hielt inne, bedeutete den anderen, leise zu sein, und winkte Camille zu mir heran. Als sie neben mich trat, wies ich mit einem Nicken in die Richtung, aus der ich den Gesang hörte, und flüsterte: »Was ist das? Erkennst du etwas?«

Sie schloss die Augen und lauschte. Ich spürte, wie sie in die Astralebene hinausgriff und versuchte, die fremde Magie zu berühren. Sie musste irgendwie damit in Kontakt gekommen sein, denn sie zuckte plötzlich zusammen und riss die Augen auf. Sie schlug sich die Hand vor den Mund und taumelte rückwärts in Morios Arme, der sie gerade noch auffangen konnte.

Sobald sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, flüsterte sie hektisch: »Wir müssen hier weg. Sofort. Keine Zeit für Fragen. Entweder kehren wir um oder gehen nach rechts weiter.«

Ich war unentschlossen, denn nun waren wir schon so weit gekommen. Schließlich wandte ich mich nach rechts und brach, so schnell ich konnte, durch das Unterholz. Was auch immer da sein mochte, es war übel, denn Camille ließ sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen.

Wir waren zehn Minuten lang geflohen, als sich die Energie plötzlich veränderte. Der ohnehin schon dämmrige Wald wurde noch dunkler, als ein großer Schatten die Sonne verdeckte. Ich riss den Kopf hoch und erwartete, einen Lindwurm über uns hinwegfliegen zu sehen, doch da war nichts. Nur ein Schatten. Eine Düsternis hing zwischen uns und dem Himmel, der durch die Zweige und Spinnennetze geschimmert hatte.

»Was ist das?«, fragte Iris mit leiser Stimme.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Camille. »Ich habe dahinten... etwas gespürt, das irgendwie mit den Leichenzungen zu tun hat. Es hat sich angefühlt wie eine Art Ritus.

Glaubt mir, was auch immer die für dunkle Rituale abhalten, ihr wollt ganz bestimmt nichts davon sehen.«

»Leichenzungen?« Ich schauderte.

Da kommt der tief verhüllte Graus.

Lippen an Lippen, Mund an Mund.

Saug ein den Geist, spei Worte aus.

Tu der Toten Geheimnisse kund.

Als Kinder hatten wir diesen Reim gesungen, um Schreckgespenster zu vertreiben. Aber wie so viele Kinderreime hatte auch diese Legende ihre Wurzeln in der Wirklichkeit.

Nur die Frauen dieser Rasse wurden tatsächlich Leichenzungen. Nur die Frauen bekam man je zu sehen. Es hieß, diese geheimnisvolle, missgestaltete Feenart lebe in einer unterirdischen Stadt, die aus Knochen und Asche erbaut sei. Leichenzungen konnten für die Toten sprechen und verlangten einen blutigen Preis für ihre Dienste - aber sie waren jeden Penny wert, jedes Herz, das sie den Opfern herausrissen, um ihre Vereinigung mit den Toten zu besiegeln. Sie waren stets in lange Roben gehüllt, und unter ihren dunklen Kapuzen waren nur ihre glitzernden Augen zu erkennen.

»Halte lieber reichlich Abstand zu ihnen«, sagte ich zu Camille.

Hexen und Leichenzungen durften es nicht wagen, einander zu berühren. Wenn ihre Kräfte aufeinanderprallten, konnten sie eine Explosion auslösen, die ausreichte, um einen ordentlichen Krater in den Boden zu sprengen. Und jeden, der zufällig in der Nähe war, mit Granatsplittern zu spicken.

Der Schatten wurde größer und hing plötzlich dichter über unseren Köpfen. Teufellauch.

Solange es nur keine Leichenzunge war. Wir hatten keine Ahnung, wie sie sich über weite Strecken fortbewegten. Womöglich konnten sie fliegen, beherrschten die Teleportation oder rannten schneller als Superman. Ich wusste nur, dass es nicht gut sein konnte, mitten in den Wäldern von Finstrinwyrd in eines ihrer privaten Rituale hineinzustolpern. '

Das Plätschern von Wasser wurde lauter, und ich erhaschte einen Blick auf eine Öffnung im dichten Wald. Wir waren schon beinahe durch dieses Dickicht hindurch. Mit einem Blick auf die sonderbare Erscheinung, die uns da oben verfolgte, gab ich Gas. Ich konnte hören, wie Iris sich abmühte mitzuhalten. Sie war schnell, aber mir war sie nicht gewachsen.

Mit einem plötzlichen Grunzen rief Iris: »Was zum... «

Ich fuhr herum, den Dolch in der Hand und auf einen Angriff vorbereitet, als Smoky an mir vorbeilief. Iris hing mit verblüffter Miene über seiner Schulter. Camille stieß mich vorwärts.

»Schnell, raus aus dem Wald. Was auch immer da über uns fliegt, will uns nichts Gutes, das spüre ich von hier aus. Wir müssen uns - ach du Scheiße!« Sie machte einen Satz zurück, als der Schatten herabstieß und direkt vor ihr landete.

Was auch immer das sein mochte, es war transparent, ließ aber genug kleine Wellen in der Luft schimmern, so dass wir erkennen konnten, wo es war. Ich konnte den schwachen Umriss von Flügeln und einem Schwanz erkennen, ehe es Camille angriff. Sie sprang zurück und landete mitten in einem Dornengestrüpp.

Morio warf seine Tasche auf den Boden und begann sich zu verwandeln. Gleich darauf überragte er uns alle, sogar Smoky. Der Yokai, jetzt zwei Meter vierzig groß, nahm blitzschnell seine natürliche Gestalt an.

Camille richtete sich auf und begann, die Mondmutter anzurufen. Die Verbindung zu ihr war für meine Schwester hier stärker als Erdseits.

Ein Energiestoß schoss aus ihren Händen auf den Eindringling zu und traf ihn mitten in das, was vermutlich seinen Oberkörper darstellte. Es war schwer einzuschätzen, ob das Geschöpf auf zwei oder vier Beinen stand, aber der Blitz prallte einfach von ihm ab, fuhr in ein Häuflein trockenes Holz und wurde zu lodernden Flammen.

»Scheiße! Feuer!« Ich stürzte darauf zu, hielt aber inne, als unser Gegner schimmernd sichtbar wurde. Der Energieblitz musste seine Unsichtbarkeit zerstört haben, denn plötzlich sahen wir unserem Feind ins Angesicht - und was für einem Feind. Er sah aus wie eine Art seltsame Kreuzung, ein Zentaur mit gewaltigen Flügeln. Seine Eltern mussten äußerst tolerant gewesen sein, wenn sie eine so stark gemischte Beziehung geführt hatten, dachte ich und rückte mit erhobenem Dolch vor.

Morio griff ihn von vorn an, während ich mich seiner linken Flanke näherte. Der Yokai packte ihn und rang mit den muskelbepackten Armen des geflügelten Zentauren, und ich schlitzte mit dem Dolch das seidig braune Fell an seinem Hinterteil auf. Ein langer Schnitt tat sich unter meiner Klinge auf, und er brüllte. Ich wollte eben wieder zustoßen, als er den linken Hinterfuß hob, ausholte und mich in den Unterleib traf, so dass ich zurückgeschleudert wurde. Ich flog durch die Luft und landete am Fuß einer Eibe.

»Delilah! Alles in Ordnung?« Camille wirbelte herum.

Ich konnte ihr nicht antworten - der Tritt hatte mir die Luft genommen. Als sie auf mich zueilte, kam Smoky angerast wie ein blitzschneller Streifen aus Weiß und Silber. Erv fuhr mit den Klauen an der rechten Seite der Bestie entlang und hinterließ fünf lange, blutende Risse. Iris folgte dicht hinter ihm. Sie sagte irgendeinen Spruch auf, holte ein Kästchen hervor und öffnete es. Sie schluckte den Inhalt, den ich nicht sehen konnte, und pustete dann in Richtung des Kampfes.

Ein Sturm eisiger Hagelkörner prasselte auf die drei Männer ein: Smoky, Morio und unseren Gegner.

Morio wich zurück. Smoky ignorierte die Hagelklumpen, als seien es nur Staubkörnchen, doch der Zentaur stöhnte laut auf und erstarrte. Eine dünne Eisschicht bedeckte seinen Körper.

Smoky sah sich nach uns um. Camille half mir auf, und meine Lunge schien wieder zu funktionieren. Mein Bauch fühlte sich allerdings an wie von einem Vorschlaghammer geküsst.

»Wir haben nicht viel Zeit. Töten oder gefangen nehmen?«

Ich überlegte so schnell, wie meine schmerzenden Eingeweide es zuließen. Was würde Menolly tun? Wir könnten dem Zentaur Informationen entlocken, ja, aber er hatte als Erster angegriffen, ohne vorher zu fragen, wer wir waren und was wir hier zu suchen hatten. Ich schluckte das Schuldgefühl hinunter, das in meiner Kehle aufstieg.

»Wir sollten ihn erledigen. Er wird ohnehin nicht mit uns reden. Er wollte uns töten, und er wird sich nicht auf Verhandlungen einlassen. Und selbst wenn - wie könnten wir sicher sein, dass er uns nicht wieder angreift, diesmal mit ein paar Kumpels als Verstärkung?«

Smoky nickte. Ich sah ihm an, dass er damit einverstanden war. Dasselbe galt für Camille, Morio... und Iris. Ich wandte mich ab und fühlte mich plötzlich viel älter und zu hart in meiner eigenen Haut. Soldat zu sein bedeutete genau das hier. Erst schießen, dann Fragen stellen. Keine Gefangenen machen. Das einzige Mal, als wir das versucht hatten - mit Wisteria, einer Floreade, die zur Familie der Dryaden gehörte -, war es entsetzlich schiefgegangen. Sie war entkommen und hatte Dredge zu uns geführt. Und das war mehr als übel gewesen.

Ich schluckte meine Angst hinunter und drehte mich um. »Wartet. Ich sollte es tun.«

Sie sahen mich an, und ich erkannte die Besorgnis, die sich auf Camilles Gesicht ausbreitete. »Bist du sicher, Delilah?«, fragte sie.

Ich biss mir auf die Lippe und war froh, dass sie nicht »Kätzchen« zu mir gesagt hatte.

»Ich habe schon öfter getötet. Es ist nicht so, als hätte noch nie Blut an meinen Händen geklebt. Ich muss diese Zimperlichkeit überwinden. Ich muss mich damit abfinden, dass wir nie wieder so sein werden wie früher, als das Leben sanft und friedlich war, als Mutter noch lebte und uns mit all unseren Problemen auffangen konnte. Du hast es versucht, Camille. Bei allen Göttern, du hast dir die größte Mühe gegeben, aber du kannst dich nicht zwischen uns und das Grauen stellen, dem wir jetzt gegenübertreten müssen. Du bist nur eine einzelne Frau... und die Gefahren sind so gewaltig... «

Sie umfing mein Gesicht mit beiden Händen. »Kätzchen, wir sind dem Leben nie ohne Schmerz begegnet, nicht einmal, als Mutter noch am Leben war. Wir wurden ständig verprügelt und gehänselt. Sanft und friedlich haben wir doch nie gekannt. Und seien wir mal ehrlich, Sanftheit liegt nicht in unserer Natur, und sie ist auch nicht unser Schicksal.

Wir müssen schöne Augenblicke nehmen, wie sie kommen, sie wertschätzen, genießen und in Erinnerung behalten, weil sie flüchtig und vergänglich sind.« Sie winkte Smoky zu sich heran.

Morio hatte wieder seine menschliche Gestalt angenommen und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln.

Ich trat vor die geflügelte Bestie und sah ihr in die Augen. Der Zentaur war immer noch starr gefroren, von Iris' Zauber gelähmt. Ich suchte nach irgendetwas, das mich davon hätte überzeugen können, dass ich das nicht tun musste, dass er einen bedauerlichen Fehler gemacht hatte. Doch dann sah ich das Glitzern: das verräterische Glitzern, das aus den Augen der Goblins und Dämonen und anderen finsteren Kreaturen leuchtete, gegen die wir kämpften. Seine Zähne waren scharf und spitz wie eine Reihe Nadeln, und da begriff ich.

Er war tatsächlich auf der Jagd gewesen - nach seinem Abendessen. Er war ein intelligentes Geschöpf, und in diesem Dschungel - diesem uralten Wald - hieß es fressen oder gefressen werden. Ich setzte den Dolch an seine Kehle und schlitzte seine Haut auf.

Dabei hätte ich am liebsten geschrien und laut gebrüllt: »Das bin nicht ich!«, doch ich wusste jetzt, dass das nicht stimmte. Das war ich.

Delilah mit dem Silberdolch. Delilah mit den Katzenkrallen. Delilah, die Todesmaid.

Delilah, die Nächtliche Jägerin, die im Mondlicht umherstreifte. Ich war meiner Raubtiernatur immer ausgewichen, doch wenn ich eine Katze war, kam sie zum Vorschein. Und in meiner Panthergestalt erwachte sie brüllend zum Leben. So ungern ich auch daran dachte, ich liebte die Jagd. Ich liebte das Hetzen und Fangen.

Als der geflügelte Zentaur zusammenbrach, wandte ich mich ab und wischte die Klinge an meiner Jeans ab. Ich warf den anderen einen Blick zu und konnte weder lächeln noch weinen.

»Gehen wir. Es hört sich so an, als müsste der See ganz in der Nähe sein, gleich hinter dem Dickicht da. Passt auf. Diese Wälder sind tückisch und tödlich.«

Als wir uns wieder aufmachten, hallte ein geflüsterter Refrain immer wieder durch meinen Kopf: »Das bist du auch, Delilah D'Artigo... Das bist du auch... «