Kapitel 14

 

Wir waren schon einmal in Richtung Snoqualmie rausgefahren, zu einer Schlacht gegen einen Haufen potthässlicher Werspinnen und einen uralten Schamanen mit drei ö in »böse«. Ich betete darum, dass wir es diesmal nicht mit derart gruseligen Gegnern zu tun bekommen würden. Immerhin konnten Geister und Gespenster kaum so beängstigend sein wie Werspinnen, oder?

Dann fiel mir der Wiedergänger ein und was der so draufgehabt hatte. Ich sank auf dem Sitz zusammen und fragte mich, ob der Hauch einer Chance bestehen könnte, dass wir diesmal Glück haben und ohne einen Kampf davonkommen würden.

Zumindest war diese Nacht nicht so kalt wie damals im Dezember. Und wir wussten, dass wir einem Geistsiegellauf der Spur waren. Diese Gewissheit allein munterte mich auf.

Wenn wir die restlichen Siegel vor den Dämonen fanden, konnten wir Schattenschwinges Pläne vielleicht ganz vereiteln. Nachdem ich erleichtert festgestellt hatte, dass mich mein Optimismus noch nicht völlig verlassen hatte, lehnte ich mich zurück, schloss die Augen und genoss das Gefühl, wie das Auto schnurrend Kilometer fraß.

Fünfundvierzig Kilometer außerhalb von Seattle lag Snoqualmie eingebettet in die Ausläufer der Kaskadenkette, hoch aufragende Berge aus Feuer und Asche. Zu den Kaskaden gehörte auch der Mount Rainier, ein majestätischer Vulkan, der nur darauf wartete, eines Tages wieder auszubrechen. Seine Schwester, Mount St. Helens, hatte ihre Spitze im Jahr 1980 verloren, bei einer gewaltigen Explosion, die fast sechzig Menschen getötet hatte. In der unmittelbaren Umgebung des Rainier - sollte es denn zu einem großen Ausbruch kommen - lebten viel mehr Menschen. Das Land im Pazifischen Nordwesten war lebendig, anders konnte man es nicht ausdrücken. Es lebte und brodelte unter den Schichten aus Fels, Erde und Wald.

Snoqualmie verdankte seine Berühmtheit nicht dem Bergpass mit dem gleichen Namen und auch nicht seinem Skigebiet, sondern der Tatsache, dass Twin Peaks hier gedreht worden war. Das war eine seltsame Serie - ich hatte mir ein paar Folgen als Wiederholung angesehen und fand sie furchtbar unheimlich. Wenn man bedachte, womit wir es beinahe täglich zu tun bekamen, konnte ich mir kaum erklären, was mir an dieser Serie so unheimlich war, aber es war ein angenehmer Grusel, im Gegensatz zu der Sorte, in die wir im wirklichen Leben ständig hineinstolperten.

Wir mussten die sogenannte Eastside durchqueren, um nach Snoqualmie zu kommen.

Das war ein Konglomerat von Städten - Redmond, Bellevue, Woodinville, Kirkland, Issaquah -, von denen jede ihren eigenen, einzigartigen Charme hatte.

Die Eastside war das Herz der Hightech-Branche im Nordwesten. Die Gegend wurde von Software-Firmen beherrscht, allen voran Microsoft. Und sie entwickelte sich rasant weiter. Die Wolkenkratzer von Bellevue würden den hohen Türmen von Seattle bald Konkurrenz machen. Während wir durch die glitzernden Welten aus Lichtern und Beton rollten, hielt ich den Atem an und dachte wieder einmal, wie völlig anders als zu Hause es hier war.

Und doch wieder nicht... die Anderwelt besaß ihren eigenen Glanz, hoch aufragende Paläste und marmorne Fassaden, wie man sie Erdseits nur selten sah. Und die magischen Lichter der Blickfänger glitzerten ebenso strahlend, wenn auch nicht ganz so neongrell wie die Lichter in den Gebäuden aus Glas und Stahl. Wenn man noch das Summen elektrischer Leitungen und Handymasten gegen das Surren magischer Energie vertauschte, waren sich die beiden Welten doch gar nicht so unähnlich.

Wir rasten die Interstate 90 entlang und nahmen die Ausfahrt 25. Die Bäume zu beiden Seiten der Straße wuchsen immer höher und dichter. Tannen ragten groß und finster über der Landschaft auf, und dichtes Unterholz voll üppiger Farne, Heidelbeeren, Winterbeeren und Wildgräser erschien am Straßenrand. Die Cascade Mountain Range und ihre Ausläufer erstreckten sich durch ganz Washington bis nach Oregon hinein. Das war eine wilde Gegend. Berglöwen, Bären und Kojoten streiften in den Hügeln umher und wagten sich hin und wieder bis an den Stadtrand vor, und das Land fühlte sich rauh und hart an. Wenn man seinen Herausforderungen nicht gewachsen war, gab es vielerlei Möglichkeiten, in den Bergen zu Tode zu kommen, und an keine davon wollte ich gerade denken.

Der Motor brummte vor sich hin, und ich holte tief Luft und ließ sie mit einem langgezogenen Seufzen entweichen. Wie oft waren wir in den vergangenen sechs Monaten losgerast, um irgendein Problem zu regeln? Wie viele Nächte hatten wir damit zugebracht, irgendwelche Köpfe einzuschlagen und unsererseits vermöbelt zu werden?

Der Ärger mit den immer neuen, wilden Portalen ließ nicht nach. Kryptos und Feen tauchten überall auf, vor allem im Nordwesten. Die Portale zu bewachen erwies sich als sehr schwierig, weil der AND in die Armee unserer Königin eingegliedert worden war und wir vorerst inoffiziell arbeiteten.

Für eines mussten wir allerdings dankbar sein - die neuen Portale führten höchst selten in die Unterirdischen Reiche. In die Welt der Schatten, ja, aber kaum je in die U-Reiche. Ein Segen, den wir nicht vergessen durften.

Ich beugte mich vor und spähte über Roz' Schulter. Er saß neben Morio auf dem Beifahrersitz, und da er die Karte hatte, war das wohl auch der beste Platz für ihn. »Bist du sicher, dass Karvanak noch keinen Wind von dem Siegel bekommen hat?«

Er zuckte mit den Schultern. »Soweit wir das feststellen konnten. Natürlich gibt es keine Garantie dafür, aber ich glaube nicht, dass er diesen armen Kerl foltern würde, wenn er die Information schon hätte. Dann würde er ihn einfach verschlingen. Räksasa tun so etwas, weißt du? Sie fressen Menschen und auch andere Spezies.«

Schaudernd ließ ich mich zurücksinken. »Ja, ich weiß, aber danke für die deutliche Erinnerung. Genau das, was ich gebraucht habe.«

Smoky, der rechts von mir saß, schnaubte. »Ich fresse auch Menschen.«

»Aber nicht so«, erwiderte ich. »Du gehst nicht einfach los und verschlingst unschuldige Passanten, und das wissen wir auch. Manche Drachen tun das vielleicht, aber uns brauchst du nicht vorzuspielen, dass du so einer wärst.«

Er kniff die Augen zusammen. »Du hast ein ziemlich freches Mundwerk, Mädchen«, sagte er, und seinem Tonfall nach war das kein Kompliment.

Allerdings fiel mir auf, dass er mir nicht widersprochen hatte.

Ich warf einen Blick über die Schulter zu Camille, die ganz hinten saß, zusammen mit Menolly und Vanzir. »Hast du das Einhorn-Horn mitgenommen?«

Sie nickte. »Wir haben keine Ahnung, was uns erwartet. Ich dachte, ich nehme es lieber mit, vor allem, weil meine Hand noch nicht in Ordnung ist. Es wird höllisch weh tun, Energie da durchzuleiten.«

Vanzir schnaufte ungeduldig. »Wir holen das Siegel, und ihr bringt es dahin, wo ihr es eben hinbringen wollt. Und dann?«

»Dann fangen wir an, nach dem fünften zu suchen, denke ich.« Ich zuckte mit den Schultern. »Das scheint mir im Moment unsere Hauptaufgabe zu sein, meint ihr nicht?«

Camille schüttelte den Kopf. »Ich erinnere dich nur ungern daran, aber die Dämonen sind nicht unsere einzigen Rivalen, was die Suche nach den Siegeln angeht. Ich würde darauf wetten, dass Aeval, Morgana und Titania auch danach suchen. Und falls sie eines finden sollten, werden sie es ziemlich sicher nicht bei Königin Asteria abliefern. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass Morgana sie Aeval geben will .«

Morgana. Titania. Aeval. Drei strahlende und schreckliche Königinnen. Wir hatten erst vor kurzem erfahren, dass Morgana eine entfernte Verwandte von uns war, doch sie schien nicht viel von Blutsbanden zu halten, sofern sie nicht ihren eigenen Zielen dienten.

»Hör doch auf«, sagte Menolly. »Die haben dich nach Strich und Faden ausgenutzt. Ich gebe zu, dass Großmutter Kojote die Hand im Spiel hatte. Aber ich glaube immer noch, dass die drei sie irgendwie dazu gebracht haben, dir einzureden, es sei dein Schicksal, ihnen zu helfen.«

Ich schluckte. Ich hatte auch schon daran gedacht, aber ich hätte es nie gewagt, das Camille ins Gesicht zu sagen. Ganz gleich, was wirklich geschehen war, am Ergebnis konnten wir nichts mehr ändern. Außerdem war mir schon der Gedanke gekommen, Camille hatte vielleicht so verzweifelt glauben wollen, wir hätten mächtige Verbündete, dass sie sich blenden ließ.

Wie dem auch sei, mit Camilles Hilfe hatten die drei hochadeligen Erdwelt-Feen das gestürzte Reich wiedererstehen lassen, das einst nur aus dem Lichten und dem Dunklen Hof bestanden hatte. Jetzt herrschten Morgana, Titania und Aeval über die Höfe der Drei Königinnen. Und sie hatten gewiss nicht vor, bloß herumzusitzen und hübsch auszusehen.

»Ist euch schon aufgefallen, wie viele Erdwelt-Feen in letzter Zeit hier in die Gegend gekommen sind? Der ÜW-Gemeinderat ist schon darauf aufmerksam geworden, und es gibt Gerüchte über wachsende Spannungen zwischen den Feen der Erdwelt und der Anderwelt. Die VBM finden das alles neu und aufregend, aber sie übersehen die potenzielle Gefahr dieser Situation. Wir haben schon genug zu tun, auch ohne einen weiteren Bürgerkrieg unter Feen, diesmal zwischen denen der beiden Welten.« Ich schüttelte den Kopf.

»Na wunderbar.« Menolly klang alles andere als begeistert. Sie schnippte Camille mit Daumen und Zeigefinger an den Kopf. »Ich glaube ja immer noch, dass es total verrückt von dir war, den dreien zu helfen.«

»Das hast du bereits mehr als deutlich gemacht«, sagte Camille leise. »Ich habe mir dafür schon von allen möglichen Leuten eine Menge anhören müssen, also könnte sich meine Familie vielleicht, nur vielleicht, ein bisschen zurückhalten?« Sie kniff die Augen zusammen. »Glaubt ihr wirklich, dass ich aus einem verrückten Impuls heraus so gehandelt habe? Dass ich nicht wusste, was ich tat? Das wusste ich ganz genau. Ich weiß auch, dass es schon ein Wunder wäre, wenn sie mir erlauben sollten, hier zu bleiben, falls der AND je wieder aufgebaut und das Kopfgeld auf uns aufgehoben würde. Ich bin so gut wie weg vom Fenster, ganz egal, wer den Krieg in Y'Elestrial gewinnt. Lethesanar... Tanaquar... das spielt keine Rolle. Für jede Regierung, die an der Spaltung der Welten beteiligt war, bin ich Geschichte. Und falls ihr glaubt, das hätte ich nicht bedacht, bevor ich Morgana und Titania geholfen habe, Aeval aus dem Kristall zu befreien, dann seid ihr wohl diejenigen, die man als blind bezeichnen muss.

Wenn die Ewigen Alten mir sagen, dass ich etwas tun soll, dann tue ich es. Dabei geht es um viel mehr als uns. Um mehr als die Anderwelt.«

Smoky stieß etwas aus, das wie ein empörtes Schnauben klang. Er funkelte mich an, und ich hatte das Gefühl, dass er auch auf Menolly sauer war. Er schwieg, doch ich spürte, wie er sich neben mir anspannte.

Mein inneres Gleichgewicht begann zu verschwimmen, und ich atmete tief durch, um mich nicht zu verwandeln. Auseinandersetzungen in der Familie stressten mich am allermeisten, und wenn wir uns stritten, hatte ich oft Mühe, mich zu beherrschen.

»Die Portale«, flüsterte ich. »Du hast das getan, weil die Grenzen zusammenbrechen.«

Camille sah mich überrascht an. »Zehn Punkte fürs Kätzchen. Der Stoff, der die drei Reiche voneinander trennt, ist nicht dafür geschaffen, so straff gespannt zu werden. Die Spaltung war ein gewaltiger Fehler, und die Feen der Anderwelt, die daran beteiligt waren, werden ihren Irrtum früher oder später zugeben müssen. Und ich glaube nicht, dass uns bis später noch viel Zeit bleibt.«

»Glaubst du, dass viele von ihnen noch da sind? Außer Königin Asteria und den Feenköniginnen?«

»Ich bin ziemlich sicher, dass noch ein paar dieser Vorfahren am Leben sind. Aber das spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass das System zusammenbricht, und wir haben keine Ahnung, welchen Einfluss dieses Chaos auf unser Problem mit den Dämonen haben wird. Da der Stoff, der die Reiche trennt, zu reißen beginnt, könnte Schattenschwinge es leichter haben, die Portale zu durchbrechen. Wir stehen in dieser Sache nicht allein da; die Erdwelt-Feen können uns helfen, aber wir müssen ihnen einen guten Grund dafür geben.

Dass sie sich neben den Feen der Anderwelt nicht zweitklassig vorkommen wollen, wäre doch ein Anfang.«

Plötzlich kam ich mir sehr dumm vor. Ich hatte ihre Handlungsweise beurteilt, als hätte sie das große Ganze vergessen. Ein Teil von mir - und das gestand ich mir nur im tiefsten Herzen ein - hatte sich sogar insgeheim gefragt, ob sie sich einfach bei den Feenköniginnen gut stellen wollte. Jetzt starrte ich auf meine Hände hinab und wusste nicht, was ich sagen sollte.

Menolly räusperte sich. »Mensch, Schwesterchen, du hättest uns das doch alles schon sagen können, als es passiert ist. Ich dachte schon... ach, das ist jetzt auch egal. Du hast das Herz am rechten Fleck, aber bei deinem Kopf bin ich immer noch nicht ganz sicher. Es zählt am Ende nur, dass wir unsere Verbündeten um uns sammeln und alles versuchen, um die Geistsiegel in Sicherheit zu bringen, ehe jemand anders darankommt. Aber selbst wenn wir das schaffen, ist mir schleierhaft, was Königin Asteria mit den ganzen Siegeln anfangen will . Wenn sie alle an einem Ort versammelt sind, könnte das gewaltigen Ärger geben, falls die Stadt der Elfen je von einem mächtigeren Feind belagert würde.«

»Prima«, brummte ich. »Hast du noch mehr Ideen, worum wir uns außerdem sorgen sollten? Nehmen wir uns doch lieber immer eine Sache auf einmal vor. Wir holen uns das vierte Siegel, bringen es zu Königin Asteria, und dann sprechen wir sie auf deine Sorge an. Okay?« Mir schwirrte schon der Kopf vor lauter Bedenken. Ich wollte mir nur noch ein schönes warmes Eckchen suchen, mich zusammenrollen und ein paar Dutzend Stunden schlafen.

Morio, der bisher geschwiegen hatte, sagte jetzt: »Delilah hat recht. Beruhigt euch alle wieder. Großmutter Kojote weiß immer, was sie tut, also lasst es gut sein und hört auf, Camille zu piesacken. Wir haben die Ausfahrt fast erreicht. Danach sind es noch fünfzehn, zwanzig Kilometer, dann geht es schon den Hügel zur Höhle hinauf. Ich schlage vor, ihr nutzt die Zeit, um euch auszuruhen. Macht einfach die Augen zu und döst ein bisschen oder so.« Er klang verärgert - zum ersten Mal hörte ich tatsächlich so etwas wie Gereiztheit in seiner Stimme.

Der Fuchsdämon ließ sich normalerweise von nichts aus der Ruhe bringen, doch offenbar hatten wir es geschafft, ihm gehörig auf die Zehen zu treten. Ich warf Smoky einen Blick zu, der Morios Worte mit grimmig befriedigter Miene zur Kenntnis nahm, und beschloss, dass die beste Verteidigung wohl ein rasches Nickerchen wäre. Ich lehnte den Kopf an Zachs Schulter - er hatte unserer Auseinandersetzung schweigend gelauscht schloss die Augen und ließ mich vom Surren der Räder einlullen.

Etwa zwanzig Minuten später wurde ich grob aus meinem Schlummer geweckt und stellte fest, dass wir einen steilen Weg hinauffuhren, der furchtbar holprig war. Vermutlich ungeteert und grob geschottert.

Ich drehte mich auf dem Sitz um. Camille und Menolly waren stil und wirkten beide in Gedanken versunken. Ich streckte den Arm über die Lehne und legte Camille sacht eine Hand auf die Schulter.

»Es tut mir leid«, sagte ich leise. »Ich wollte damit nicht andeuten, du hättest nicht gewusst, was du tust. Ich gebe zu, dass ich dir andere Gründe dafür unterstellt habe, aber ich habe mich geirrt. Ich werde nie wieder an deinen Entscheidungen zweifeln. Du hast unsere Familie so lange zusammengehalten, und ich vertraue dir.«

Ihre Augen schimmerten. »Danke, Kätzchen. Das weiß ich zu schätzen.«

Menolly verdrehte die Augen gen Himmel, nickte aber. »Da schließe ich mich an. Wir sind ein Team, und wir müssen zusammenhalten. Überlassen wir das interne Gerangel lieber den Politikern.«

Aus dem Munde unserer Schwester, der Vampirin, war das so gut wie eine tränenreiche Entschuldigung, und das wusste Camille. Sie schniefte und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Mann, bin ich müde. Ich will es nur hinter mich bringen, nach Hause gehen und schlafen. Heute ist so viel passiert, worüber ich erst mal nachdenken muss.«

»Ja, vor allem, dass Trillian nur wieder undercover als Spion unterwegs ist und nicht in Lebensgefahr. Ziemlich schäbig von ihm, dir das nicht zu sagen«, entgegnete Menolly.

Dann warf sie mir einen Blick zu. Sie war zu weit gegangen, und das wusste sie selbst.

Menolly war eine großartige Kämpferin, aber Takt und Diplomatie gehörten nun wahrlich nicht zu ihren Stärken.

Camille starrte sie an, schüttelte dann aber nur den Kopf. »Halt dich da raus. Um Trillian kümmere ich mich später.« Kein Wort mehr, sagte ihre Stimme klar und deutlich.

Ich wandte mich wieder nach vorn. Was zum Teufel war hier los? Wir waren noch nie so aufeinander losgegangen. Eigentlich stritten wir uns ja gar nicht richtig, versuchte ich mir einzureden. Wir waren nur müde und gestresst und hatten einen weiteren nächtlichen Kampf gegen irgendwelche untoten Feinde vor uns.

»Vielleicht haben wir Glück, und da wartet nur ein Haufen netter Caspers auf uns«, bemerkte ich, um die Stimmung aufzulockern.

Menolly lachte. »Die ewige Optimistin, was?«

Camille fiel ein: »Ja, vielleicht. Es wäre zu schön, wenn ihr Optimismus sich einmal bewahrheiten würde. Wenn wir alle uns das ganz fest wünschen...«

»Brauchen wir nur noch ein Paar rote Schuhe!«, fügte Menolly hinzu.

»Ach, hört schon auf, ihr beiden!« Aber ich war ihnen nicht böse. Zumindest hatte ich sie zum Lachen gebracht, und das war ja schon mal ein gutes Zeichen. »Als Nächstes bittet ihr mich wohl, ganz fest in die Hände zu klatschen, damit Tinkerbell nicht stirbt.«

»Ach, Tinkerbell hat's leicht, die faule Nuss«, schnaubte Camille. »Sie hat ja weiter nichts zu tun, als im Fernsehen herumzuflattern und niedlich auszusehen. Wir müssen uns hier mit der echten Welt herumschlagen.«

»Da wir gerade von der echten Welt sprechen, Ladys -macht euch bereit. Wir gehen jetzt ein bisschen wandern. Ich hoffe, ihr seid alle warm genug angezogen«, sagte Roz. Dann ließ er Morio auf einen Feldweg einbiegen und anhalten.

Als wir uns aus dem Auto in die kühle Abendluft schoben, fiel mir ganz in der Nähe eine Feuerstelle auf. Sie war sehr einfach, nur ein kreisrundes Loch im Boden, mit Steinbrocken eingefasst. Erst kürzlich hatte Feuer darin gebrannt, doch dem Geruch der Kohlen nach hatte es seither geregnet, also musste das schon ein paar Tage her sein.

Ich kniete mich neben den Kreis aus Steinen und untersuchte den Müll daneben. Ein paar Bierdosen, eine Whopper-Verpackung, ein paar Zigarettenkippen. »Ich glaube nicht, dass irgendwelche Dämonen oder Geister dieses Zeug hier liegengelassen haben.«

Roz schüttelte den Kopf. »Ich wette zehn zu eins, dass die Goldsucher hier ihr Lager hatten. Diese Straße benutzt kaum jemand. Der Mann, mit dem wir gesprochen haben, hat uns erzählt, dass sie früher von der Holzfällerei genutzt wurde, aber vor zehn Jahren haben sie eine bessere Straße für den Abtransport gebaut. Jetzt wird diese hier fast nur noch von Jägern und Wanderern befahren, denen ein holpriger Ausflug in die Wildnis nichts ausmacht.«

Holpriger Ausflug? Reizend ausgedrückt. Ich stand auf und wischte mir die Hände an der Jeans ab. »Und jetzt? Wo geht's lang?«

Vanzir zeigte auf einen Pfad, der im hüfthohen Gras kaum zu erkennen war. Wir machten uns bereit, reihten uns hinter dem Incubus und dem Traumjäger ein und schoben uns durchs Unterholz.

Der Pfad führte sofort bergab, und erst fragte ich mich, ob wir wirklich den richtigen Weg eingeschlagen hatten. Lagen die meisten Höhlen denn nicht irgendwo oben an einer Felswand statt tief unten in einer Schlucht? Doch dann verbreiterte sich der Trampelpfad zu einem Wanderweg, der an einer tiefen Klamm entlangführte. Fünfzehn, zwanzig Meter unter uns floss ein Bach. Die Kante war schroff, kein Abhang würde den Fall dämpfen, sollte einer von uns stürzen. Obwohl der Weg breit genug für zwei Leute nebeneinander war, reihten wir uns automatisch im Gänsemarsch auf.

Ich blickte über die Klamm hinweg. Das Steilufer auf der anderen Seite war mit geschlagenem Holz bedeckt. Von hier aus konnte ich sehen, dass der Pfad zu einer schmalen Brücke über den Bach führte. Die Balken der Stützkonstruktion waren alt und verwittert. Ich schätzte sie auf mindestens hundert Jahre, wenn nicht älter. Zweifellos wurde sie von den Goldsuchern und Jägern genutzt, die in den Bergen herumwanderten.

Die Holzfäller mussten eine andere Brücke haben. Von hier aus konnte ich jedenfalls keine befahrbare Straße erkennen.

Zach direkt hinter mir schnappte plötzlich nach Luft und blieb stehen. Er deutete auf einen Felsvorsprung auf der anderen Seite der Klamm. Ich folgte seinem Blick und entdeckte einen prächtigen Puma. Ein Weibchen, erkannte ich instinktiv, und sie war kein Werpuma, sondern eine reine, ursprüngliche Raubkatze. Und sie beobachtete uns - vor allem Zach und mich. Ich konnte spüren, wie ihr Blick mich bis auf die Knochen durchbohrte.

Zach beugte sich zu mir vor. »Sie säugt Junge.«

Ich wusste es auch, irgendwoher. Die Raubkatze hatte Junge, und sie waren vermutlich irgendwo in der Nähe, gut versteckt. Ich suchte die Felswand ab, sah aber nichts. Mein Blick kehrte zu der Pumamutter zurück, und ich holte tief Luft und sandte ihr eine Woge guten Willens zu.

Tränen traten mir in die Augen, als sie den Kopf in den Nacken legte und brüllte.

Sehnsucht lag in ihrem Ruf, und Angst und Zorn. Irgendetwas stimmte nicht. Ich wusste zwar nicht genau, was, aber sie brauchte Hilfe.

Ehe ich merkte, was ich tat, hatte ich mich an meinem Rudel vorbeigeschoben und rannte über die Brücke, Zach dicht hinter mir. Camille und Roz riefen uns etwas nach, aber meine Aufmerksamkeit galt allein der Pumamutter. Sie brauchte Hilfe, und sie hatte erkannt, dass wir ihr helfen konnten.

Als wir über die Brücke rannten, sah ich, dass Zach sich in einen Puma verwandelt hatte.

Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ohne jede Vorwarnung, verwandelte ich mich ebenfalls - aber diesmal nicht in das Tigerkätzchen, sondern in den Panther. Was zum... ? Der Herbstkönig kontrollierte mich in dieser Gestalt. Was hatte er mit dem Pumaweibchen zu tun?

Und dann hörte ich ihn, tief in meinen Gedanken, tief in meinem Herzen. »Sie steht unter meinem Schutz, wie alle Nachfahren Einarrs. Ihre Mutter war ein Werpuma und entschied sich dafür, in die Wildnis zurückzukehren und ein Vierbeiner zu bleiben. Die Tochter kann sich nicht verwandeln, aber Gestaltwandler erkennen. Helft ihr in ihrer Not. Dass du eine Tochter des Grabes bist, bedeutet nicht, dass du den Lebenden nicht helfen kannst.«

Im nächsten Augenblick war seine Präsenz verschwunden, doch ich behielt die Panthergestalt bei. Zach und ich liefen Seite an Seite schweigend weiter. Es führte kein Pfad zu der Berglöwin hinauf, doch das hielt uns nicht auf. Ich genoss meine Kraft und Geschicklichkeit, während wir von Fels zu Fels sprangen und mit den Vorderpfoten Halt fanden, sobald wir uns mit den Hinterbeinen abgestoßen hatten. So eilten wir die Klippe hinauf, und ich hatte das Gefühl, dass ich ewig so laufen könnte, berauscht von den zahllosen Düften und Geräuschen, die auf mich einstürmten.

Die Pumamutter wartete mit ruhigem Blick auf uns. Als wir direkt neben ihr landeten, zeigte sie kein Anzeichen von Furcht. Ich trat langsam auf sie zu und rieb sacht den Kopf an ihr. Eine meiner Tigerkätzchen-Gesten, doch die meisten Katzen reagierten darauf, ob groß oder klein.

»Was hast du?« Die Worte waren weder auf Englisch noch auf Faerie gesprochen, doch sie verstand mich genau.

»Mein Junges - es steckt fest, und ich kann es nicht befreien.« Ein Ausdruck von Schmerz huschte durch ihre Augen, und ich erkannte den mütterlichen Kummer in ihrer sanften Stimme.

»Geh voran«, sagte Zach. »Wir wollen dir helfen.«

Die Berglöwin führte uns an dem Felsvorsprung entlang zu einer Höhle. Wir folgten ihr nach drinnen, und ich konnte einen Welpen miauen hören. Ein weiteres Junges saß in der Ecke - es sah verwirrt und hungrig aus. Mein erster Impuls war, hinzulaufen und es hochzuheben, doch ein Blick auf Mama Puma sagte mir, dass das keine so gute Idee war. Wir wanden uns einen niedrigen Gang entlang bis zum hinteren Ende der Höhle. Dicht über dem Boden war ein schmaler Spalt, etwa dreißig Zentimeter breit und eins zwanzig bis eins fünfzig tief. Das klägliche Miauen kam aus diesem Spalt.

Ich senkte den Kopf und konnte in der Dunkelheit das andere Junge erkennen.

Irgendwie war das kleine Weibchen in den Spalt geraten, und die Mutter konnte nicht hineingreifen und es herausholen. Sie würde stecken bleiben, falls sie versuchte, ihr Baby zu retten. Wenn wir ihr nicht halfen, würde das Kleine verhungern.

Ich blickte zu der Mutter zurück und erklärte: »Ich muss meine zweibeinige Gestalt annehmen. Bitte hab keine Angst. Ich werde deiner Kleinen nichts tun. Aber anders bekomme ich sie nicht heraus.«

Sie senkte kurz den Kopf, als nickte sie. »Meine Mutter war ein Werwesen«, sagte sie. »Ich habe die Verwandlung schon gesehen.«

Mit ihrer Erlaubnis trat ich beiseite und konzentrierte mich darauf, mich zurückzuverwandeln. Mein Körper verdrehte und veränderte sich, und binnen Sekunden war ich wieder Delilah, die auf zwei Beinen stand. Ich warf der Pumamutter einen raschen Blick zu, doch sie hielt Wort und ließ mich gewähren, also kniete ich mich vor den Spalt und schob den Oberkörper hinein. Ich streckte mich nach dem Kätzchen, das sich an die Wand stützte und mir die Pfötchen entgegen reckte, aber mein Arm reichte nicht so weit hinab.

Zach spürte, dass ich Schwierigkeiten hatte, also nahm auch er wieder seine menschliche Gestalt an. Schweigend packte er meine Beine und schob mich vor, so dass ich über den Rand in den Spalt hinabhing. Die Kleine mühte sich ab, meine Hände zu erreichen, und dann schaffte ich es, sie unter den Vorderbeinen zu packen und sie festzuhalten, während Zach mich rückwärts aus dem Spalt zog. Das Junge kam mit mir zum Vorschein, und sobald ich es losließ, tapste es zu seiner Mutter und suchte nach einer Zitze, um zu saugen. Die Kleinen waren noch in diesem unsicheren, wackeligen Stadium: furchtbar niedlich und furchtbar verletzlich.

Ich blickte mich nach losen Steinen um, mit denen ich den Spalt auffüllen wollte, aber es waren nicht genug da.

Während die Pumamutter besorgt ihr Baby ableckte, rückte ich langsam vor und fragte mich, ob sie mich auch in meiner menschlichen Gestalt in ihrer Nähe dulden würde. Sie schnaufte ein wenig, doch dann trafen sich unsere Blicke, und wir waren nicht länger Katze und Mensch oder Raubkatze und Werwesen, sondern zwei Seelen, verbunden durch das Wesen aller Katzen, die einander ins Herz blickten.

»Sie ist wunderschön«, flüsterte ich in der Katzensprache. »Darf ich sie streicheln? Darf ich dich berühren?«

Mit einem weiteren leisen Schnauben rückte die Mutter ein klein wenig beiseite, so dass ich das Baby erreichen konnte. Sacht legte ich eine Hand an die Seite des Jungen und erschauerte, als das weiche Fell zwischen meinen Fingern hindurchglitt. Ein leises Brummen sagte mir, dass die Kleine schnurrte, und ich biss mir auf die Lippe, beugte mich vor und küsste sie von der Seite. Die Mutter stieß einen ängstlichen Laut aus, und ich legte die Hand nun an ihre Flanke und ließ die Finger einen Moment lang leicht auf ihrem Fell ruhen, während sich unsere Auren vermischten.

Dann wich ich zurück.

»Wir sollten gehen«, sagte Zach. »Die anderen machen sich bestimmt schon Sorgen.«

Ich nickte und trat langsam zurück, ohne den Blick vom Gesicht der Mutter abzuwenden.

Sie senkte den Kopf, nahm ihr Junges beim Nackenfell und folgte uns in den vorderen Bereich der Höhle.

»Du solltest dir einen anderen Unterschlupf suchen, Mama«, sagte ich sanft in der Katzensprache. »Ich konnte den Spalt im Boden nicht für dich absichern. Also suchst du dir am besten eine andere Höhle, die deine Kleinen nicht verschluckt.«

Sie blinzelte, und ich wusste, dass sie meine Botschaft verstanden hatte. Als wir die Höhle verließen, hörte ich sie leise stöhnen, dann ließ sie sich nieder, um ihre Jungen zu säugen.

Ich warf Zach einen Blick zu, und er strahlte mich an.

»Du willst eines, nicht?«, fragte er.

»Was will ich?«

»Ein Junges - ein Baby.« Er lachte dabei, doch der Blick in seinen Augen sagte mir, dass das kein Scherz war.

Ich starrte ihn an und dachte, er müsse verrückt geworden sein, doch da die Idee nun einmal da war, wollte sie nicht wieder verschwinden. Die Mutter mit ihren Jungen zu sehen hatte etwas in mir berührt. Ich wollte eine Familie. Aber ich wollte nicht nur ein Baby, ich wollte Wer-Babys. Kätzchen, die meine Katzennatur ebenso verstehen würden wie die Seite von mir, die halb Mensch und halb Fee war. Und da lag das Problem. Denn Werwesen, die halb Fee waren, konnten keine Werkinder hervorbringen. Ich konnte ein Baby bekommen, sicher, aber dass es - sie oder er - ein Werkind wurde, wäre schon ein außergewöhnlicher Zufall .

Ich seufzte leise, als wir die Höhle verließen und vorsichtig die Klippe hinabkletterten.

Die anderen warteten auf dem Pfad unterhalb der Felswand. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Nicht jetzt.

»Also, eines steht fest«, sagte ich zu Zach, ehe wir die anderen erreichten. »Kinder - ganz gleich, was für welche -werden warten müssen. Bitte sag den anderen nichts. Meine Schwestern brauchen nicht zu wissen, dass meine biologische Uhr tickt. Sie würden sich nur unnötig Sorgen um mich machen. Außerdem kann ich sowieso nicht einfach schwanger werden. Wir haben uns ein Langzeitverhütungsmittel geben lassen, ehe wir hierhergezogen sind, und das Gegenmittel gibt es nur in der Anderwelt. Die Babyfabrik bleibt also vorerst geschlossen.«

Zach nickte nur, doch ein Strahlen flackerte in seinen Augen auf, und er lächelte mich zärtlich an. Während wir den anderen erzählten, was passiert war, fragte ich mich, was zum Teufel er wohl denken mochte.