Kapitel 22

 

Sobald es dämmerte, versammelten wir uns wieder um den Tisch. Wir hatten es geschafft, das gröbste Chaos zu beseitigen - allerdings sah das Haus viel leerer aus, als wir es am Morgen zurückgelassen hatten. Das meiste von unserem Kleinkram war weg, und sogar einige Möbel waren zerstört.

Wir hatten Morio bereits durch Großmutter Kojotes Portal nach Elqaneve geschickt, um Bescheid zu sagen, dass wir einen neuen Flüsterspiegel brauchten. Er war ein paar Stunden später mit dem Versprechen zurückgekehrt, dass wir noch diese Woche einen bekommen sollten.

Nun saßen Smoky und Morio mit Camille auf einer Seite des Tisches und Zach und ich gegenüber. Menolly ließ sich an einem Ende nieder, Iris und Roz am anderen.

Menolly hatte Luke - er war ein Werwolf und ihr oberster Barkeeper im Wayfarer -

angewiesen, sie heute Nacht zu vertreten. Vanzir hatte ich gebeten, etwas später vorbeizuschauen. Wir mussten erst über alles sprechen, ehe wir dem Traumjäger sagten, dass er praktisch zu Chases Lösegeld gehörte. Wir konnten nicht wissen, was er tun würde, wenn er herausfand, dass Karvanak noch etwas mit ihm vorhatte - und eine Willkommensparty gehörte vermutlich nicht dazu. Natürlich hatte ich auch nicht vor, ihn auszuliefern. Er wusste inzwischen zu viel über uns und unsere Arbeit.

»Was machen wir also? Wir können ihm das Geistsiegel nicht geben. Wir haben es schon Königin Asteria überbracht. Aber selbst wenn wir es noch hätten, könnten wir es nicht hergeben. Nicht einmal, um Chase zu retten.« Camille hatte einen gequälten Gesichtsausdruck. Wie wir alle.

Ich starrte auf mein Glas Milch hinab. »Ich weiß. Wenn wir anfangen, auf irgendwelche Forderungen von denen einzugehen, könnten wir die Portale ebenso gut gleich öffnen und Schattenschwinge einladen, ein bisschen Godzilla zu spielen.« Diese Logik schmeckte bitter auf meiner Zunge, aber so war es nun einmal - unterm Strich. Selbst wenn Karvanak Iris entführt hätte, würden wir die Siegel nicht gegen sie eintauschen.

Und Vanzir wollte ich auch nicht ausliefern. Terrorismus und Erpressung gediehen durch positive Resultate, und wenn wir jetzt nachgaben, konnten wir uns gleich geschlagen geben.

»Kollateralschaden«, sagte Menolly. »Darauf läuft es hinaus. Dass man sich nicht erpressen lässt, sagt sich leicht, wenn die Opfer namenlos sind. Aber wenn die Leiche das Gesicht eines Freundes trägt, sind wir gezwungen, schwere Entscheidungen zu treffen.«

Sie warf Camille einen Blick zu. »So wie ich bei Erin.«

»Erin... «, sagte ich. »Du hast recht. Sie ist auch unseretwegen entführt worden.«

Erin Mathews war die Inhaberin der Scarlot Harlot, einer Dessous-Boutique, in der Camille gern einkaufte. Sie war außerdem die Vorsitzende der hiesigen Ortsgruppe des Vereins der Feenfreunde, einer landesweiten Vereinigung von Feen-Fans. Die Mitglieder sammelten und tauschten Bilder und Autogramme, baten alle möglichen Feen, einen Vortrag bei ihren Versammlungen zu halten, und waren im Al gemeinen ein harmloser, leicht zu begeisternder Haufen.

Als Camille sich mit Erin angefreundet hatte, hatte keine von uns geahnt, dass es so übel ausgehen würde. Vor ein paar Monaten war Menollys Meister in die Stadt gekommen und hatte für gewaltigen Ärger gesorgt, und er hatte die VBM-Frau zum Opfer auserkoren, einfach deshalb, weil sie unsere Freundin war und er gewusst hatte, dass er uns traf, indem er sie verletzte.

Er hatte vorgehabt, Erin zum Vampir zu machen und gegen uns zu benützen, doch wir hatten sie noch vorher gefunden. Ihr Leben hatten wir nicht mehr retten können. Aber Menolly war noch genug Zeit geblieben, Erin die Entscheidung darüber anzubieten, ob sie sich den Untoten anschließen wollte. Statt einen grausamen Massenmörder als Meister zu bezeichnen, nannte Erin jetzt Menolly ihre »Mutter«, und Menolly wandte viel Zeit dafür auf, ihrer »Tochter« zu helfen, damit sie sich bald im Leben auf der dunklen Seite zurechtfand.

»Ich fürchte, das werden wir noch oft erleben, solange der Kampf um die Kontrolle über die Portale anhält. Und da nun auch noch diese wilden Portale aus dem Boden schießen... stehen uns harte Zeiten bevor«, sagte Morio. »Wir müssen uns damit abfinden, dass wir jetzt durchs Feuer gehen, und Feuer brennt.«

Camille seufzte tief. »Er hat recht. Es wird sicher noch schlimmer kommen. Aber was unternehmen wir jetzt wegen Chase? Das Siegel können wir ihnen nicht geben. Und Vanzir können wir auch nicht ausliefern. Wie sollen wir ihn also retten?«

»Indem wir Karvanak finden. Diesmal müssen wir den Räksasa töten. Ansonsten wird er an uns kleben wie Risottoreis, und er wird nicht aufgeben, ehe wir alle tot sind.« Ich schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Warum haben wir ihn nicht gleich ausgeschaltet, nachdem er das Siegel gestohlen hatte? Wir sind ihm nur aus dem Weg gegangen und haben gehofft, er würde von allein verschwinden.«

»Wir hatten viel zu tun«, entgegnete Iris. »Und da er das dritte Siegel nun schon einmal hatte, stellte er keine unmittelbare Bedrohung mehr dar. Du weißt ganz genau, dass wir nicht einmal daran denken konnten, wieder in seine Nähe zu kommen, ehe wir Vanzir mit dem Knechtschaftsritual an uns gebunden hatten. Und das hat eine Menge Kraft und Zeit gekostet, wenn du dich erinnern möchtest.«

Ich verkniff mir eine scharfe Erwiderung. Iris hatte sich bei diesem Ritual sehr angestrengt. Selbst mit Unterstützung von Morio und Camille hatte die Talonhaltija jedes Quentchen ihrer Kraft aufbringen müssen, um den Halsreif der Unterwerfung zu beherrschen.

Diese Halsreifen waren eigentlich symbiontische Geschöpfe aus dem Astralreich, die unter Zwang herbeibeschworen und dann durch Bestechung zur Kooperation gebracht wurden. Sie erklärten sich bereit, die Unterwerfung durchzusetzen, wenn alle, die die Peitsche des Herrn führen würden, ihnen Blutopfer darbrachten. Also hatten wir vier -

Iris, Menolly, Camille und ich - uns zwei Wochen lang genug Blut abgezapft, um eine Literflasche zu füllen, ehe wir das Geschöpf überhaupt hatten beschwören können. Iris hatte dabei obendrein gefastet, und das war eine sehr harte Zeit für den Hausgeist gewesen.

Während des Rituals schwoll das Wesen, das aussah wie ein durchscheinender Aal, von unserem Blut dick an und glitt dann an Vanzirs Nacken, bereit, die lebende Kette aus Energie unter seiner Haut zu bilden, die ihn auf ewig an uns binden würde.

Als das Ding sich in sein Fleisch bohrte, verzog er das Gesicht, aber die Fesseln, die ihn hielten, waren stark, und er zwang sich dazu, sich zu entspannen. Das Ritual lief jeder Faser seines Wesens zuwider, und doch schien er fest entschlossen, es durchzuziehen. Ich war erleichtert. Die einzige andere Möglichkeit wäre gewesen, ihn umzubringen. Wir konnten ihn nicht einfach laufen lassen.

Als der Seelenbinder sich wand, um die Öffnung in Vanzirs Hals zu vergrößern, drehte es mir den Magen um. Während der Astralparasit sich in seine Muskeln hineingrub, musste ich mich zwingen, mich zu beherrschen und nicht schreiend hinauszulaufen. Doch ich schaffte es, gemeinsam mit Iris und meinen Schwestern bei dem Ritual zu wachen.

Als die Schwanzspitze beinahe in Vanzir verschwunden war, konnte ich den Kopf sehen, der sich einmal um den Hals gearbeitet hatte, ein paar Schichten unterhalb der Haut. Die Zähne des Seelenbinders brachen direkt vor dem ursprünglichen Biss wieder hervor, packten das Ende seines eigenen Schwanzes wie ein Ouroboros, und dann ließ er sich tief in der Muskulatur nieder, während die Haut an den zwei schmalen Schlitzen rasch verheilte.

Iris begann den Spruch zu singen, durch den der Seelenbinder und Vanzir für immer eins wurden. Der Zauber würde sie beide an uns binden. Wieder einmal hatte ich das Gefühl, dass wir ein Stück tiefer ins Kaninchenloch hinabgerutscht waren.

Aber es gibt keinen Löffel, dachte ich, während sich das grausige Ritual weiter entfaltete. Alles war eine Illusion. Das musste es sein, denn ansonsten wollte ich nicht mehr hier sein. Und doch... und doch... war aus unserer Perspektive alles schrecklich real.

Und dann war es vorbei, und Vanzir war unser Sklave. Er würde nach unserem Gutdünken leben oder sterben. Wir waren seine Herrinnen. Eine weitere Rolle, auf die ich nicht scharf war. Ein weiterer Titel, den ich nicht an meinen Namen angehängt haben wollte. Aber so war es nun einmal, und auch wir waren jetzt durch ein blutiges Ritual, so alt wie die Dämonen selbst, an einen Dämon gekettet.

»Wir müssten Karvanak aufspüren können«, sagte Rozurial. »Und vermutlich können wir Chase auch vor ihm retten. Aber wird der Räksasa das nicht erwarten? Dumm ist der Kerl nicht, das muss man ihm lassen. Ich gebe Smoky recht. Er war hier und hat nach einer weiteren Rückversicherung gesucht. Ich wette, der Dämon ist davon ausgegangen, dass ihr keine Tricks versuchen würdet, wenn er Iris oder Maggie hätte. Oder beide.«

»Verdammt«, sagte Camille. »Ich wette, da hast du recht.«

»Natürlich hat er recht«, sagte Menolly und rückte ihren Stuhl vom Tisch ab. Schon als Kind hatte sie immer lieber auf Bäumen gesessen. Jetzt, da sie ein Vampir war, äußerte sich ihre Vorliebe für höhere Positionen darin, dass sie gern mitten in der Luft schwebte.

Es beeindruckte neue Bekannte jedenfalls mächtig.

Iris sprang von ihrem Barhocker. »Tja, sie hätten mich auch beinahe gehabt, wenn ich nicht so scharfe Ohren hätte.« Sie musterte die restliche Unordnung - Zeug, mit dem Schaufel und Besen nicht allein fertig wurden. »Delilah hat recht. Wenn wir diesen Kretin nicht erledigen, werden wir ihn nie los. Und wir müssen Chase retten. Er gehört zur Familie«, fügte sie hinzu und warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Maggie vergöttert ihn.«

Ich sah sie dankbar an und wandte mich dann an Zach. Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Er ist ein guter Mann, und er hat eure Bemühungen nach Kräften unterstützt.

Ich werde tun, was ich kann, um euch zu helfen.«

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Ich schlüpfte hinaus, um zu öffnen. Vanzir war da. Schweigend führte ich ihn in die Küche und bat ihn, sich zu setzen.

»Ihr seht aus, als wolltet ihr zu einer Beerdigung gehen«, sagte er, sah sich nervös um und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Es ist etwas passiert. Was ist los? Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Nein, du nicht.« Ich holte tief Luft und stieß sie zittrig wieder aus. Obwohl ich wusste, dass er auf unserer Seite stand, scheute ich im Herzen immer noch vor ihm zurück. Mit Dämonen wie Rozurial zu tun zu haben war eine Sache. Roz war nicht böse, nur chaotisch. Aber ich zweifelte nicht daran, dass Vanzir als Mitglied der Unterirdischen Reiche seinen Beitrag geleistet hatte.

»Es geht nicht um etwas, das du getan hast«, sagte ich nach kurzem Zögern. »Karvanak ist aktiv geworden. Er hat Chase entführt und verlangt Lösegeld für ihn.« Ich hielt ihm die Schachtel mit Chases Fingerspitze und dem Ring hin.

Vanzir wurde kalkweiß. »Scheiße.« Er seufzte tief und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ihr habt Glück, dass er Chase den Finger abgebissen hat und keinen intimeren Körperteil. Karvanak ist ein kaltherziger Dreckskerl. Er schlägt einen Handel mit dem Geistsiegel vor, habe ich recht?«

»Ja... « Ich wusste nicht recht, wie ich ihm sagen sollte, dass er ebenfalls auf der Speisekarte stand.

»So werdet ihr ihn nicht zurückbekommen«, sagte Vanzir, stützte die El bogen auf den Tisch und starrte das Fingerglied an. »Selbst wenn ihr Karvanak das Siegel gebt, wird er Chase in kleine Stückchen schneiden und ihn fressen. Er kann sehr überzeugend sein, aber das doppelte Spiellist seine Spezialität.«

»Glaubst du, er wird Chase töten, ehe wir ihn finden?«

»Nicht, bis er erkennt, dass ihr ihm das Siegel nicht übergeben werdet. Drücken wir es mal so aus: Karvanak hält sich alle Optionen offen, bis sein Deal wasserdicht ist. Dann vernichtet er jeglichen Beweis. Chase wird vielleicht nicht ganz an einem Stück bleiben, aber sie werden ihn am Leben erhalten, bis dem Räksasa klar wird, dass ihr das Siegel nicht mehr habt oder es ihm nicht geben werdet.« Vanzir zuckte mit den Schultern. »Ihr dürft ihn niemals unterschätzen. Er ist nicht wegen seiner Dummheit zum General befördert worden.«

»Da ist noch etwas«, begann ich - ich wollte ihm das wirklich nicht sagen. Aber manchmal, wenn man zum Beispielleinen faulen Zahn ziehen muss, ist es am besten, es schnell hinter sich zu bringen. »Karvanak will außerdem dich zurückhaben.«

Das löste eine heftige Reaktion aus. Vanzir fuhr hoch und riss die Augen auf. »Nein! Ihr könnt mich nicht... « Er verstummte, sah uns der Reihe nach an und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Werdet ihr mich ihm ausliefern?«

Zum ersten Mal zerrte seine Stimme nicht an meinen Nerven, und zum ersten Mal sah ich schiere Angst in seinem Gesicht. Er mochte ein Dämon sein, aber er hatte tatsächlich entsetzliche Angst vor seiner eigenen Art.

»Nein«, flüsterte ich. »Nein, werden wir nicht. Du weißt zu viel über uns. Und ein Leben gegen ein Leben eintauschen? Nein. Wenn du unser Gefangener wärst, würden wir das in höchster Not vielleicht tun. Aber du hast dich aus freien Stücken dafür entschieden, die Seiten zu wechseln, und wir verraten unsere Verbündeten nicht.« Die Worte klebten wie altes Fell an meiner Zunge, aber ich musste ihn beruhigen. Ich mochte ihn zwar nicht, doch er hatte an unserer Seite gekämpft.

Ich warf Camille und Menolly einen Blick zu. Beide nickten. Ausnahmsweise einmal waren wir uns völlig einig. »Aber wir müssen herausfinden, wo er ist. Seit Mordred das Teppichgeschäft abgefackelt hat, hält Karvanak sich versteckt, und wir müssen wissen, wo.«

Vanzir trat ans Küchenfenster und schaute in den Garten hinaus.

Ich folgte ihm, streckte vorsichtig die Hand aus und legte sie ihm auf die Schulter. »Keine Sorge«, sagte ich. »Wir werden dich nicht Karvanak ausliefern.«

»Natürlich nicht. Ich weiß zu viel«, erwiderte er grimmig und schüttelte meine Hand ab.

»Dein Liebhaber wird von einem von Schattenschwinges erbarmungslosesten Generälen festgehalten. Nun, einem der schlimmsten, die er sich hierherzuschicken traut. In den Unterirdischen Reichen gibt es noch viel schlimmere.«

Er wirbelte herum und sah mir in die Augen. »Hast du eine Ahnung, wie es jetzt ist, in den Unterirdischen Reichen zu leben? Eine Zeitlang war das Leben dort ganz gut, bis Schattenschwinge die Herrschaft an sich gerissen hat. Jetzt kann man dort nur noch verzweifeln. Es gibt Tausende von Dämonen da unten, die liebend gern in die Erdwelt kommen würden, nur um vor ihm sicher zu sein.«

»Warum kämpfen sie dann für ihn? Warum schließen sie sich nicht zusammen und stellen sich gegen ihn?« Das war mir ein Rätsel.

Vanzir schnaubte und lehnte sich ans Fensterbrett. Trübsinnig starrte er in den Garten hinaus. »Manche tun das - ich kenne sogar ein paar davon. Aber du musst begreifen, dass Schattenschwinge ein Seelenfresser: ist. Er kontrolliert die Massen, weil er jede Seele, die sich ihm in den Weg stellt, Dämon, Mensch oder Fee, einfach verschlingen kann. Er herrscht durch Feuer und Furcht, und Tausende knien nur vor ihm nieder, weil er sie sonst einen Kopf kürzer machen würde.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und rieb sich die Schultern, als sei ihm kalt. »Da ist noch etwas.«

»Was? Erzähl es uns lieber gleich. Wenn du uns etwas verschweigst... « Menolly stieß herab und landete neben ihm.

»Ich verschweige euch nichts. Ich war nicht sicher, ob meine Phantasie mit mir durchgeht oder das, was ich für wirklich gehalten habe, auch wirklich ist. Ich habe es erst heute Morgen durch eine Divination bestätigt, und ich bin immer noch nicht ganz sicher, dass ich recht habe. Aber wenn, dann müssen wir mehr tun, als nur die Geistsiegel vor ihm in Sicherheit zu bringen. Wir müssen ihn aufspüren und vernichten.« Vanzir war so blass, dass ich fürchtete, er würde gleich in Ohnmacht fallen.

»Sag es uns«, bat ich. »Sag uns, was du vermutest.«

Er schob die Stiefelspitze auf dem Perserteppich hin und her, drehte sich dann um und setzte sich aufs Fensterbrett - man hätte ihn für den jungen David Bowie halten können.

»Der Zusammenbruch des Netzes, der dazu führt, dass sich spontan neue Portale auf tun? Ich glaube, Schattenschwinge hat eine Möglichkeit gefunden, das auszunutzen. Ich habe das Gefühl, dass er mehr tut, als nur die Versiegelung zu zerstören.

Schattenschwinge ist verdammt noch mal verrückt. Er ist nicht nur machtgierig. Er ist wahnsinnig.«

»Was soll das heißen?« Im Raum war es so stil , dass ich jedes leise Knarren, jede winzige Bewegung der anderen auf ihren Stühlen hören konnte.

Vanzir atmete tief durch. »Ich glaube, dass er die Welten auflösen will . Schattenschwinge, der Vernichter, so nennt er sich jetzt. Ich glaube, er hat mehr vor, als zu erobern. Ich glaube, er hat es darauf abgesehen, die "Welten zunichte zu machen.«

»Verfluchter Drecksack«, fauchte Menolly. Sie zeigte sehr selten Angst, aber jetzt wirkte sie verängstigt, und zwar nicht zu knapp. Ihre Augen waren blutrot, und sie hatte die Reißzähne ausgefahren. »Wie kommst du darauf?«

»Ich kenne ein paar abtrünnige Dämonen, die hierher entkommen konnten«, sagte er.

»Meistens halten sie sich bedeckt, sie machen keinen Ärger und versuchen, unbemerkt zu bleiben. Sie wollen mit Karvanak und seinen Kumpanen nichts zu tun haben. Oder mit Schattenschwinge und seinem Krieg. Wir unterhalten uns ab und zu. Und nein, sie wissen nichts von dem Knechtschaftsritual. Sie glauben, ich wolle mich hier nur vor Karvanak verstecken.«

»Würdest du endlich an den Tisch zurückkehren? Delilah ist müde und sollte sich hinsetzen«, meinte Smoky abrupt in seinem besonderen Gehorche mir, oder ich toaste dich-Ton- fall.

Vanzir warf ihm einen vernichtenden Blick zu, kehrte aber prompt an den Tisch zurück.

Ich ließ mich auf meinen Stuhl sinken, und sogar Menolly schwebte langsam von der Decke herab und setzte sich zwischen mich und Zach. Sie musterte Vanzir mit schmalen Augen. »Also, was hörst du von deinen Kumpels? Ich schlage übrigens vor, dass du uns eine Liste mit ihren Namen zusammenstellst. Wir sollten ein Auge auf sie haben.«

»Bring mir Papier«, sagte Vanzir leise. Er konnte sich ja nicht weigern. »Ihr werdet sie doch nicht töten, oder?«

»Nur wenn sie sich als Problem erweisen sollten. Wenn sie, wie du behauptest, keinen Ärger machen, lassen wir sie in Ruhe. Vorerst. Aber wenn wir irgendwelche Hinweise darauf entdecken, dass sie unter Schattenschwinges Kontrolle stehen, können sie sich schon mal von ihren Freunden verabschieden. Und du wirst ihnen nicht verraten, dass wir von ihnen wissen.«

Mit glimmenden Augen legte sie die Hände auf den Tisch und beugte sich zu ihm vor.

»Hast du mich gehört, kleiner Dämon? Wenn ich auch nur glaube, einer von ihnen könnte Mist bauen, werden die Spitzen meiner Reißzähne das Letzte sein, was er sieht.«

Vanzir erschauerte. Es gelang ihm öfter, zur falschen Zeit das Falsche zu sagen, aber dumm war er nicht. Er wusste nur zu gut, welche Kräfte Menolly besaß.

»Verstanden.« Er schob ihr die Liste zu. »Hier. Ich weiß von vieren, wo sie wohnen. Bei den anderen habe ich keine Ahnung, wo sie sich sonst aufhalten.«

Sie nickte. »Gut. Also, was hörst du von ihnen?«

»Das Neueste habe ich erst heute Vormittag erfahren, auf dem Weg hierher. Ein Dämon namens Trytian hat es vor einer Woche geschafft, sich herüberzuschleichen. Seine Hinrichtung - und glaubt mir, Hinrichtungen sind in den U-Reichen eine große Sache - war schon für die Sommersonnenwende angesetzt. Sein Vater ist irgendein ganz wichtiger Daimon, der da drüben eine Rebellion gegen Schattenschwinge anführt. Schattenschwinge hat Trytian in die Finger bekommen und wollte ihn als Druckmittel benutzen, aber Trytians Vater hat sich auf keinen Handelleingelassen.«

Dämonen und Daimonen standen beide auf der Liste der Großen Bösen Jungs, aber es gab da doch subtile Unterschiede, und sie mochten einander nicht besonders. Dasselbe galt für Teufel und Dämonen, die ja auch verschiedenen Zweigen des höllischen Stammbaums entsprangen.

»Trytian ist also das gelungen, was unser Cousin Shamas auch geschafft hat, nämlich zu verschwinden, ehe er hingerichtet werden konnte«, sagte ich nachdenklich. »Warum ist er dann nicht zu seinem Vater heimgekehrt?« Das kam mir ein bisschen verdächtig vor, aber ich hatte ja inzwischen »Misstrauen für Anfänger« bei Camille und Menolly belegt.

»Ist er, aber sein Vater dachte, er könnte hier drüben nützlicher sein. Wisst ihr«, sagte Vanzir, und seine Stimme wurde sehr leise, »in den Unterirdischen Reichen gehen Gerüchte über drei Frauen um, halb Feen, halb VBM, die Schattenschwinges Pläne zu durchkreuzen versuchen. Eure Namen haben die Dämonen allerdings noch nicht erfahren. Ich bezweifle, dass irgendwer da drüben weiß, wer ihr seid, außer Schattenschwinge und seinen Vertrauten.«

Karvanak musste ihm das gesagt haben; davon konnten wir ausgehen. »Warum sollte Schattenschwinge unsere Namen geheim halten? Ich würde eher erwarten, dass er ein Kopfgeld auf uns aussetzt.«

Vanzir schüttelte den Kopf. »Denk doch mal darüber nach. Schattenschwinges Macht beruht auf Angst. Wenn er eure Existenz offiziell bestätigen würde, hätte er damit praktisch eingestanden, dass er angreifbar ist, und das kann er nicht zulassen.«

Menolly nickte. »Ja, das verstehe ich. Die Blutclans der Vampire sind ähnlich strukturiert, aber wir sind nicht ganz so paranoid wie die Dämonen. Es ist zumindest gut zu wissen, dass nicht jeder einzelne Angehörige der U-Reiche sich darum reißt, einen Abstecher in die Erdwelt zu machen.«

»Wie auch immer, ich glaube, Trytians Vater hat gehofft, sein Sohn würde euch irgendwie über den Weg laufen und euch als Verbündete gewinnen.« Vanzir lächelte. Schwach, aber es war immerhin ein Lächeln. »Ihr habt ja keine Ahnung, wie gern ich Trytian von euch erzählen würde. Aber das habe ich nicht. Sein Vater befehligt eine große Streitmacht in den U-Reichen. Er und seine Leute könnten uns sehr nützlich sein.«

»Theoretisch ist das eine gute Idee, aber wir können kein Bündnis mit ihm eingehen«, sagte Camille. »Wir dürfen uns nicht in Streitigkeiten unter Dämonen verwickeln lassen.

Ich will nicht unhöflich sein, Vanzir, aber es ist nun mal eine Tatsache, dass die meisten Dämonen nicht mit offenen Karten spielen. Was, wenn der Vater dieses Trytian es selbst auf die Siegel abgesehen hat? Ich erteile dir hiermit den grundsätzlichen Befehl: Erzähl ihm oder sonst irgendeinem Dämon nichts von uns oder unserer Mission, außer mit unserer ausdrücklichen Erlaubnis. Punkt.«

Sie holte tief Luft, und Smoky legte ihr leicht eine Hand auf die linke Schulter.

»Verstanden«, sagte Vanzir, in dessen Augen wie immer dieses bunte Kaleidoskop herumwirbelte. Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen, aber er hielt den Mund.

Zach zog den Keksteller auf unsere Seite des Tisches herüber und bediente sich. »Also, was jetzt? Hast du irgendetwas darüber erfahren, wo Karvanak sich aufhält?«, fragte er Vanzir.

»Ja, das war die zweite Neuigkeit, von der ich euch berichten wollte. Heute Vormittag habe ich einen Volltreffer gelandet. Ich halte ja die Augen offen, mache mich aber ansonsten nicht bemerkbar. Es ist erstaunlich, was man alles erfährt, wenn die Leute vergessen, dass man auch im Raum ist. Also, erinnert ihr euch an diese Dschinniya, Jassamin?«

Ich nickte. Jassamin war eine niedere Dschinniya gewesen, die für Karvanak gearbeitet hatte. Vanzir hatte uns bestätigt, dass sie außerdem Karvanaks Geliebte gewesen war und eine seiner Kraftquellen. Während unseres Kampfes um das dritte Geistsiegel hatte es einen schrecklichen Moment in der Höhle gegeben, als Jassamin im Begriff gewesen war, Chase zu töten. In diesem Augenblick hatte Vanzir die Seiten gewechselt und sie mit seinem Scimitar durchbohrt. »Jetzt sag bloß nicht, sie ist wieder da.«

»Nein, aber eine Neue läuft jetzt mit dem Räksasa herum. Ich glaube nicht, dass sie eine Dschinniya ist, aber ich habe gehört, Karvanak hätte sie unter seiner Knute. Heute Morgen habe ich sie in der Nähe seines abgebrannten Ladens gesehen. Ich bin ihr gefolgt, so weit ich konnte.« Er griff in die Tasche, holte eine Karte hervor und klatschte sie auf den Tisch. Als er sie auffaltete, entdeckte ich eine säuberliche rote Linie entlang der Straßen. Ich beugte mich vor, und er rückte beiseite, damit ich Platz hatte.

»Ich habe ihre Route in Rot nachgezeichnet. Ich dachte, es wäre vielleicht irgendwie wichtig, warum sie diesen und keinen anderen Weg genommen hat.«

»Danke«, sagte ich und verfolgte gespannt den roten Strich. »Sie ist oft abgebogen und hat Umwege gemacht. Meinst du, sie hat gemerkt, dass du ihr gefolgt bist?« Ich warf ihm einen Blick zu.

Er zuckte mit den Schultern. »Würde mich nicht überraschen. Karvanak geht im Augenblick vermutlich eher vorsichtig vor. Er ist enttarnt worden - jedenfalls euch gegen-

über -, und er unterschätzt seine Gegner nie. Ich war etwa ein Jahr lang in seinen Diensten, und während dieser Zeit habe ich begriffen, wie ungeheuer intelligent er ist.

Räksasas sind unglaublich verschlagen. Nein, es ist seine Lasterhaftigkeit, die ihn irgendwann zu Fall bringen wird.«

Zach schaltete sich ein. »Warum hast du für ihn gearbeitet, wenn du nicht damit einverstanden bist, was Schattenschwinge tut?«

Vanzir zog die Augenbrauen hoch und schnaubte. Ich verzog das Gesicht. Iris, meine Schwestern und ich kannten die Geschichte. Zach nicht. Ich fragte mich, ob er es schaffen würde, die Kekse, die er gerade gegessen hatte, bei sich zu behalten.

»Für ihn gearbeitet? Von wegen, Mann. Ich wurde ihm als Geschenk überreicht. Nakul, ein anderer General aus Schattenschwinges Armee, hat mich am Spieltisch gewonnen. Ich hatte beim Q'aresh mehr gesetzt, als ich besaß. Ich wusste, dass ich das bessere Blatt hatte, aber Nakul hat falsch gespielt. Als ich ihm sagte, dass ich meine Schuld nicht begleichen könne, hat er mich zu Schattenschwinge geschleift. Der hat angeordnet, dass ich Nakul sieben Jahre lang als Diener gehöre. Nach etwa einem Jahr hatte er mich über, da hat er mich an Karvanak weitergereicht, als Geburtstagsgeschenk.«

Zach sah aus, als sei ihm ein wenig übel. Er begriff immer noch nicht ganz, wie widerlich und grausam die Welt tatsächlich sein konnte, was mich überraschte, wenn man seine Herkunft und die Geschichte seines Stamms bedachte. Er war eigentlich kein großer Optimist, aber er hielt gern länger an der Hoffnung fest, als gut für ihn war. »Warum hat er dich nicht einfach freigelassen?«

Vanzir stieß ein verächtliches Schnauben aus. »In den U-Reichen geht es bei jedem Manöver darum, die Oberhand zu gewinnen. Wenn du dich durch eine Bestechung - oder ein Geschenk - bei jemandem beliebt machen kannst, dann tust du es, denn das könnte dir später den Arsch retten. Nakul wusste, dass Karvanak einen sehr vielfältigen Geschmack hat, was seine Bettgefährten angeht. Er hat ein Faible für Frauen mit magischen Energien und für knackige junge Dämonenärsche. Den Frauen raubt er ihre Macht, jedes Mal, wenn er sie nimmt, und die Männer vergewaltigt er nur. Wenn er ein neues Spielzeug dann satt hat, frisst er es. Er hat mir Dinge angetan, die ich niemals vergessen werde. Ich schulde ihm immer noch fünf Jahre meines Lebens, aber ich glaube, die würde ich nicht überleben. Karvanak ist brutal und barbarisch bei seinen Privatorgien.«

Ich verzog das Gesicht, den Blick auf die Karte gerichtet.

Ich spürte, wie Zach sich neben mir verkrampfte. Er gehörte dem mächtigsten Puma-Rudel in Nordamerika an, und auch die Rainier-Pumas konnten ab und zu ganz schön unangenehm werden, aber das war nichts im Vergleich zu den Auswüchsen der Gewalt, die bei Dämonen üblich waren. Das Leben in den U-Reichen lief nach dem Motto: Töte, oder du wirst getötet werden. Immer schön auf den Boss achten, oder du begegnest plötzlich der Spitze eines Dolchs... oder Schlimmerem. Vanzir hatte eine Menge Gründe dafür, Karvanak zu hassen.

Die gewundene rote Spur auf der Karte führte zu einem Gebäude im südlichen Seattle, im Industrial District. »Ein Vamp-Club? Sie ist eine Vampirin?«, fragte ich.

Vanzir schüttelte den Kopf. »Nein, ist sie nicht. Das ist das Fangzabula. Sie ist reingegangen, aber ich habe sie nicht wieder gehen sehen, obwohl ich mich eine Weile dort herumgetrieben habe. Ich würde ja sagen, sie ist eine Dschinniya, aber der Geruch passt nicht. Sie riecht allerdings nach Dämon, aber vielleicht liegt das nur daran, dass sie mit Karvanak kuschelt.« Er griff in seine Tasche und holte einen zarten Schal heraus. »Die Frau hat das hier verloren. Es riecht stark nach ihr.« Er legte ihn auf den Tisch.

Camille griff zögerlich danach, schnupperte daran und schüttelte den Kopf.

»Sex«, sagte sie. »Ich rieche Sex, aber ansonsten kann ich damit keinen bestimmten Eindruck verbinden.«

Der Seidenschal machte die Runde, bis er bei Roz ankam, der ein einziges Mal daran roch und ihn fallen ließ, als hätte der Schal ihn gebissen.

Er wandte sich Camille zu. »Du hast ganz recht. Ich kann dir auch genau sagen, wem das gehört. Allerdings hätte ich nie damit gerechnet, sie jemals wiederzusehen.« »Wen denn?«, fragte ich.

Er seufzte tief. »Sie heißt Fraale. Sie ist furchterregend durchgeknallt und eine der offenherzigsten Frauen, die mir je begegnet sind. Genau der richtige Typ - wenn man gern gefährlich lebt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie als Helferin bei solchen Dämonen anheuert. Ernsthaft. Wenn sie bei ihnen ist, dann steckt sie selbst in großen Schwierigkeiten.«

Menolly starrte ihn mit großen Augen an. »Fraale? Bist du sicher?«

»Wer zum Teufellist Fraale?«, fragte ich. »Das hört sich an, als würdet ihr sie kennen.«

»Allerdings kenne ich sie«, sagte Roz, und ein verlegenes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. »Ehe Fraale in einen Succubus mit Domina-Ausrichtung verwandelt wurde, war sie meine Frau.«