Kapitel 5

 

Den Dolch in der einen, den Besen in der anderen Hand, stand ich am Kopf der Treppe.

Vorsichtig klopfte ich mit dem Besenstiel die erste Stufe ab. Das Licht flackerte - die alte Birne würde es wohl nicht mehr lange machen. Ich warf einen Blick zurück zu Morio, der dicht hinter mir stand.

»Hast du einen Lichtzauber, nur für den Fall , dass die Lampe ausgeht? Ich will hier lieber nicht im Dunkeln herumtappen, sozusagen.« In Wahrheit wollte ich überhaupt nicht in diesen Keller gehen. Erstens machte ich mir Sorgen um Camille. Zweitens fand ich die Vorstellung, gegen giftige Ekel-Insekten zu kämpfen, alles andere als aufregend. Schon gar nicht nach unserem Problem mit dem Jägermondclan vor ein paar Monaten. Und drittens, na ja... hatte ich Hunger. Mein Magen knurrte genau in diesem Augenblick, als wollte er diesen Gedanken unterstreichen. Ich ignorierte ihn.

Morio nickte. »Ich kann mein Fuchsfeuer einsetzen. Aber wenn das Licht ausgeht, bleibt alle sofort stehen! Ich kann schlecht einen Zauber wirken, während ich die Treppe hinunterkullere.«

»Klar.« Ich räusperte mich und blickte über die Schulter zurück. »Dann auf ins Vergnügen.« Ich stellte den Fuß auf die erste Stufe. Ein leises Knarzen, aber nichts allzu Schreckliches. Ich holte tief Luft und tastete mit dem Besenstiel die zweite Stufe ab. Die dritte. Die vierte. Ich wollte gerade auf die fünfte klopfen, als plötzlich das Licht erlosch. Die Glühbirne hatte den Geist aufgegeben.

»Alle stehen bleiben«, erklang Morios Stimme in der Dunkelheit.

Ich hatte das Gefühl, am Rand eines Abgrunds zu stehen. Die Kellertreppe war mehr als fünfzehn Stufen lang - so weit hatte ich jedenfalls gezählt, ehe das Licht erloschen war.

Dort unten könnte uns eine weitere Tür erwarten, oder ein Flur, oder ein Wächter, der uns auflauerte. Ich versuchte, meine geistigen Fühler auszustrecken und eventuelle Gefahren zu erspüren, aber meine Sinne waren völlig überdreht.

Morio rief etwas, und der dunkle Treppenschacht wurde urplötzlich von hellem Licht erfüllt, das von einem dreißig Zentimeter langen, grün leuchtenden Stab in seiner Hand kam. Das phosphoreszierende Licht leuchtete die Treppe sogar besser aus als die trübe Glühbirne, aber alles nahm einen unheimlichen, grünlichen Schimmer an. Ich verzog das Gesicht, weil ich an die vielen Gruselfilme im Spätprogramm denken musste, die anzuschauen ich Menolly gezwungen hatte, weil ich dabei Gesellschaft haben wollte. Was uns hier erwartete, war zehnmal schlimmer, aber trotzdem quälten mich Bilder von hübschen jungen Frauen, die ohne jeden Schutz in unterirdische Grabkammern hinabstiegen.

Ich klopfte mich die nächsten zehn Stufen hinunter und musste dann den Kopf einziehen, weil zwei Balken sich über der Treppe kreuzten. Ich war die Größte, bis auf Smoky, und mein Kopf streifte beinahe einen der Balken. Roz war zwei Fingerbreit kleiner als ich, und Camille und Vanzir reichten nicht an uns heran.

»Achtung«, rief ich zurück. »Tiefhängende Balken - seid vorsichtig.« Als ich mich unter dem nächsten Balken durchduckte, streiften Spinnweben, die vom Holz herabhingen, meine Schultern und kitzelten mich im Nacken. Weil der hängende Staubfänger mich völlig überraschte, schrie ich auf.

»Heilige Scheiße. Spinnen. Was zum Teufel tun die hier? Ich hasse Spinnen.« In Wahrheit stand ich kurz davor, eine ernsthafte Arachnophobie zu entwickeln.

»Was für Netze?«, fragte Camille von hinten.

»Die falsche Sorte«, antwortete ich grimmig. »Haltet die Augen nach Winkelspinnen offen.«

Morio brummte. »Orte wie diesen lieben sie. Aber ich dachte, die meisten Mitglieder des Jägermondclans seien tot.«

Das war der mächtige Clan von Werspinnen, gegen den wir vor einer Weile gekämpft hatten. Wir hatten zwar versucht, sie alle zu erwischen, aber zweifellos waren ein paar von ihnen entkommen, und vermutlich waren sie ziemlich sauer auf uns.

»Das können wir nicht mit Sicherheit wissen. Haltet einfach die Augen offen.«

Wir stiegen weiter in den tiefen Keller hinab, und mehr Stufen kamen in Sicht. Etwa zweieinhalb Meter weiter endete die Treppe an einer Tür. Daneben befand sich eine Nische in der Wand. Ich konnte den Gestank von fauligem Fleisch bis hierher riechen.

Die Nische war von Form und Größe her genau richtig für den Höllenhund, und die dicke Silberkette darin sagte mir, dass das Wesen hier als Wachhund gedient hatte. Die Kette war glatt, die Glieder stark und ungebrochen. Jemand hatte ihn also losgemacht und auf uns gehetzt. Derjenige war ihm auch nicht vorausgegangen, um die Tür am Kopf der Treppe aufzumachen. Ich vermutete, dass Herrchen genauso viel Angst vor seinem Hündchen hatte wie wir vorhin.

Die Tür selbst schien besonders verstärkt worden zu sein. Als ich mich ihr näherte, schlug die Energie nach mir und versetzte mir praktisch eine Ohrfeige. Zum Teufel. In diese Tür war irgendeine schwere Eisenlegierung eingearbeitet - zu viel für uns.

»Mist. Eisen. Ich kann die Tür nicht anfassen. Camille auch nicht. Morio, was ist mit dir?«

Ich blieb auf der untersten Stufe stehen, denn ich wollte nicht weitergehen, ehe wir entschieden hatten, wie wir mit der Tür verfahren würden.

Morio starrte sie an. »Dürfte eigentlich kein Problem für mich sein. Smoky?«

»Das Stück Eisen möchte ich mal sehen, das mich aufhalten kann«, sagte Smoky leise.

Ich starrte ihn einen Moment lang an. »Wir sind aber heute ziemlich selbstsicher, was?«

Er warf mir einen frostigen Blick zu. »Stellst du meine Fähigkeiten in Frage?«

Zeit, so weit wie möglich zurückzurudern. »Nein, nein... ganz und gar nicht.« Er mochte zwar Camilles Ehemann sein, war aber trotzdem sehr wohl in der Lage, kleine - oder auch große - Miezekätzchen zu zerquetschen, und ich wollte seine Geduld nicht auf die Probe stellen. Dieser ganze Nachmittag machte mich wahnsinnig. Ich wandte mich Roz zu.

»Und du?«

»Na ja, ich kann Eisen verdammt noch mal nicht leiden, aber ich werde nicht gleich verbrutzeln. Jetzt jedenfalls nicht«, antwortete Roz. Er schob sich an mir vorbei und beugte sich vor, um das Schloss zu mustern.

Ich wandte mich Vanzir zu, und der schüttelte den Kopf. »Dämonen mögen Eisen. Wir benutzen es für alles Mögliche, zu Hause in den Unterirdischen Reichen. Eisen, Blei, Uran... «

»Was?«, fragte Smoky hastig. »Ihr habt da unten Uran?«

Vanzir zuckte mit den Schultern. »Für manche Dämonen ist es wie eine Droge. Wir stehen mit seiner Energie in Resonanz, obwohl ich sagen muss, dass ich es nicht sonderlich vermisse. Die meisten von uns sind gegen die Gefahren von Uran immun.

Manche Dämonen sind süchtig danach, und es gibt sogar Uran-Elementare - Magier haben es geschafft, sie aus dem Metall zu beschwören.«

Ich blinzelte zweimal. Uran-Elementare? Wunderbar, das war genau das, was uns Erdseits noch fehlte: ein Haufen durchgeknallter Uran-Wesen, die herumrannten und die Leute radioaktiv verseuchten. »Reizend... ganz reizend.«

Roz richtete sich unvermittelt auf. »Ich kann dieses Schloss sprengen.«

»Stürzt dann nicht das Haus über uns zusammen?« Der Tag wurde einfach immer besser.

»Nicht, wenn ich genau die richtige Menge Sprengstoff nehme. Aber ich würde vorschlagen, dass ihr euch abwendet. Es gibt sicher Rauch, und ein paar Splitter könnten herumfliegen. Vielleicht wäre es das Beste, ihr zieht euch zurück, ein Stück die Treppe hinauf.« Er öffnete seinen Staubmantel und holte zwei kleine Ampullen heraus, eine mit rotem, eine mit schwarzem Pulver darin. »Myokinar-Pulver und Alostar-Präparat«, sagte er, als er meinen Blick bemerkte.

Sofort scheuchte ich die anderen die Treppe hinauf. »Mindestens auf halbe Höhe«, sagte ich und schob Morio von hinten an. Myokinar-Pulver und sein Genosse, Alostar-Präparat, wurden von den Zwergen im Nebelvuori-Gebirge zu Hause in der Anderwelt hergestellt, und sie boten sämtliche Vorzüge von Schwarzpulver. Wenn man sie im richtigen Verhältnis mischte, war die Mixtur extrem explosiv. Ein leichtes Antippen mit einem bleistiftgroßen Hammer konnte dann alles in die Luft jagen.

Als kleines Mädchen hatte ich einmal einen Zwerg gesehen, der durch eine Myokinar-Landmine ein Bein verloren hatte. Die Goblins hatten sie bei einem Feldzug gegen die Zwerge eingesetzt. Daraufhin hatten die Zwerge die Jagdsaison eröffnet und einen Preis auf Goblin-Schädel ausgesetzt, und kurze Zeit später hatten die Goblins ihren Versuch, auf Zwergengebiet überzugreifen, noch einmal überdacht. Die Landminen hatten danach als nützliche Werkzeuge im Bergbau gedient.

»Wo in aller Welt hast du das Zeug her?«, fragte Camille, die sich mit verzerrtem Gesicht an Smokys Schulter lehnte. Es war offensichtlich, dass sie starke Schmerzen hatte, aber ich wusste, dass sie sich weigern würde, das Haus zu verlassen, ehe wir hier fertig waren.

»Aus einem kleinen Bergbau-Laden in Terial. Die haben da alles, was der ambitionierte Höhlenforscher so braucht.« Er lachte und warf ihr einen glühenden Blick zu. »Ich erforsche gerne Höhlen, wenn du weißt, was ich... « Smoky funkelte ihn an, und Roz schlug die Augen nieder. »Ah... schon gut.«

»So ist es recht«, sagte Smoky, entspannte sich ein wenig und setzte sich auf eine Stufe.

Er zog Camille auf seinen Schoß, die zusammenzuckte und dann den Kopf an seine Schulter lehnte.

Roz schüttete ein wenig von dem schwarzen Pulver in das Schloss und fügte dann vorsichtig eine Prise von dem roten hinzu. Er holte einen dünnen, bleistiftlangen Stab hervor und verlängerte ihn mit einem Schütteln aus dem Handgelenk auf einen Meter zwanzig. Die Stange war sehr dünn, aber solide. Er wich bis zum Fuß der Treppe zurück, streckte den Arm aus und zielte vorsichtig auf das Schlüsselloch.

»Ich verstehe«, sagte ich. »Ich meine, ich sehe, was du vorhast.«

»Tja, ich rate euch allen dringend, euch umzudrehen. Es wäre wirklich besser, ihr schaut nicht in diese Richtung, wenn das Zeug hochgeht.« Er verdrehte sich in der Taille, wandte das Gesicht der Treppe zu, und wir hörten Metall auf Metall kratzen. Plötzlich herrschte Stil e, dann knallte eine laute Explosion, und der Treppenschacht füllte sich mit dunklem, schmierigem Rauch.

Hustend drehte ich mich um. »Igitt... das ist ja eklig.« Die Partikel in dem Rauch setzten sich auf unseren Kleidern ab und bildeten eine ölige Rußschicht. Aber das Schloss war geknackt, die Tür stand offen. Ich blickte zu Smoky zurück. Makellos. Wie immer. »Wie zum Teufel machst du das?«, fragte ich.

Er sah mich verdutzt an. »Was denn?«

»Der Mantel, die Jeans, das Hemd... du bist nie schmutzig. Du bist nie mit Schlamm bespritzt, mit Staub bedeckt oder mit einer Rußschicht überzogen. Was zum Teufel benutzt du bloß für ein Waschmittel?« Ich starrte auf meine eigene Jeans hinab, die nun mehrere kleidsame Schmierflecken aufwies. »Ich will etwas davon abhaben.«

Er lächelte nur und sagte kein Wort, während er Camille auf die Füße half und mit ihr die Treppe hinunterstieg. »Was meint ihr, warum uns noch niemand angegriffen hat?«, fragte er, und sein Lächeln erlosch. »Wir haben mehr Lärm gemacht als eine Horde betrunkener Wikinger auf Raubzug.«

»Was hat der Höllenhund denn bitte getan?«, erwiderte ich, doch Vanzir schüttelte den Kopf und hob die Hand.

»Er hat recht. Und meine einzige Antwort darauf lautet: Ich glaube, es ist niemand hier, der uns aufhalten könnte. Ich glaube, irgendein Wiedergänger oder Schemen beschützt die Toxidämonen, die hier schlüpfen sollen. Ich vermute, wir betreten gleich eine Dämonen-Kinderstube. Wetten, sie haben sich darauf verlassen, dass der Höllenhund jeden aufhalten würde, der hier reinzukommen versucht?« Vanzir musterte den vor uns liegenden Gang. »Dämonische Energie strömt durch diesen Flur wie ein Fluss mit Hochwasser.«

Camille schloss die Augen und schauderte dann. »Vanzir hat recht. Sie schlängelt sich wie eine Welle. Hier unten ist überall dämonische Energie.«

»Dann beeilen wir uns lieber. Wenn ihr recht habt«, sagte ich und warf dem Traumjäger einen scharfen Blick zu, »dann wartet der Beschützer dieser Toxidämonen da vorne auf uns. Zusammen mit den Toxidämonen selbst.«

»Denkt daran, sie sind gefährlich, auch wenn sie eben erst ausgeschlüpft sind. In diesem Stadium können sie euch vielleicht noch keine Eier injizieren, aber sie können euch trotzdem schwer verletzen«, sagte er. »Wer von euch die Kältezauber beherrscht, sollte mit dir zusammen vorausgehen.«

»Ich will Camille nicht schutzlos zurücklassen«, entgegnete Smoky.

Morio wandte sich ihm zu. »Ich passe auf sie auf. Du wirst hier vorne gebraucht.« Als Smoky zögerte, fügte er hinzu: »Auch ich bin ihr Ehemann.

Du weißt, dass ich sie mit meinem Leben schützen werde.«

Camille seufzte geplagt. »Los, nach vorn zu Delilah, du Dumpfbacke. Morio kann mir helfen.« Als Smoky sich nicht vom Fleck rührte, fügte sie hinzu: »Mir passiert schon nichts. Ich bin nicht so dumm, mich verletzt in die erste Reihe zu stellen, aber ich werde auch nicht in den nächsten paar Sekunden umkippen. Ja, meine Hand brennt höllisch, aber ich liege noch nicht im Sterben.«

Er zuckte resigniert mit den Schultern und tauschte dann mit Morio die Plätze.

»Dumpfbacke?«, flüsterte ich und grinste ihn breit an.

Smoky schnaubte. »Was soll ich sagen? Du kennst doch Camille.«

Plötzlich vermisste ich Chase. Ich vermisste den gewohnten Trost unserer Beziehung. Ich biss mir auf die Lippe. Jedes Paar machte mal schwierige Zeiten durch; das hatte ich bei Camille und ihren Liebhabern gesehen. Aber im Augenblick beneidete ich sie um ihre unbekümmerte Art und ihr Selbstvertrauen. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.

Ich gab mir Mühe, aber Teil eines Paares zu sein, war immer noch neu für mich.

Verdammt, ich war immer noch neu für mich. Seit unserer Begegnung mit dem Herbstkönig war meine ganze Welt auf den Kopf gestellt worden, und ich hatte das Gefühl, dass sich die Regeln ständig änderten. Aber eines war sicher. Chase und ich würden uns lange unterhalten, wenn diese Sauerei mit den Toxidämonen vorbei war, und dann würde er mir alles über Erika erzählen müssen.

Ich schüttelte meine Frustration ab und wandte mich zu den anderen um. »Bereit?« Alle nickten. »Dann los.«

Vanzir stieß die Eisentür auf und hielt sie weit offen. Nachdem wir alle durch waren, schob er sie langsam wieder zu und holte zu mir auf.

Der Flur, den wir entlang schlichen, war dunkel, aber dank Morio und seinem Fuchsfeuer konnten wir bis ans Ende sehen, wo ein weiterer Gang nach rechts abbog. Bald wurde mir klar, dass dies kein einfacher Keller war. Es sah aus wie ein ganzes Netz aus Tunneln, das vermutlich lange nach dem Bau des Hauses angelegt worden war. Wahrscheinlich hatte also einer von Schattenschwinges Spähern das Haus gekauft und es zu einem Versteck für seine Spione ausgebaut, die... na ja... was auch immer die vorhaben mochten.

Die Wände des Gangs waren feucht und glitschig vor Schimmel. Der Tunnel selbst war zwar nicht beheizt, aber ich spürte eine Wärmequelle irgendwo vor uns. Als wir uns dem Ende des Flurs näherten, bedeutete ich den anderen zu warten und schlich bis zur Ecke vor, um vorsichtig darum herum zu spähen.

Etwa drei Meter weiter endete der Tunnel an einer Tür. Auch diese war aus Eisen, und daher kam die Hitze. Ich bog um die Ecke und führte die anderen den Gang entlang.

Vanzir legte die Hand auf das Eisen. Ich verzog das Gesicht, aber ihm schien es nichts anzuhaben. »Hinter dieser Tür - da sind die Toxidämonen.«

»Roz, du wirst uns durch diese Tür bringen müssen. Und wenn wir auf den Schemen treffen, oder was auch immer sie bewacht, seid vorsichtig. Ein ganz gewöhnliches Gespenst würde sich nicht mit uns anlegen, also muss es etwas Schlimmeres sein. Mit diesem Portal in die Welt der Schatten wissen wir, dass es gleich hässlich wird. Der Höllenhund hätte sowohl aus den Unterirdischen Reichen als auch aus der Schattenwelt kommen können, also...«

Roz warf Smoky einen Blick zu. »Es gäbe eine Möglichkeit, sie zu überrumpeln. Aber ich weiß nicht, ob Smoky dazu bereit ist. Ich würde es versuchen - aber es stimmt, wir wissen nicht, was uns da erwartet.«

»Was meinst du damit?« Verwundert blickte ich mich nach dem Drachen um. »Wovon spricht er?«

Smoky maß Roz mit einem kühlen Blick. »Du beliebst wohl zu scherzen. Ohne zu wissen, was auf der anderen Seite ist, könnten wir sie in einen Lavasee werfen oder in ein Nest voller Larven, die sofort über sie herfallen würden.«

Camille schnappte nach Luft. »Deshalb kommst du also so schnell von einem Ort zum anderen«, sagte sie zu Roz. »Bei Smoky wusste ich es ja, aber... wie kannst du... «

Smoky schnitt ihr das Wort ab. »Genug jetzt. Das kommt nicht in Frage, also lass es gut sein.« Ich wollte etwas sagen, aber er schüttelte den Kopf. »Spar dir deine Fragen für später auf. Rozurial, widme du dich dieser Tür. Wenn du es nicht tust, werde ich das Hindernis aus dem Weg räumen.«

Roz sah ihn kopfschüttelnd an. »Du hast vielleicht eine Art. Schon gut!« Er hob die Hände, als Smoky einen Schritt vortrat. »Ich kümmere mich um die Tür. Kein Problem.

Alles klar.« Er holte seine Fläschchen mit Myokinar-Pulver und Alostar-Präparat hervor.

»Du hast mir da was verschwiegen«, flüsterte ich Camille zu. »Möchtest du mir später vielleicht davon erzählen? Sofern du dich von deinen zwei Stooges da losreißen kannst.«

»Natürlich. Hat sich bis jetzt nur irgendwie nie ergeben.« Sie verzog das Gesicht und drückte vorsichtig die Hand an sich. »Scheiße, tut das weh. Ich will nur noch diese Mistviecher ausschalten und dann so schnell wie möglich hier weg.«

Ich schaute zu Roz hinüber, der mit seiner ausziehbaren Rute in der Hand zurückwich.

»Ich glaube, das kannst du haben. Schlachtordnung: Smoky und ich, Roz und Vanzir, Morio und Camille.«

Eine Explosion erschütterte den Gang.

»Tretet beiseite«, befahl Smoky und stieß die Tür weit auf. Seine kraftvolle Stimme sagte mir, dass er es ernst meinte. Wir alle sprangen beiseite, als ein gewaltiger Windstoß hinter uns durch den Flur dröhnte und ihm in den Raum hinein folgte. Ein lautes Kreischen war zu hören, Ozongeruch erfüllte die Luft, und ich sah Schneeflocken aus der Tür wirbeln.

Ich lief ihm nach. Smoky musste irgendeinen Eiszauber gewirkt haben, denn sobald ich den Raum betrat, sah ich eine Schicht Eis und Schnee auf einem Dutzend Nester, die am Boden verstreut lagen. Alle waren voller Toxidämonen in verschiedenen Entwicklungsstadien. Manche wanden sich noch als Maden, wie riesige Würmer aus der Tiefsee. Andere waren schon zu ausgewachsenen Schmeißfliegen geworden, und nun erkannte ich, dass sie tatsächlich so groß waren wie mein Kopf. Aber alle bewegten sich träge, und ich sah zwei, die sich in die Luft erheben wollten, aber anscheinend die Flügel nicht schnell genug bewegen konnten.

Ein Schauder packte mich, als hätte ich einen Tiefkühler betreten. Smokys Zauber musste die Temperatur um etwa zwanzig Grad gesenkt haben und behinderte die Toxidämonen tatsächlich. Wie lange er anhalten würde, wusste ich nicht.

Viel Zeit blieb uns wohl nicht, doch im Augenblick waren wir im Vorteil.

Mit einem Blick stellte ich fest, dass die Kammer, in der wir uns befanden, groß und ganz mit Stahl verkleidet war. Beleuchtet wurde sie von einem dumpf schimmernden Granitblock am Boden in der Mitte des Raums. Der Stein glühte orangerot, und ich war sicher, dass meine Hand schwarz verkohlen würde, wenn ich ihn anfasste. Der Stein war nicht geschmolzen, schien aber kurz davor zu stehen. Allerdings hatte die Kälte diesen Prozess vorerst aufgehalten, und die Hitze geriet ins Stocken, während sie versuchte, den Frost um den Stein herum zu schmelzen.

Daneben war eine flache Grube ausgehoben worden, und in dieser Grube lag ein wildes Durcheinander von Überresten. Von was - oder vielmehr wem - genau, wusste ich nicht, aber in der Nähe eines Häufchens Knochen, an denen immer noch allzu saftige Stückchen Muskeln und Haut hingen, lag ein Tennisschuh. Ich sah andere zerfetzte Reste von Kleidung und weitere Knochen - manche glänzend sauber genagt, andere immer noch mit gut abgelagertem Fleisch daran - und musste gegen den Drang ankämpfen, meinen aufgewühlten Magen zu leeren.

»Wiedersehen, Appetit«, brummte ich.

Eine leichte Veränderung des Lichts warnte mich, und ich drehte mich mit erhobenem Dolch herum. Die Silhouette eines Mannes kam auf uns zu. Er war beinahe unsichtbar und würde wohl ganz verschwinden, falls er sich seitwärts drehte. Im leicht flackernden Licht von Morios Fuchsfeuer entdeckte ich den schwachen Schimmer eines Gesichts in den tintenschwarzen Tiefen des Schattens. Es war nicht viel mehr als ein Schädel, der mich direkt und unablässig anstarrte.

»Große Mutter Bast. Das ist ein Wiedergänger!« Ich bat die Mutter aller Katzen mit einem geflüsterten Gebet um ihren Schutz, wich zurück und prallte gegen Roz, der unmittelbar hinter mir stand.

Smoky stieß den Atem aus. »Die Kälte wird ihn nicht aufhalten. Der Frost ist für ihn höchstens eine nette Abwechslung.«

Wiedergänger waren seltene Wesen, die eher Schattenwelt und Erdwelt heimsuchten, als in den Ruinen der Anderwelt herumzugeistern, aber ich wusste, was sie waren und welche Zerstörung sie anrichten konnten. Eine einzige Berührung eines Wiedergängers reichte aus, um bei einem VBM einen Herzanfall auszulösen. Auf Feen hatten sie nicht ganz dieselbe Wirkung, doch sie konnten auch uns schweren Schaden zufügen.

Camille warf mir einen Blick zu und sah dann den Schatten an. »Was können wir nur tun?«, flüsterte sie heiser vor Angst. Sie wandte sich Morio zu.

Er packte ihre unverletzte Hand. »Reverente destal a Mor-denta.«

Sie nickte, stellte sich etwas breitbeiniger hin und schob die verletzte Hand in die Rocktasche. Ich fragte mich, ob sie nach dem Einhorn-Horn griff, doch als Morio anfing, einen Spruch zu murmeln, und sie mit einfiel, wusste ich, dass sie irgendeine Art Todesmagie ausheckten.

Smoky machte Anstalten, sie wegzuziehen, und ich hielt ihn am Ärmel zurück. Er wirbelte mit schmalen Augen zu mir herum, doch ich deutete auf den Schatten. »Wir brauchen alle Unterstützung, die wir kriegen können. Unternehmt etwas - irgendetwas!

Ich habe nichts, was gegen diese Dinger wirken würde. Ich kann nichts tun.«

Roz kramte hektisch in seinem Staubmantel herum. Vanzir schob sich vor mich, denn der Wiedergänger kam schnurstracks auf mich zu. »Mir kann er nicht allzu viel antun«, sagte er über die Schulter zu mir. »Bleib hinter mir.«

Ich stieß den Atem aus und hoffte, dass es uns gelingen würde, den Geist zu erledigen, ehe die Toxidämonen wieder auftauten. Gegen beides auf einmal kämpfen zu müssen wäre eine Katastrophe.

Ich fing Smokys Blick auf und deutete auf eines der Nester. Eine Fliege hatte den Schnee abgeschüttelt und sich schon beinahe in die Luft erhoben. Er schüttelte den Kopf.

»Diesen Spruch kann ich erst in einiger Zeit wieder verwenden. Wetterzauber sind sehr anstrengend, vor allem in meiner menschlichen Gestalt. Aber ich werde sie angreifen, falls sie in diese Richtung kommen.«

Er war nervös. Der Gedanke, dass irgendetwas dem Drachen tatsächlich Angst machen könnte, war mir noch nie gekommen, aber ein Blick in sein Gesicht sagte mir, dass seine Furcht uns galt, nicht ihm selbst. Und das machte mir nun wirklich eine Scheißangst.

In diesem Moment wirbelte Vanzir herum und versetzte mir einen Stoß, der mich quer durch den Raum schleuderte. Ich blinzelte. Was zum... ? Und dann sah ich, dass der Wiedergänger ihn attackiert und versucht hatte, um ihn herum zu greifen und mich zu packen. Während der Dämon mit dem Schatten kämpfte, glitten Vanzirs Arme einfach so hindurch, und der Geist schoss um ihn herum und kam wieder auf mich zu.

Mist! Ich befahl mir, ruhig zu bleiben, und suchte nach einem Fluchtweg. Warum interessierte sich das Ding überhaupt so für mich? Was machte mich so besonders? Als es sich auf mich stürzte, raste Smoky an mir vorbei und schlug nach ihm, doch seine klauenbewehrte Hand zischte ebenfalls einfach durch den Wiedergänger hindurch. Und dann stand ich ihm gegenüber -

dem Geschöpf aus der Welt der Schatten. Als es die Hand ausstreckte, hörte ich Camille kreischen, und alles verschwamm um mich herum. Irgendetwas geschah mit mir. Der Raum schien einzustürzen, mein Körper verzerrte sich, verdrehte sich, faltete sich zusammen, schmolz und formte sich zu neuen Knochen, Muskeln und Sehnen.

Und dann fand ich mich auf allen vieren wieder - vier große schwarze Pranken, vier Beine mit seidigem Fell -, und mein Atem stand als dicke, frostige Wolke in dem eisigen Raum.

Und er stand hinter mir. Das pechschwarze Haar fiel ihm über die Schultern, und ein Kranz aus roten Ahornblättern ruhte wie ein flammender Reif auf seinem Kopf. Seine Augen waren so, wie ich sie in Erinnerung hatte: zwei Diamanten auf schwarzsamtenem Grund. Sein Umhang - bedeckt mit einem Kaleidoskop aus Blättern und Flammen -

flatterte um seine schwarzen Stiefel. Frost fiel von seinen Fersen, und der Geruch von Friedhofsstaub, alten Büchern und knisternden Herbstfeuern hüllte mich ein. Er verstärkte seinen Griff um eine Silberkette, die, wie ich nun merkte, an einem Halsband endete. Meinem Halsband.

Der Herbstkönig wandte sich an den Wiedergänger, der sich unterwürfig vor ihm duckte.

»Kusch, du Köter«, sagte er, und seine Stimme ließ den Raum erbeben. »Meine Todesmaiden sind nicht für deinesgleichen bestimmt.«

Als der Geist zurückwich, blickte ich zu meinem Herrn und Meister auf, und er beugte sich zu mir herab. »Delilah, meine Liebe. Ich habe eine Aufgabe für dich. Und kein Geist aus der Welt jenseits des Grabes wird dich dabei stören.« Unter heiserem Lachen machte der Herbstkönig eine knappe Geste mit der Hand, und der Schatten verschwand in einem kreischenden Farbenwirbel.