Kapitel 26

 

Die Forsythia Street war eine kleine Nebenstraße im Industrial District, so weit abseits der Hauptstraßen, dass man nie darauf stoßen würde, außer man suchte danach. Ehe Menolly nach rechts auf die Straße abbog, schaltete sie die Scheinwerfer aus, und Camilles silberner Lexus wurde wahrhaftig zu einem Schatten in der Nacht, gespenstisch und lautlos. Wir glitten langsam die Straße entlang, bis Fraale auf das Haus zeigte, dann hielt Menolly ein paar Häuser weiter.

»Ich parke lieber nicht direkt davor«, sagte sie. »Da könnte jemand allzu leicht das Auto mit uns in Verbindung bringen und unseren Fluchtwagen zerstören.«

Menolly stieg aus, steckte den Autoschlüssel in die Jackentasche und zog den Reißverschluss zu. »Gehen wir. Wir müssen da rein und wieder raus, ehe Karvanak nach Hause kommt.«

Karvanak. Ich erschauerte. Je mehr ich über diesen Dämon erfuhr, desto schneller drehte es mir den Magen um, wenn nur sein Name fiel. Fraales letzte Bemerkung über die Dienerin, die ihn verärgert hatte, ging mir nicht mehr aus dem Kopf, ebenso wie das Bild dazu. Und dennoch war ich zum Teil selbst Katze - und als Katze hatte ich auch schon getötet. Sowohl aus Hunger als auch, weil es meiner Natur entsprach. Aber das hier - das war Boshaftigkeit. Pure Boshaftigkeit. Was auch immer Karvanaks Dienerin getan haben mochte, so schlimm konnte es gar nicht gewesen sein.

»Was erwartet uns da drin?«, fragte ich. »Weitere Dämonen außer dem Räksasa?«

»Blähmörgel auf jeden Fall . Mehrere von denen. Ein paar ausgewachsene Toxidämonen. Und ich weiß, dass er auch menschliche Kämpfer angeheuert hat.

Dann noch ein paar Diener, aber die meisten sind jugendliche Ausreißer, die er am Busbahnhof aufgegabelt hat. Er lässt sie anschaffen oder amüsiert sich selbst mit ihnen. Die werden uns nicht angreifen, sondern die Chance nutzen, um davonzulaufen.«

Sie zitterte und wandte sich langsam zu mir um. »Ich weiß, dass ich im Lauf der Jahre ein paar schreckliche Dinge getan habe. Das gehört nun mal dazu. Ich habe Familien zerrüttet, Männern das Herz gebrochen und die Träume von Frauen zerstört. Aber ich habe noch nie etwas so Schlimmes gesehen wie das Grauen, das sich hinter dieser verschlossenen Tür abgespielt hat.«

»Du kannst nichts für deine Natur, Fraale«, sagte Roz. »Aber nichts, was du je getan hast, reicht auch nur annähernd an den Höllenpfuhl heran, in den Karvanak seine Opfer stürzt.« Mit einem wehmütigen Unterton fügte er hinzu:

»Vergleiche dich nie mit ihm. Du kannst nicht ernsthaft glauben, du seist so verderbt wie er.«

Fraale bedachte ihn mit einem eisigen Blick. »Und woher genau willst du wissen, was ich in den vergangenen dreihundert Jahren getrieben habe? Du hast keine Ahnung. Ich könnte ebenso gut zur wahnsinnigen Massenmörderin geworden sein. Wir sind uns genau viermal begegnet, seit die Götter beschlossen, unser Leben zu zerstören, Rozurial. Und nicht einmal - nicht ein einziges Mal in all den Jahrhunderten - bist du auf den Gedanken gekommen, mich zu fragen, wie ich damit zurechtkomme. Du findest immer irgendeinen Vorwand, so schnell wie möglich wieder von mir fortzukommen.«

Rozurial bleckte die Zähne. »Lass unser gemeinsames Leben da, wo es hingehört - in der Vergangenheit. Es gibt kein Zurück. Und mit so etwas vergiften wir nur die Erinnerungen, die uns noch bleiben. Ich habe dich geliebt, als wir verheiratet waren, und ich habe dich auch geliebt, nachdem dieses Miststück Hera dich verwandelt hatte. Ich habe geweint, als du dich all mählich verändert hast. Und ich habe geweint, als Zeus mir dasselbe angetan hat. Aber du weißt so gut wie ich, dass es nie funktioniert hätte - eine Verbindung der Wesen, zu denen wir geworden waren. Ich habe geweint, bis alle Tränen versiegt waren und nur noch Leere zurückblieb.«

Fraales Gesicht verzerrte sich. »Und dann hast du mich verlassen. Du hast mich ganz allein zurückgelassen.«

»Das musste ich. Um dich zu retten. Um mich selbst zu retten. Um das zu schützen, was wir vorher miteinander hatten.« Roz ließ sich ans Auto sinken. »Du verstehst doch sicher, warum wir uns trennen mussten. Und diese Unterhaltung beweist nur, dass und warum wir einander nicht mehr so nah sein können. Zu viele Erinnerungen, zu viel Reue und zu viel Zorn. Ich konnte dich damals nicht retten, und ich kann dich auch jetzt nicht retten.«

Sie starrte ihn an. Ich glaubte, sie würde es noch einmal versuchen. Ich ging fest davon aus, dass sie jetzt die Liebeskarte ausspielen würde. Und wie hätte er ihren Tränen und ihrem Herzeleid widerstehen können? Doch sie schüttelte nur den Kopf und wandte sich dem Haus zu.

»Du hast recht. Die Götter haben gewonnen, und wir haben verloren«, sagte sie leise. »Bringen wir es hinter uns. Je eher wir fertig sind, desto schneller kann ich hier verschwinden. Und ich würde gern mit der Gewissheit gehen, dass ich nicht ständig über die Schulter schauen und mich fragen muss, ob Karvanak sich gerade von hinten anschleicht, um mir die Kehle aufzuschlitzen.«

Sie warf Menolly einen Blick zu und sagte in feindseligem Tonfall: »Es ist offensichtlich, was er für dich empfindet, aber hüte dein Herz. Er ist ein Incubus.

Er wird nie wieder jemanden lieben können, ohne ihr am Ende weh zu tun.

Incubi sind dazu geschaffen, dich zu ficken und dann zur Tür hinauszuspazieren. Das gilt auch für meine Art. Wir benutzen andere nur.«

Menolly hob klugerweise die Hände. »He, lass mich da raus. Ich habe mit alledem nichts zu tun«, sagte sie freundlich. »Was auch immer du zwischen Roz und mir vermutest, du irrst dich. Ich will nur da rein und Delilahs Freund retten, ehe er als Steak auf Karvanaks Speisekarte landet.«

Fraale runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern. »Dann los. Karvanak ist sicher schon auf dem Weg hierher.«

»Sollten wir lieber auf Camille und die anderen warten?«, fragte Zach und berührte mich sacht an der Schulter.

Ich schüttelte den Kopf. »Wir können es uns nicht leisten, hier herumzustehen und zu warten. Wir werden diesen Kampf ganz allein anfangen müssen und können nur hoffen, dass uns nicht alles um die Ohren fliegt, ehe sie hier ankommen. Ich wünschte bloß, ich hätte nicht diesen Mist an. Wird mir nicht gerade viel Schutz bieten.« Ich zerrte an einem Bein meiner Lame-Hose.

Das Haus war tatsächlich gräulich grün und drei Stockwerke hoch und ähnelte viel zu sehr der Villa der Munsters in der Mockingbird Lane. Doch statt des fröhlichen Herman erwartete uns der knallharte Karvanak.

Das Haus stand ein wenig zurückversetzt, und ein schmaler Weg aus geborstenem Beton führte zur Haustür. Durch die Risse im Zement lugte Gras hervor, und links und rechts des Wegs war der Vorgarten völlig verwildert. Laub vom letzten Winter hing an frischen Trieben der Brombeersträucher, und Farne, die der Frühling geweckt hatte.

»Wo ist er? In welchem Stockwerk ist Chase?« Als ich das Haus anstarrte, traf es mich plötzlich mit voller Wucht.

Chase war da drin. Er hatte entsetzliche Angst und einen verstümmelten Finger.

Die Götter allein mochten wissen, was die Dämonen ihm sonst noch angetan hatten. Und wir waren seine einzige Hoffnung. Ich holte tief Luft und ging den Gartenweg entlang, weil ich noch wusste, was Fraale über Fallen gesagt hatte.

Menolly und die anderen folgten mir.

»Ich glaube, er ist im Keller. Wohl der beste Ort, um einen Gefangenen festzuhalten, der nicht entkommen darf.«

»Wachen?« Ich ließ die Fingerknöchel knacken und machte mich zum Kampf bereit.

Sie schüttelte den Kopf. »Nur die, die ich schon aufgezählt habe: Blähmörgel, Toxidämonen und ein paar VBM. Aber das reicht ja wohl.«

»Ja, das ist mehr, als mir lieb ist. Die verfluchten Blähmörgel sind schwer zu töten. Das habe ich erst vor ein paar Tagen feststellen müssen.« Als wir uns der Tür näherten, warf ich über die Schulter zurück: »Die Tür, Fraale? Sprengfallen oder sonst etwas?«

»Nicht, dass ich wüsste«, antwortete sie.

»Gut. Das genügt mir.« Ich riss die Fliegengittertür aus den Angeln und versetzte dem Knauf der Haustür einen saftigen Tritt. Der Riegel brach, und ich stieß die Tür weit auf. Fraales blasse Tränen hatten mich im Innersten getroffen. Rozurial hatte seine Liebe aufgegeben und ihr den Rücken gekehrt. Ihre Beziehung war aussichtslos erschienen, und er hatte die Götter gewinnen lassen. Das würde ich Chase nicht antun. Nicht, bis ich wusste, dass er tatsächlich Schluss machen wollte. In diesem Fall würde ich höflich beiseitetreten. Ansonsten würden wir einen Weg finden.

Ich stürmte das Wohnzimmer, das teuer, wenn auch geschmacklos protzig eingerichtet war. Die anderen drängten hinter mir herein und fächerten sich sofort auf.

»Wo ist der Keller?«, fragte ich, hielt aber inne, als drei große, stämmige, in Leder gehüllte Männer den Raum betraten. Sie sahen nicht magisch aus, aber so etwas konnte täuschen. Sie trugen Schwerter, die schwach bläulich schimmerten.

Verzauberte Klingen. Gut geeignet, um Geschöpfe wie die Toxidämonen in Schach zu halten, gegen die Schusswaffen vermutlich nichts nützten. Auch gut dafür geeignet, Arme und Beine abzuhacken.

Ich holte tief Luft und - o Scheiße! Mein Dolch! Ich hatte meinen Dolch nicht eingesteckt. Ich hatte ihn zu Hause vergessen! Wie konnte ich nur ..

»Kätzchen! Fang!«

Ich wirbelte herum, als Camille, Morio und Vanzir gerade hereinstürmten.

Camille warf mir meinen Dolch zu. »Dachte, den könntest du brauchen«, sagte sie und musterte die Männer vol er Vorfreude. »Sieht aus, als hätten wir jemanden zum Spielen«, fügte sie noch hinzu und erstarrte dann. Ich konnte die Energie wie einen Wirbel um sie herum spüren. Na prima - fehlgezündete Zauber, vorwärtsmarsch! Aber wenn sie klappten, klappten sie ganz gewaltig.

Ich fing den Dolch am Griff auf und lächelte ihr strahlend zu. »Ich hab dich auch lieb! Also los!«

Die Männer rannten mit einem Glitzern in den Augen auf uns zu. Ich wusste, dass das Glitzern perverse Freude bedeutete, denn ich erkannte das Aussehen -

und das Gefühl. Adrenalin pumpte durch meine Adern, als ich vorstürmte und mir zum wiederholten Mal dringend Jeans und ein Tanktop wünschte. Doch alle Gedanken an meine Kleidung verflogen, als ich mich ins Getümmel stürzte.

Links von mir schwang Roz mit einer Hand eine fies aussehende, gezahnte Klinge. Auf meiner rechten Seite nahm sich Menolly mit gebleckten Reißzähnen und glühenden Augen einen der Biker vor. Ich konnte hören, wie Morio zu Camille sagte: »Lass es - spar dir die Magie auf. Mit den dreien werden sie schon fertig, und wir werden all unsere Kräfte für Karvanak brauchen.«

Und dann war ich mitten im Kampf. Die Klinge meines Gegners war lang, gekrümmt und mit Blut bespritzt. Als ich den Dolch hob, um seinen Hieb abzuwehren, fragte ich mich, wie viele Männer er wohl schon getötet hatte. Wie viele Frauen? Ich brachte mein ganzes Gewicht hinter den Dolch und schubste ihn zurück. Er taumelte, fing sich aber und führte einen tiefen Schlag. Ich hüpfte hoch und spielte Seilspringen mit dem Schwert, das unter meinen Füßen vorbeizischte. Im nächsten Moment machte ich einen Salto wie Bruce Lee, flog über seinen Kopf hinweg und landete hinter ihm, den Dolch kampfbereit in der Hand.

Verblüfft fuhr er herum. Ich nutzte seine Verwirrung aus, sprang noch einmal hoch, wirbelte herum und traf mit dem Stiletto-Absatz mitten in seinen Schwertarm. Der Absatz drang durch die Lederkluft und die Haut und bohrte sich tief in die Muskeln seines Oberarms.

O Scheiße! Mein Absatz steckte in seinem Arm fest, ich kam nicht mehr los. Ich rüttelte kräftig mit dem Fuß und zog dabei einen langen, hässlichen Riss seinen Arm entlang, und er kreischte, dass es im ganzen Raum widerhallte. Als er sich zurückwarf, bekam ich endlich meinen Stiefel frei, stolperte, rollte mich ab und kam geduckt wieder auf die Beine.

»Scheiße! Miststück!« Mein Gegner litt offensichtlich große Schmerzen. Er war am Ausrasten, und ich würde ihn endgültig überschnappen lassen. Kleine Kampflehre: Wenn man einen Gegner allzu sehr reizt, vergisst er oft die Vernunft und macht Fehler.

Ein Lächeln breitete sich über mein Gesicht, ich richtete mich auf und klatschte mit der flachen Klinge in meine Hand. »Komm schon, Kleiner. Willst du dich etwa von einem Pussykätzchen verprügeln lassen?« Mit höhnischem Grinsen warf ich ihm eine Kusshand zu. »Ich würde dir ja anbieten, dir einen zu blasen, aber dein Schwanz muss kürzer sein als mein kleiner Finger, und ich mag einfach keine Shrimps.«

O ja, das reichte. Er kam in vollem Lauf auf mich zu, hob brüllend das Schwert über den Kopf und ließ damit seinen Oberkörper ungeschützt.

Das Problem bei dieser Berserker-Nummer, dachte ich, ist, dass sie einen erwachsenen Mann unglaublich dumm machen kann. Ich holte aus, ließ meinen Dolch pfeifend durch die Luft sausen, und der landete mitten in seinem Herzen. Als ich ihm auswich, merkte er plötzlich, dass er in diesem Leben nirgendwo mehr hingehen würde. Das Schwert fiel ihm aus der Hand und landete hinter ihm scheppernd auf dem Boden. Er blickte auf seine Brust hinab, betrachtete das Blut, das unter der Dolchklinge hervorsickerte, und schaute dann verwundert zu mir auf.

Der Kupfergeruch von Blut stieg mir in die Nase, und mir lief unwillkürlich das Wasser im Mund zusammen. So plötzlich, als wäre ich durch eine Tür getreten, spürte ich sie hier, wach und aufmerksam: Die Raubkatze wollte von der Kette gelassen werden. Der Mann war dem Tod nahe, und die Todesmaid in mir jubelte, als er dahinschied.

Ich riss meinen Dolch aus seiner Brust, als er langsam nach vorn kippte. Sein Blick heftete sich an meinen, und ich sah den Schock und die Verständnislosigkeit, die seine letzten Gedanken begleiteten. Und dann fiel er plötzlich nieder und lag still. Er war tot.

Ich starrte auf den Leichnam vor mir und versuchte, so etwas wie Bedauern in mir zu erspüren, aber ich konnte nur daran denken, dass wir Chase finden mussten und dass dieser Mann vielleicht derjenige gewesen war, der Chases Fingerspitze abgehackt hatte. Ich wischte die Klinge an seinem Rücken ab und wandte mich um, um den anderen zu helfen.

Roz hatte seinen Gegner schon niedergemacht und Menolly ihren ebenfalls erledigt. Vorerst waren wir also wieder unter uns.

Camille hob das Schwert eines der Männer auf. »Die können wir vielleicht noch gebrauchen. Das ist kein Eisen -irgendeine Legierung. Der Zauber soll sie nur stärker und tödlicher machen. Ich glaube nicht, dass diese Kraft gegen eine bestimmte Rasse oder Art gerichtet ist.« Sie warf Morio ein Schwert zu, Roz das nächste, und mir bot sie das dritte an. Ich nahm es und starrte die leicht geschwungene Klinge an.

»Ich weiß nicht, ich bin meinen Dolch gewohnt. Damit könnte ich schlecht rennen. Andererseits ist es nützlich, um sich Leute auf Armeslänge vom Leib zu halten. Vanzir, willst du es haben?«

Vanzir nahm die Klinge mit einer Gier an, die ich selten auf seinem Gesicht gesehen hatte. »Damit werde ich ihm das Herz aus der Brust schneiden«, knurrte er, und ich wusste, dass er von Karvanak sprach.

Er nahm das Schwert und wirbelte es durch die Luft. Offensichtlich kannte er sich damit bestens aus, denn es brachte die Luft förmlich zum Singen.

Ich warf Morio einen Blick zu. »Du hast in dieser Tasche nicht zufällig ein paar Klamotten, die du entbehren könntest, oder?«

Er lächelte. »Du gefällst dir wohl nicht als Glitzerschlampe? Ich habe nur einen Karateanzug da drin. Die Hose ist dir sicher zu kurz, aber insgesamt bestimmt besser als das, was du jetzt trägst.« Er zog den Reißverschluss an seiner Tasche auf und warf mir eine schwarze Hose und eine weiße Jacke zu, und dann noch einen Gürtel, ebenfalls schwarz.

»Danke«, sagte ich und riss mir die Folterklamotten herunter. Alle starrten mich an. Ich war unter dem Goldlame splitternackt. »Ihr könnt mich begaffen, so viel ihr wollt, im Augenblick ist mir das scheißegal. Ich will nur raus aus diesem dämlichen Ding und etwas anziehen, das mir nicht in die Pofalte kriecht.«

Camille lachte. Ich zog hastig die Hose hoch, die an meinen Schienbeinen endete, und band mit dem Gürtel das Oberteil zu. »Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte sie.

»Viel besser. Das Material ist außerdem dicker und schwerer als dieser Mist da«, fügte ich hinzu und versetzte dem nuttigen Glitzer-Outfit einen Tritt. »Und wenigstens kann meine Haut wieder atmen.«

»Nimm die Sachen trotzdem mit«, sagte Camille warnend. »Morio, pack die Hose und das Top in deine Tasche. Ihr Geruch und ihre Essenz haften daran, und so etwas darf verdammt noch mal niemandem in die Hände fallen, der Magie wirken kann.«

» Gut mitgedacht«, sagte er und hob die Sachen auf. Er stopfte sie in seine Tasche und zog den Reißverschluss wieder zu.

»Okay, suchen wir Chase. Wir haben immer noch einen Haufen Blähmörgel und Toxidämonen vor uns.« Ich führte die anderen in den Flur, der vom Wohnzimmer abging. Das Haus erinnerte mich an das, in dem wir die Toxidämonen gefunden hatten, es war nur besser in Schuss. Außerdem würden wir hier wahrscheinlich kein Portal finden - dazu war die Energie nicht stark genug. Jedenfalls hoffte ich das.

Ich öffnete jede Tür, an der wir vorbeikamen. Im ersten Raum fanden wir hohe Stapel kostbarer Teppiche: handgewebte Wolle, sehr schön. Das nächste Zimmer war ein Bad, das dritte ein Schlafzimmer. Es war opulent eingerichtet und dekoriert und roch nach dem Räksasa. Ich wollte gerade über die Schwelle treten, als Camille mich zurückhielt.

»Banne - starke Banne. Die würden dir den Kopf wegblasen, wenn du da reingehst. Suchen wir erst mal Chase und bringen ihn hier raus.« Sie zog mich von der Tür zurück, und ich nickte und sah mich um.

»Wo geht es in den Keller, Fraale?« Ich wollte keine Zeit verlieren, indem ich wie ein kopfloses Huhn herumlief. Camille hatte recht: Rein, Chase rausschaffen, und dann den Rest samt Karvanak erledigen.

»Siehst du die Tür da drüben - die aussieht, als würde sie einfach in ein weiteres Schlafzimmer führen?« Sie zeigte auf eine Tür hinter dem bogenförmigen Durchgang am Ende des Flurs. »Da geht es runter. Der Keller ist nicht ausgebaut, sehr kalt und feucht. Ich habe keine Ahnung, wo die Toxidämonen sind. Karvanak hat unmissverständlich klargemacht, dass sie da unten nicht losgelassen werden dürfen. Diese Biester sind hirnlos und hätten deinen Detective einfach als angerichtetes Büffet betrachtet.«

Aber Blähmörgel waren nicht hirnlos... gefährlich, ja. Ekelhaft, definitiv. Aber hirnlos? Nein. Ich griff nach dem Türknauf.

»Passt auf. Ich vermute, dass die Blähmörgel da unten sind. Geht auf keinen Fall ungeschützt rein. Übrigens, Roz hat mich davor bewahrt, von dem Blähmörgel gegrillt zu werden, der neulich auf unserem Grundstück war. Denkt also daran, dass sie Feuer spucken können.«

Als ich die Tür öffnete, trieb uns ein fauliger Geruch entgegen. O ja, Blähmörgel-Gestank. Wunderbar. Ein rotes Augenpaar glomm in der Dunkelheit unter mir.

Das sind todsicher keine Katzenaugen, sagte ich mir. Ich beschloss, Han Solo zu spielen, stieß einen Schrei aus und rannte in vol em Lauf die Treppe hinunter.

Dabei brüllte ich aus voller Kehle und fuchtelte mit dem Dolch herum wie ein Berserker.

Anscheinend hat blinder, unkluger Wagemut doch so seine Vorteile, denn ich landete einen Treffer in den Bauch des elenden Ekels, ehe es sich aus seiner Verblüffung reißen und ausweichen konnte.

Das war ein Blähmörgel, kein Zweifel, und er sah aus, als hätte er vor Schreck die Zunge verschluckt. Ehe er dazu kam, den Mund zu öffnen, hob ich den Dolch und rammte ihn dem Biest ins Auge. Seine Haut mochte zäh sein, aber seine Augen waren es nicht, und ich stieß den Dolch tief hinein. Grüner Schleim spritzte hoch und traf mich.

»Igitt.« Ich verzog das Gesicht. Eklig, ja, aber ich hatte jetzt keine Zeit, mir Gedanken darum zu machen, ob das Zeug Flecken auf Morios Karateanzug hinterlassen würde. Keine Zeit, mir um irgendetwas Gedanken zu machen. Ich lief auf Autopilot: Feind aufspüren und vernichten. Den tapferen Ritter retten, der im Verlies dieses Schlosses gefangen war. Jegliches Gefühl von Reue oder Zögern war längst verflogen, und mein Körper wurde von Adrenalin und Instinkt vorangetrieben.

Ich sprang auf die Füße, als die anderen den Fuß der Treppe erreichten. Wo war das nächste kleine Ekel?

Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr und wirbelte gerade rechtzeitig herum, um zu sehen, wie ein zweiter Dämon das Maul aufriss und einen Feuerstoß ausspie, der Vanzir mitten in den Bauch traf. Vanzir zuckte mit keiner Wimper, und ich fragte mich, woraus zum Teufel Traumjäger eigentlich bestanden. Wir hatten ihn noch nie in seiner natürlichen Gestalt gesehen, immer nur in dieser menschlichen Form. Er knurrte tief in der Kehle und griff an. Sein Schwert traf den Blähmörgel am Arm und brachte ihm einen netten, tiefen Riss bei, ehe die Klinge wieder abprallte. Mann, waren diese Biester zäh!

»Weg da«, sagte Morio und hörte sich ein wenig an wie Smoky. Er verwandelte sich. Binnen Sekunden war er nicht mehr eins siebzig, sondern zwei Meter vierzig groß. Nase und Kinn verlängerten sich zu einer Schnauze, und von seinen Reißzähnen troff der Geifer. Ich starrte ihn an, wie immer beeindruckt von seiner Yokai-Gestalt. Im Gegensatz zu Werwesen blieb er beim aufrechten, zweibeinigen Gang, wenngleich sein Kopf vage fuchsartig wirkte. Sein Körper war mit flaumigem, rötlichem Fell bedeckt, Hände und Füße blieben menschenähnlich. Doch seine Augen spiegelten Morios Wesen durch und durch.

Alles in allem konnte er einem eine Scheißangst einjagen.

Ehe das Biest ihn angreifen konnte, packte Morio es mit beiden Händen um den Hals und schleuderte es gegen die Wand. Das Haus erbebte, und der Blähmörgel stieß ein ersticktes Gurgeln aus und sackte zu Boden. Morio wandte sich zu Camille um, und sie nickte.

In diesem Moment entdeckte ich die Tür am anderen Ende des Kellerraums.

Chase war da drin; er musste dort sein. Ich rannte auf die Tür zu, ohne auf weitere Dämonen zu achten. Als meine Hand den Türknauf berührte, hörte ich Lärm hinter mir und blickte über die Schulter zurück. Menolly und Morio hatten sich einen weiteren Blähmörgel vorgenommen und benutzten ihn als Volleyball. Ich ignorierte sie - die wurden schon mit ihm fertig - und riss die Tür auf.

Ich schaltete das Licht an, und Kakerlaken huschten in alle Richtungen davon.

Der Raum war klein, nicht viel mehr als eine Besenkammer. An die Rückwand war ein Käfig angebaut, eigentlich eher eine Zelle, mit Gitterstäben vom Boden bis zur Decke. Eine einzelne, nackte Glühbirne hing von der Decke und erhellte den Raum mit ganzen vierzig Watt. Das Zimmer war leer, bis auf einen Stuhl in der Nähe der Zellentür. Eine schmierige Schmutzschicht bedeckte die Wände. Hier drin stank es nach Scheiße, Blut und verdorbenem Essen.

Ich schluckte den Kloß hinunter, der sich in meiner Kehle bildete, und trat vor, den Blick auf die Zelle geheftet. In der Ecke, unter einer dünnen Decke auf einer Matratze zusammengekauert, saß mein Chase. Mein liebster Chase.

Er hob den Kopf und blickte mit glasigen Augen um sich. Als er mich sah, breitete sich ein ungläubiger Ausdruck über sein Gesicht, und er begann zu weinen.

»Chase! Chase!« Ich rüttelte an der Zellentür, doch sie war verschlossen. »Warte.

Ich hole jemanden, der die Stangen auseinanderbiegen kann.« Ich eilte in den großen Kellerraum zurück. Ein dritter Blähmörgel war inzwischen tot. »Menolly, du musst die Gitterstäbe auseinanderbiegen. Ich habe Chase gefunden.«

Menolly flog buchstäblich zu mir herüber, ihre Füße berührten kaum den Boden.

Sie raste in die Kammer. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Ekel, als sie sich umsah, doch dann konzentrierte sie sich ausschließlich auf Chase. Sie packte die Gitterstäbe und begann, sie auseinanderzuziehen.

»Warte!« Morio platzte herein, wieder in seiner menschlichen Gestalt. »Lasst mich vorsichtshalber noch einen Desillusionierungszauber sprechen.« Helles Licht erfüllte den Raum, als er den Zauber wirkte, doch niemand entpuppte sich als irgendjemand anders.

Menolly machte sich sofort wieder an die Arbeit, und die Stangen kreischten, während sie sie langsam auseinanderbog. Die Haut an ihren Händen warf Blasen - in den Stangen musste Eisen sein -, doch sie zögerte nicht und zeigte auch keinen Schmerz. Bald war die Lücke so breit, dass sie hindurchschlüpfen konnte.

»Lass mich das machen. Ich bin stärker als du und kann ihn problemlos tragen.«

Ohne ein weiteres Wort trat sie durch die Lücke, kniete sich neben Chase und sprach leise mit ihm. Er nickte, sie half ihm auf und hängte sich den Mann, der einen guten Kopf größer war als sie, praktisch über die Schultern. So trug sie ihn zum Gitter.

Ich nahm seinen Arm und half ihm aus der Zelle. Der blutige Stumpf des abgehackten Fingers sah entzündet aus.

Ich musste mich beherrschen, um nicht in Tränen auszubrechen. Ich musste für ihn stark sein. Ich musste sein sicherer Anker sein. Die Götter mochten wissen, wie verängstigt und verloren er sich im Augenblick fühlte.

Als er sich zitternd und bleich an das Gitter lehnte, flüsterte er: »Delilah, es tut mir so leid... tut mir so leid... «

Ich presste ihm die Fingerspitzen an die Lippen. »Psst. Schon gut. Wir können später darüber reden. Jetzt müssen wir dich erst mal hier herausschaffen und deine Wunden versorgen.« Ich schlang ihm einen Arm um die Taille und führte ihn aus dem beengten Raum. Camille schnappte nach Luft, als sie ihn sah, blieb aber auf meinen warnenden Blick hin stehen, wo sie war.

Zach trat vor. Chase starrte ihn an. Sein Blick wirkte völlig erschöpft, er sah aus, als wäre er einmal in die Hölle und zurück geschleift worden, und ich konnte nur darum beten, dass der abgetrennte Finger das Schlimmste war, was Karvanak ihm angetan hatte. Chase sah mich an, dann Zach.

»Du hast... du... ich verstehe...«

Wieder drückte ich ihm den Zeigefinger an die Lippen. »Psst. Nichts ist so wichtig, dass wir jetzt gleich darüber reden müssten. Wir müssen dich hier wegbringen, ehe Karvanak zurückkommt... «

Angst flackerte in Chases Augen auf. »Er ist nicht tot?«

Ich wollte ihm gerade antworten, als eine Stimme von der Treppe für mich sprach.

»Nein, sie haben es noch nicht geschafft, mich zu töten«, sagte die Stimme. »So, wie du es nicht geschafft hast, dich gegen mich zu wehren. Du hast dein Bestes getan, kleiner Detective, aber du konntest rein gar nichts unternehmen, als ich dich gezwungen habe, mir die Füße zu küssen.«

Karvanak stand da in seinem Calvin-Klein-Anzug und polierten Schuhen, die Grausamkeit in seinem Blick hinter einer breiten Sonnenbrille verborgen. Das Licht schimmerte auf seinem rasierten Kopf, und er lächelte mir sacht zu.

»Fräulein Katze, du hast mein Spielzeug gestohlen. Weißt du denn nicht, wohin Neugier Katzen führt? Ich werde es dich wohl lehren müssen. Und Fraale, du wagst es, dich gegen mich zu wenden? Du und Vanzir, ihr werdet lange, lange in der Hölle leben, und ihr werdet jeden Augenblick jedes Tages bereuen, an dem ihr noch atmet.«

Und dann erschien hinter ihm ein großer Mann. Er trug ein langes schwarzes Gewand und hatte vage chinesische Züge. Doch es war schwer, seine Herkunft einzuschätzen. Dies war kein Biker, kein VBM-Schläger. Nein, er strahlte Macht in gewaltigen Wogen aus und löste in meinem Inneren einen Alarm aus, so laut, dass ich glaubte, schreien zu müssen.

Und dann wusste ich es - irgendwoher wusste ich es einfach. Ich starrte das Wesen an, das so menschlich aussah, aber so weit von der Menschlichkeit entfernt war, dass es keine Mitte zwischen diesen beiden Extremen geben konnte. Er war ein Falxifer, beschworen aus den tiefsten Eingeweiden der Schattenwelt. Ein Sensenmann.

Karvanak schaute erfreut drein. »O ja, fürchte dich ruhig. Ich weiß, wer du bist, Todesmaid, und ich weiß, dass du noch jung bist. Du hast keine Chance gegen einen Falxifer, und deine Freunde ebenso wenig.«

Ich stand da wie erstarrt. Die Tätowierung auf meiner Stirn drehte sich pulsierend als Antwort auf das Erscheinen dieses Schattenwesens.

Ohne den Blick von ihm abzuwenden, sagte ich zu den anderen: »Falxiferi entstammen dem Reich des Todes, dem Reich der Schnitter. Das sagt mir mein Innerstes. Ich kann ihn fühlen. Keiner von euch kann gegen ihn kämpfen - nur ich. Und auch nur deshalb, weil ich eine direkte Verbindung zum Reich der Schatten habe. Sollte ich fallen, lauft. Denn ich garantiere euch, wenn dieses Ding da euch berührt, wird es euch das Herz herausreißen und als kleinen Snack verschlingen.«

Und so standen wir eine scheinbare Ewigkeit lang herum und warteten auf diesen Augenblick, wenn der Damm bricht und die Schlacht beginnt.