Kapitel 16

 

Ein Knistern warnte uns vor, dass wir nun ein Energiefeld betraten, und dann waren wir ohne weiteres schon hindurch. Es war ganz anders als bei den Portalen in die Anderwelt.

Ich fuhr herum und sah zu meiner großen Erleichterung Camille und Smoky dastehen, die uns besorgt nachschauten. Morio hob die Hand und winkte. Ich winkte zurück.

»Kannst du mich noch sehen?« Camille lachte. »Ja, den Göttern sei Dank. Wir kommen durch.« Sie traten durch den Bogengang, und ich hörte ein leises Zischeln wie von Funken, doch nichts geschah, und binnen Sekunden waren wir wieder beisammen.

Die Höhle war riesig. Ich vermutete, dass wir ein, zwei Schritte links von der Erdwelt standen - nicht so weit weg, dass wir vol kommen von der Heimatwelt unserer Mutter getrennt wären, aber wir befanden uns quasi in einer seltsamen kleinen Nische. Selbst mit meinen scharfen Augen konnte ich das andere Ende der Höhle kaum sehen. Der dunkle Grund der Schlucht war in Nebel gehüllt, so dass man nicht erkennen konnte, wie tief sie wirklich war.

Die Luft hier war kühler und feuchter als in den Stollen, das merkte ich trotz meiner Jacke. Ich borgte mir Roz' Taschenlampe, ging zur Höhlenwand und leuchtete den Fels an. Er war nass und glitschig von dem Wasser, das an den Höhlenwänden herabtropfte, und mit Flecken von Viromortis-Gallerte bedeckt. Hier hatte der Schleim einen violetten Schimmer, und ich achtete sorgsam darauf, dem fleischfressenden Ektoplasma nicht zu nahe zu kommen.

»Ich glaube, wir sind schon fast am Ziel. Wenn das Geistsiegel von Gespenstern oder Wiedergängern oder was auch immer bewacht wird, sind vermutlich eine ganze Menge von ihnen hier, oder sie sind sehr mächtig, denn dieser Schleim ist überall. Ich freue mich nicht gerade darauf... « Ein Geräusch ließ mich mitten im Satz verstummen.

Ich trat von der Wand weg, und wir alle lauschten gespannt. Nach einer nervenaufreibenden Sekunde des Wartens kamen links von uns Menolly und Vanzir um eine Ecke.

Ich stieß seufzend den Atem aus und entspannte mich. »Dem Himmel sei Dank. Wir wollten uns gerade auf die Suche nach euch machen. Was habt ihr gefunden?«

Menollys Augen waren weit aufgerissen und glühten rot. »Wir haben die Kammer mit dem Geistsiegel entdeckt, aber es ist gut bewacht. Da ist ein Schatten. Wahnsinnig gefährlich. Aber ehe wir überhaupt an ihn herankommen, müssen wir uns durch mindestens ein halbes Dutzend Totenmänner kämpfen.«

Totenmänner. O Scheiße. Totenmänner waren fiese Biester. Sie standen mit einem Fuß in der Schattenwelt und mit dem anderen im Grab und gehörten wahrhaftig zu den wandelnden Toten. Sogar Vampire machten einen großen Bogen um sie, weil Totenmänner so bösartig waren. Sie glichen eher Tieren als intelligenten Lebewesen.

Hinterlistig und unersättlich waren sie in ihrer Gier nach Fleisch und Geist. Im Gegensatz zu einem Schatten, der den Geist von Lebewesen verschlang, oder Zombies, die nur dessen Körper fraßen, ernährte ein Totenmann sich von beidem.

Sie sogen den Geist aus Knochen und Muskeln, und das meist, während das Opfer noch am Leben war. Es gab auch Totenmänner in der Anderwelt, vor allem in den finsteren vulkanischen Gebirgen des Südlichen Ödlands und den Gebieten weit nördlich des hohen Nebelvuori-Gebirges, doch sie näherten sich sehr selten besiedelten Landstrichen, sondern ernährten sich meist von Tieren und der Handvoll Reisender, die sich in die Gebirgspässe vorwagten.

Camille räusperte sich. »Tja, wissen wir denn, was einen Totenmann umbringt?«

»Drachenhauch«, grollte Smoky. »Aber wenn diese Kammer nicht genauso groß ist wie die Höhle hier, werde ich mich darin nicht verwandeln können, und ich bezweifle, dass sie zu uns herauskommen werden, und wenn wir sie noch so freundlich darum bitten.«

»Ist sie nicht«, sagte Menolly. »Ein schmaler, niedriger Gang führt in eine ziemlich kleine Höhle. Da ist reichlich Platz für sie und uns, aber nicht für einen Drachen. Totenmänner sind untot. Morio, wenn du irgendeinen nekromantischen Spruch draufhast, mit dem man die Toten abwehren oder in echte Tote verwandeln kann, wäre der ganz hilfreich.«

Wir alle wandten uns dem Yokai zu, der einen Blick mit Camille wechselte. Sie nickte leicht, und er sagte: »Daran haben wir in letzter Zeit gearbeitet. Ich weiß aber nicht, ob er bei einem Totenmann wirken wird. Wir haben den Zauber nie richtig ausprobiert, außer an ein paar Gespenstern in den bekannten Spukhäusern in Seattle... «

»He - Augenblick mal«, sagte ich. »Ihr beide seid in Seattle herumgeschlichen und habt heimlich Geister exorziert?«

»Nicht direkt«, sagte Camille. »Wir haben erst vor ein paar Wochen mit der Arbeit an diesem Zauber angefangen. Bisher ist es uns gelungen, ein paar fiese Geister aufzulösen, die Ärger gemacht hatten. Wir wollten euch aber nichts davon erzählen, solange wir nicht sicher waren, dass wir den Zauber hundertprozentig draufhaben. Und so weit sind wir noch nicht.«

»Nein, aber verdammt nah dran«, erwiderte Morio, dessen Augen bernsteingolden leuchteten. Er stieß den Atem aus. »Ihr könnt ebenso gut jetzt erfahren, dass ich vorhabe, Camille in ein paar Monaten zu zeigen, wie man Geister beschwört, aber vorher muss sie lernen, sie zu bannen, falls etwas schiefgehen sollte. Daran genau haben wir also gearbeitet. Wie man Gespenster bannt. Aber wie der Zauber bei Totenmännern wirken wird, weiß ich nicht genau. Vielleicht überhaupt nicht, vielleicht nützt er uns aber auch.«

Ich starrte die beiden ebenso entgeistert an wie alle anderen. Alle außer Smoky, um genau zu sein. Er blickte zur Decke hinauf, und mich beschlich der Verdacht, dass er genau wusste, was die beiden getrieben hatten. Ich wechselte einen Blick mit Menolly, und sie zuckte mit den Schultern.

»Ihr beiden beschäftigt euch wirklich ausgiebig mit dieser ganzen Todesmagie, was?« Da ich nicht recht wusste, was ich eigentlich fragen wollte, sagte ich schließlich nur: »Warum?«

Camille seufzte tief. »Letztendlich wird mich die nekromantische Arbeit dahin bringen, dass ich lernen kann, Magie gegen die Dämonen einzusetzen. Morio wird mir beibringen, wie ich ihre eigene Magie gegen sie wenden kann. Wie man Dämonentore öffnet, Pentagramm-Schlingen auslegt und so weiter.«

»Dämonische Riten? Du willst dämonische Magie praktizieren? Geht das nicht ein bisschen zu weit?« Die Hände in die Hüften gestemmt, wirbelte ich zu Menolly herum. »Sag ihnen, dass das keine gute Idee ist. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was diese Art Energie ihr antun wird. Sie hat doch schon das Einhorn-Horn. Warum konzentrieren sie sich nicht darauf?« Bei der Vorstellung, dass meine Schwester die schmutzige, widerliche Magie ausübte, die nur Dämonen benutzten, wurde mir schlecht.

Doch Menolly schüttelte ungerührt den Kopf. »Lass es gut sein, Kätzchen. Mit schmutzigen Tricks kann man eine Schlacht gewinnen. Glaub mir, wenn ich lernen könnte, wie man die Magie der Dämonen auf sie selbst zurückwirft, würde ich es sofort tun. Aber ich habe nun mal keinerlei magische Begabung. Ich finde, wir sollten uns über alles freuen, was uns einen Vorteil gegenüber Schattenschwinge und seinen Armeen verschafft. Wer weiß, was diese wilden Portale noch anrichten werden? Vielleicht öffnen sich bald auch welche in die Unterirdischen Reiche, und dann bekommen wir es überall mit Dämonen zu tun, ganz unabhängig von den Geistsiegeln.«

Ich schwieg. In meinem Hinterkopf konnte ich Hi'ran lachen hören. Der Herbstkönig war meine Form dämonischer Magie. Und Menolly - was mochte wohl als Nächstes mit ihr geschehen? Welchen Pfad würde uns dieser Krieg, den keine von uns gewollt hatte, noch aufzwingen?

»Ich verstehe«, sagte ich und spürte, wie ein weiterer Faden zerriss, der mich mit meinem naiven, optimistischen Selbst von vor ein paar Monaten verbunden hatte. »Also, zurück zu unserem jetzigen Problem. Könnt ihr diesen Gespensterschreck-Zauber bei den Totenmännern ausprobieren?«

»Ich bezweifle, dass er viel nützen wird«, sagte Morio. »Er wird jedenfalls nicht dafür sorgen, dass sie tot umfallen, das kann ich dir garantieren. Wir werden einen heftigen Kampf bekommen, also schlage ich vor, dass alle die Waffen bereithalten. Und passt auf diesen Schatten auf. Schatten sind nicht so gefährlich wie Wiedergänger, aber sehr viel mächtiger als Gespenster. Ihre Berührung vertreibt alle Wärme aus eurem Körper, so dass ihr in euren Stiefeln erfriert. Aber wir werden vermutlich mit ihm fertig.«

»Berühmte letzte Worte«, brummte Smoky. »Bringen wir es endlich hinter uns.«

Menolly und Vanzir führten uns in einen schmalen Gang, der links von der Haupthöhle abzweigte. Ich fragte mich, was am Grund dieser Schlucht liegen mochte. Es war schon lange her, seit wir zuletzt nur zum Vergnügen eine Wanderung unternommen hatten.

Wenn dies alles vorbei war, sollten wir vielleicht mal hierher zurückkommen und sie uns näher ansehen.

»Am Ende dieses Tunnels liegt die Kammer mit den Geistern«, erklärte Menolly und blickte über die Schulter zurück, während wir dem gewundenen Gang folgten und darauf achteten, ja nicht die Wände zu berühren, wo dicker Schleim nur darauf wartete, dass wir genau das taten.

»Weiter hinten liegt noch eine Kammer. Da ist das Geistsiegel, bewacht von dem Schatten«, fügte sie hinzu. »Ich habe das Gefühl, dass er uns nicht angreifen wird, ehe wir die Totenmänner ausgeschaltet haben. Er scheint mir eher ein Hüter des Siegels zu sein.

Und das führt mich zu der Vermutung, dass er der Geist einer Person ist, die vor Jahrhunderten in den Besitz des Geistsiegels gelangte und es als ihre Pflicht ansieht, auch nach ihrem Tod bei dem Siegel zu bleiben und es zu schützen.«

»Das würde einiges erklären«, sagte Morio. »Schatten sind oft selbsternannte Hüter. Ob es um einen Ort geht, ein Objekt oder sogar eine andere Person, spielt im Grunde keine Rolle. Wenn derjenige einmal im Besitz des Geistsiegels war, hat er womöglich erkannt, wie groß dessen Macht ist - wenn er auch nicht ahnen konnte, was genau es ist - und dass es besonderen Schutz braucht.«

»Was ist mit den Totenmännern?«, fragte ich. »Wie passen die ins Bild, angenommen du und Menolly habt recht?«

»Schatten können Totenmänner beschwören«, warf Smoky ein. »Sie können sie aus der Schattenwelt herbeirufen.«

Morio blieb stehen und hob die Hand. »Darüber sprechen wir lieber noch, ehe wir reingehen. Totenmänner können auch von einem Schamanen oder Nekromanten erschaffen werden, der die Macht besitzt, die Toten aufzuwecken. Womöglich besaß der Schatten zu Lebzeiten die Macht, den Toten neues Leben einzuhauchen. Totenmänner sind bessere Wachhunde als Zombies und schwerer zu erschaffen. Falls unser Geist sie also beschworen hat, sollten wir uns auf einen gewaltigen Showdown gefasst machen.«

Ein nagender Gedanke drängte sich aus meinem Hinterkopf nach vorn, obwohl ich ihn eigentlich lieber nicht bemerkt hätte. »Was, wenn der Schatten auch jetzt noch die Macht besitzt, Totenmänner zu beschwören? Was, wenn der Schatten immer noch ein Nekromant ist? Verschwinden magische Kräfte denn einfach so, wenn man stirbt?«

Obwohl meine Schwester eine Hexe war, kannte ich mich in den Einzelheiten des zauberhaften Lebens nicht so gut aus.

Camille runzelte die Stirn. »Normalerweise schon. Wenn die Seele reinkarniert, kann es auch passieren, dass die magischen Fähigkeiten mit durchkommen, vor allem, wenn sie der Seele angeboren waren. Wenn das geschieht, können sie offenkundig oder latent sein.«

»Aber es ist möglich? Theoretisch?« Ich wusste nicht recht, warum mir das so wichtig erschien, doch ich lernte immer mehr, auf meine Intuition zu vertrauen. Camille vertraute ihren Instinkten sehr, und ich bemühte mich, ihr nachzueifern. Menolly schwor hoch und heilig, dass sie keine Intuition besaß, aber ich war ziemlich sicher, dass das nicht stimmte.

Sie hatte sie nur noch nicht erkannt.

Morio meldete sich zu Wort. »Ja, theoretisch kann das vorkommen. Aber Camille hat recht; so etwas geschieht sehr selten. Trotzdem, wir könnten es mit genau dieser Situation zu tun haben, und dann stecken wir knietief in der Scheiße, denn wenn der Schatten in der Lage ist, neue Totenmänner herbeizuholen, kann er den Boden mit uns aufwischen.«

»Kein angenehmer Gedanke.« Menolly warf mir einen Blick zu. »Kätzchen, ich hoffe, dass du dich irrst, aber wenn man die Unmengen von Viro mortis an den Wänden dieses gesamten Höhlensystems bedenkt, könntest du recht haben.«

Es drehte mir den Magen um. Vielleicht hatten wir Glück, und ich lag völlig daneben.

Denn wenn wir es mit einem nekromantischen Schatten zu tun bekamen, steckten wir -

wie Morio es formuliert hatte - tatsächlich knietief in der Scheiße.

Morio sah Camille abwartend an. Sie nickte, und er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Okay, hört zu. Lasst Camille und mich zuerst reingehen. Wir sprechen unseren Zauber, sobald wir die Kammer betreten haben, dann springen wir beiseite, und ihr könnt übernehmen.

Was auch immer mit den Totenmännern geschieht, dürfte sich nicht auf euch auswirken -

es sei denn, das Ding geht höllisch nach hinten los, dann sind wir alle verloren.« Er gab Camille einen Wink. »Wir müssen uns vorbereiten, und zwar schnell.«

Sie trat zu ihm, nahm seine Hände, und beide schlossen die Augen und begannen vor sich hin zu murmeln. Wir übrigen drängten uns in dem engen Tunnel zurück, um ihnen Platz zu schaffen, wobei wir immer noch gut achtgaben, damit wir ja die Felswände nicht berührten. Camilles Todesmagie war zuverlässiger als ihre Mondmagie, aber ich war trotzdem nervös. Die Vorstellung, ein nekromantischer Zauber könnte nach hinten losgehen, war mehr, als ich zulassen wollte.

Als die Energie sich zwischen den beiden aufbaute, bekam ich eine Gänsehaut. Mein erster Impuls war, mich umzudrehen und davonzulaufen. Das war finstere Magie, dunkler, als ich sie je bei Camille gespürt hatte, außer damals, als sie Geph van Spynne mit einem Todeszauber erledigt hatte. Aber da hatte er uns angegriffen - er hatte bereits Rhonda, Zachs Ex-Verlobte, getötet, und wir waren die Nächsten auf seiner Liste gewesen. Das hier war ein wohlkalkulierter Schachzug, keine Reaktion auf einen Notfall.

Ich rückte dichter an Zach heran, der einen Arm um mich legte.

Das war eine beruhigende Geste, und ich lehnte mich an ihn und spürte, wie seine Wärme durch meine Jacke drang. Ich fühlte auch seine Erregung, vermutete aber, dass sie ihm selbst noch gar nicht bewusst war. Und sein Begehren weckte meins. Ich hatte nicht vor, mitten in einem Kampf irgendetwas anzufangen, aber der Augenblick erschien mir ganz logisch.

Leidenschaft und Adrenalin gehörten zusammen. Vor allem, da wir in den vergangenen Monaten so viele lebensbedrohliche Situationen ausgestanden hatten.

Ich schmiegte mich an ihn, und er drückte mich fester an sich und sah mir dann in die Augen, als ich die Hand in seinen Rücken schob und auf seinen Hintern legte. Diese topasgoldenen Augen stellten mir eine Frage, und ich nickte sacht, schürzte leicht die Lippen und fuhr mit der Zunge über die Spitzen meiner Reißzähne. Zach sog scharf den Atem ein, und seine Hand glitt von meiner Hüfte abwärts, um meinen Hintern zu streicheln. Als mir der Atem stockte, blickte Camille auf.

»Wir sind bereit«, sagte sie, und ihre Stimme drang wie aus weiter Ferne zu mir.

»Dann wollen wir mal«, sagte Smoky. »Camille, Morio, rein mit euch. Delilah, du, Zach, Roz und Menolly geht als Nächste. Vanzir, du und ich bilden die dritte Angriffswelle.

Damit dürften der Fuchs und unsere Frau genug Zeit haben, wieder ganz zu sich zu kommen, ehe sie sich hinter uns einreihen.«

Ohne ein weiteres Wort rannten Camille und Morio in die Höhle hinein, und ihre Stimmen hallten hohl und unheimlich in dem Tunnel wider. Ihr Zauberspruch bebte vor Leidenschaft und Schmerz, und ein Luftzug trug den leisen Nachhall von Trommelschlägen mit sich heran.

Ihre Magie ließ meinen Körper vibrieren. Ich war auf diese plötzliche Resonanz nicht vorbereitet, schwankte und fiel beinahe gegen die Wand, fing mich aber gerade noch, ehe ich den schleimigen Moder berührte. Mir wurde rot vor Augen, und ich schob mich nach vorn. Meine Angst löste sich in einer schwellenden Wolke von Blutlust auf. Der Panther stieg in mir hoch; ich konnte ihn tief in meinem Herzen grollen hören, vol er Sehnsucht, herausgelassen zu werden.

Hi'ran. Dies war sein Reich, das Reich der Toten, des Feuers und der Geister. Der Herbstkönig betrachtete diese Welt als sein Spielfeld, und ich - seine einzige lebende Todesmaid -hörte den Ruf dunkler Schemen, die sich aus dem Grab erhoben. Ich musste mich der Tatsache stellen, dass ich auch zu der dunklen Seite gehörte, der Camille sich näherte und auf der Menolly schon seit dem Tag wandelte, als sie Dredge in die Hände gefallen war.

Ich bedeutete Zach, Roz und Menolly, mir Platz zu machen, als die Welt sich verschob.

Erst dachte ich, ich würde mich verwandeln, weil mein Körper zwischen den Welten schwankte. Vom Panther zur Frau und zum Panther zurück, und das Mal auf meiner Stirn begann zu wirbeln. Ich fühlte mich, als hätte ich gerade eine Handvoll Speed eingeworfen oder wäre mit einer Art Hastzauber belegt worden. Und dann war ich doch nur ich, aber der Panther hatte die Kontrolle über meine Sinne übernommen.

Ich raste durch den Eingang und entdeckte die Totenmänner sofort. Die dunklen gedrungenen Gestalten, die einst menschlich gewesen waren, hatten ledrige Haut und wild wucherndes Haar, das auch einen Teil des Körpers bedeckte - wie Mumien, die durch eine Kunstpelz-Fabrik gelaufen waren. Der ganze Pulk drehte sich um, als ich in die Höhle platzte. Sie bewegten sich wie Affen geduckt auf uns zu, schwangen die Arme und stützten sich auf den Fingerknöcheln ab. In ihren Augen glomm die Flamme des Todes.

Sie waren nicht richtig; sie sollten nicht hier sein. Sie gehörten ins Reich der Toten, nicht in die Welt der Lebenden. Ich riss meinen Dolch aus dem Futteral, wild auf ihr Blut, wild darauf, sie zurück ins Grab zu schicken. Ich stieß die Klinge in eine ledrige Schulter, als der erste Totenmann mich erreichte und mit eisiger Hand meinen Arm packte. Ich beugte mich vor und biss zu, grub die Zähne tief in sein Fleisch, und der Totenmann ließ mich kreischend los. Während ich Blut und Fell ausspuckte, sah ich ihn zurückweichen.

Ein tiefes Brüllen arbeitete sich aus meiner Kehle empor, ich sprang hoch, wirbelte in der Luft herum, und mein gestiefelter Fuß traf das Monster am Kinn. Es flog rücklings auf den Boden. Ohne darüber nachzudenken, setzte ich ihm nach, trat mit dem Absatz auf seine Kehle und zerquetschte ihm den Kehlkopf, während er noch nach meinem Knöchel grapschte. Wieder trat ich zu, diesmal in die Rippen, und der Totenmann kullerte auf Menolly zu, die ihn hochriss und gegen die Felswand schmetterte, bis er schlaff an ihrem Arm herabhing. Sie schleuderte ihn beiseite und nahm sich den nächsten vor.

Die Totenmänner umschwärmten uns wie Bienen, die ihre Königin beschützten. Ich konzentrierte mich auf meinen kleinen Winkel der Höhle. Immer wieder bekam mein Dolch Fleisch zu schmecken. Immer wieder trat und schlug ich mich durch die Wand aus wandelnden Toten. Das Blut und der Gestank, die von diesen Wesen aufstiegen, schienen kein Ende nehmen zu wollen.

Als mein sechster Gegner fiel, sah ich in fasziniertem Entsetzen zu, wie Haut und Muskeln von den Knochen glitten. Da sie nicht mehr magisch zusammengehalten wurden, sickerte alles zu einer Art Ursuppe zusammen, ein Schlamm aus DNS und Blut.

Ich hätte mich übergeben mögen, konnte aber den Blick nicht abwenden und war deshalb zu langsam. Ein weiterer Totenmann hatte sich von hinten angeschlichen, und ehe ich wusste, wie mir geschah, grub er die Zähne in meinen Knöchel, und unfassbarer Schmerz vertrieb jeden Gedanken, als sie durch den Stiefel bis auf den Knochen vordrangen.

Ich schrie auf und trat aus, um ihn abzuschütteln, doch er blieb dran. Er war offenbar wild entschlossen, ein Stück von meinem Bein abzubeißen. Mir ging auf, dass ich viel größer war als er, also ließ ich mich auf die Knie fallen, und zwar direkt auf ihn, so dass er unter mir gefangen war. Mit lautem Quieken ließ das Wesen von mir ab, und ich warf mich hin, rollte mich ab und kam ein paar Meter von dem Totenmann entfernt wieder auf die Beine. Er wankte auf mich zu, doch Camille erschien direkt hinter ihm. Sie hob den Dolch, stieß ihn dem Gegner in den Rücken und sprang beiseite, als er fiel.

»Immer noch die große Schwester, die mir zu Hilfe kommt!«, neckte ich sie, und sie wirbelte herum und stellte sich einem weiteren Totenmann, der auf sie zukam.

»Weißt du doch!«, hörte ich sie antworten. Doch inzwischen hatte es ein weiteres Mitglied der Untoten-Brigade auf mich abgesehen, und ich wurde wieder in den Kampf verwickelt. Der Gestank von Blut und Aas hing dick in der Luft, Schreie und das scheußliche Geräusch von Klingen auf Knochen hallten durch die Höhle.

Mein Körper war erschöpft, doch ich konnte fühlen, wie Hi'ran mich beobachtete. Sein Geist hockte auf meiner Schulter und zeigte lächelnd diese leuchtend weißen Zähne.

Seine Leidenschaft fürs Töten raste durch meinen Körper wie heiße Finger, die meinen Rücken hinabspazierten und Funken aufsprühen ließen. Ich erledigte den letzten Totenmann in meiner Nähe und schnappte nach Luft, als ich den Atem des Herbstkönigs im Nacken spürte. Er umarmte mich, ein Leichentuch aus langfingrigem Nebel drang durch meine Kleidung und rollte sich in meinem Bauch zusammen wie eine Schlange, die auf den richtigen Augenblick wartete, um zuzustoßen.

Ich taumelte, doch er war da und fing mich auf, schloss mich in die Arme und zog mich in seinen wehenden Umhang. Sein durchdringender, diamantharter Blick bohrte sich in meine Seele. Ich versuchte, mich zu befreien, konnte mich aber nicht bewegen, und seine Lippen senkten sich auf meine herab.

Er sog den Atem aus mir heraus, und meine Knie gaben nach, als der intensivste Orgasmus, den ich je erlebt hatte, durch meinen Körper schoss. Ich konnte mich weder bewegen noch atmen, mein Herzschlag verstummte, und ich wusste, dass ich starb. Und dann - als ich glaubte, meine Lunge würde nie wieder funktionieren, als ich schon bereit war, aus meinem Körper herauszutreten - atmete Hi'ran sacht in meinen Mund aus.

Langsam kehrte das Leben über meine Lippen in mich zurück. Als sich meine Brust wieder hob und senkte, konnte ich plötzlich meine Zehen und Finger wieder spüren.

Mein Herz begann hektisch zu schlagen, und ich wich von ihm zurück und starrte ihn in angstvollem Entsetzen an.

Er lachte und strich mir über die Wange. »Ich habe dir doch gesagt, dass du eine von vielen Bräuten bist - aber du bist meine einzige lebende Todesmaid. Man wird dich verehren, und wenn die Zeit reif ist, wirst du diejenige sein, die meinen Erben gebiert.«

Und noch ehe ich etwas erwidern konnte, verschwand er, und ich sank wimmernd zu Boden, während mir langsam bewusst wurde, was genau seine Worte bedeuteten.