|25|Vier halbe Hühnchen ohne Schwein bitte!

Helene und ihre Eltern gingen jeden Sonntag um die gleiche Zeit aus dem Haus. Schäufeles waren sonntags besonders schön gekleidet, und ich stellte mir jedes Mal vor, die Schwester von Helene zu sein. Sie gingen jeden Sonntag in die Kirche und danach immer zum Essen. Am Nachmittag machten sie eine Wanderung über die schwäbische Alb. Helene gefiel das gar nicht, aber sie musste trotzdem immer mitgehen. Wie gerne wäre ich mitgegangen! Nur ein Mal wollte ich wandern gehen. Aber wir verbrachten unsere Wochenenden meistens zu Hause, und ich klebte wie immer am Fenster, um die Schäufeles zu beobachten.

Ich hatte Baba gefragt, ob er mit uns auf die Schwäbische Alb wandern würde.

„Wandern ist deutsch, wir Türken leben anders, und so soll es auch bleiben. Hör auf, über so etwas nachzudenken. Die Deutschen wären froh, wenn sie so sein könnten wie wir. Sei stolz, eine Türkin zu sein. Sei stolz, eine Tochter Atatürks zu sein!“, sagte er und zeigte auf den Teppich an der Wand, von dem Atatürk mit der türkischen Fahne in der Hand auf uns herunter sah. Ich war mir sicher, Atatürk wäre auch gerne auf die Schwäbische Alb gewandert, und seinem Stolz hätte das bestimmt nicht geschadet. Aber ich hielt meinen Mund. Baba war sowieso der Meinung, dass ich zu viel redete und meinte, immer alles besser zu wissen.

Anne bügelte, Tekir lag auf der Matratze vor unserem Kohleofen und Mine kämpfte mit ihren Hausaufgaben.

Mine mochte weder die Schule noch die Deutschen. Sie wollte wie unsere Eltern so schnell wie möglich in die Heimat zurückkehren. Ich wollte nie für immer zurück in die |26|Türkei. Mir reichten die sechs Wochen im Jahr, die wir bei unseren Verwandten verbringen mussten. Die drei Tage Fahrt im Auto, die Verwandten, die unsere Koffer nach Geschenken durchwühlten und uns nur von ihren Geldsorgen erzählten ... Ich wollte nicht zurück!

Das Einzige, was ich in der Türkei liebte, war der Bazar in Istanbul. Der Duft nach Zimt, Henna und Pfeffer. Die goldbeladenen Schaufenster, die schreienden Verkäufer und die leckeren Sesamriegel, die es an jeder Ecke in Istanbul zu kaufen gab. Kein Brot auf der Welt schmeckte so gut wie „Simit“. Nicht einmal die Brezeln vom deutschen Bäcker. Istanbul und der Bazar waren wie ein Märchen und das Einzige, was ich in der Türkei mochte.

Mir gefiel es in Deutschland und ich liebte die Deutschen, wie sie aussahen, wie sie sprachen und wie sie sich kleideten. Ich liebte ihren Gott, der immer freundlich war und keine „Schicksalsbrücke“ hatte, aber ich war auch stolz, eine Türkin zu sein, denn dann waren meine Eltern besonders lieb zu mir!

 

Auch wenn ich nicht so sein durfte wie die Deutschen, ich liebte den Geruch von Bratwurst und von Leberkäse. Ich hatte zwar noch nie eine Wurst gegessen, aber jedes Mal, wenn ich mit meiner Anne an der Wurstbude vorbeiging, atmete ich unauffällig ganz tief ein. Mir lief dabei regelmäßig das Wasser im Mund zusammen. Danach entschuldigte ich mich gleich bei Allah und erklärte ihm, dass ich natürlich nie in meinem Leben Schweinefleisch essen würde.

Aber eines Sonntags kam mein Baba nach Hause und sagte: „Kommt Kinder, zieht euch schön an. Ich habe eine Überraschung für euch.“

Das musste in der Tat etwas Besonderes sein, sonst wäre |27|Baba sonntags nie so früh aus dem Café nach Hause gekommen.

Anne holte die Sonntagskleider aus dem Schrank und voller Freude gingen wir los. Baba grinste von einem Ohr zum anderen und lief stolz voraus.

„So, da sind wir endlich. Heute essen wir nicht zu Hause, sondern hier im Wienerwald!“

Baba zeigte auf ein Schild, auf dem ein grünes Hühnchen abgebildet war.

„Aber nicht, dass die uns Schweinefleisch servieren, Hasan. Bist du sicher, dass es nur Huhn ist?“, fragte Anne besorgt.

„Nein, vertrau mir, ich war schon mit meinen Freunden hier und es ist sehr gut!“

Mine und ich waren noch nie in Deutschland in einem Restaurant gewesen. Wenn wir im Urlaub in Istanbul waren, aßen wir schon mal in einem Lokal, aber das war etwas ganz anderes.

Baba bestellte für uns alle das gleiche Gericht.

„Vier halbe Hühnchen und Kartoffelsalat ohne Schwein, bitte!“

Die Kellnerin musste lachen. Mine und ich grinsten und schauten auf unsere Servietten, die uns Anne auf den Schoß gelegt hatte.

„Wollen Sie auch etwas zu trinken?“, fragte die Kellnerin.

„Ja, vier Fanta“, antwortete Baba.

Kaum drehte die Kellnerin uns den Rücken zu, sagte Baba: „Eşoleşek, lacht nicht, wenn ich Deutsch spreche!“ Aber dann musste er selbst lachen.

Mine und ich saßen da, freuten uns auf das Essen, und ich war so stolz auf uns! Wenn uns doch nur meine Freundin Helene gesehen hätte. Oder wenigstens Onkel Ali und unsere |28|ganzen Freunde. Wie die Deutschen saßen wir da, und wir sahen alle so schön aus. Anne musste nicht kochen, und es war auch noch ein Sonntag!

Mein Baba sprach immer sehr laut. Plötzlich fiel mir auf, dass die Menschen um uns herum sich gar nicht mehr miteinander unterhielten, sondern uns nur anstarrten.

„Baba, sprich doch leiser, alle schauen uns an“, sagte Mine und wurde rot im Gesicht.

„Eşoleşek, schämst du dich für deinen Vater?“, schimpfte Baba.

Als die Kellnerin das Essen brachte, hörte man auch von uns nichts mehr.

Das Essen schmeckte einfach umwerfend! Das Hühnchen war knusprig, und der Kartoffelsalat war das Beste, was ich je gegessen hatte.

In unserer kleinen Stadt gab es nicht viele Lokale. An der Pizzeria liefen wir oft vorbei, aber wenn Anne die feinen Leute dort sah, sagte sie gleich: „Das ist nichts für uns, ich wüsste nicht mal, was man dort isst.“

Von dem Tag an gingen wir mindestens ein Mal im Monat in den Wienerwald „vier halbe Hühnchen ohne Schwein“ essen. Bis Anne eines Tages von der Arbeit nach Hause kam und weinend erzählte, was sie erfahren hatte: Ihr Chef hatte ihr gesagt, dass der schwäbische Kartoffelsalat immer mit einer Fleischbrühe angemacht wird, die aus Schweine- und Rinderknochen gemacht werde.

Während Anne uns das berichtete, musste sie mehrmals auf die Toilette rennen und sich übergeben. Baba schien sich nicht besonders darüber aufzuregen. Im Gegenteil, er war der Meinung, dass wir uns nicht schuldig gemacht hätten, sondern dass dafür andere in der Hölle schmoren müssten. Schließlich hätten wir das ja nicht gewusst.

|29|Allerdings war der Wienerwald für uns gestrichen. Anne musste sogar schon würgen, wenn wir nur am Wienerwald vorbeiliefen.

Leider gingen wir sonntags auch später nie wandern, weil wir Türken eben anders waren.