Eine Eurasierin breitet ihre Flügel aus

Babaanne wollte, dass wir Tinte lecken und Bücher lesen, um nicht unwissend zu bleiben. Außerdem war ich jetzt schon fünfzehn Jahre alt und wollte auch irgendwann fliegen lernen! Ich nutzte jede Gelegenheit, um in die Bibliothek zu gehen. Es gab so wunderschöne Bücher, die ich in ganz kurzer Zeit las, um an die nächsten heranzukommen. Zuerst |167|machte ich einen großen Bogen um die Religionsbücher, da mein Interesse daran immer mit einem schlechten Gewissen Allah gegenüber gekoppelt war.

Aber dann war meine Neugierde doch größer als die Angst. In einer deutschen Bibliothek fand ich sogar den Koran und einige Übersetzungen davon. Ich las auch die Bibel, allerdings nur in der Bibliothek. Unsere Eltern hätten das sicher nicht gerne gesehen. Ich las Bücher über Religionen, von denen ich vorher noch nie etwas gehört hatte. Ich konnte nicht immer alles verstehen, aber eines hatten sie alle gemeinsam: Das Fundament aller Religionen war Liebe, Frieden, Rücksicht und Zufriedenheit. Birsen Teyze hatte recht gehabt. Auch in anderen Religionen gab es fesselnde und schöne Dinge, die jedem vorenthalten blieben, der sich nur auf eine konzentrierte und die anderen missachtete. Und in keinem „Gottesbuch“ war es ausdrücklich verboten, sich für andere Religionen zu interessieren.

Religionen waren wie Perlenketten, und ich nahm mir von jeder die Perle, die ich am schönsten fand, und machte mir meine eigene Perlenkette daraus.

Der Versuch, mit meinen Eltern darüber zu sprechen, endete natürlich mit Drohungen und Geschrei. Ich solle Allah nicht beleidigen, sonst würde ich in der Hölle landen. Auch meine Schwester wollte nichts von meinen Erfahrungen wissen. Ich hatte mit einem Buntstift Suren in der Koranübersetzung unterstrichen, um sie meinen Eltern zu zeigen. Vor allem in dem Abschnitt, wo es um das Recht der Frauen ging. Als meine Mutter das sah, rastete sie regelrecht aus.

„Wie kannst du es wagen, in den Koran zu kritzeln?“, schrie sie und riss mir das Buch aus der Hand. Ich versuchte, ihr zu erklären, dass es sich nur um die Übersetzung handle, und ich ihr etwas zeigen wolle. Doch meine Mutter war der |168|Meinung, dass man den Koran nicht übersetzen könne, und dass jeder Versuch eine Sünde sei.

Ich durfte nicht mehr über Gott und Religion sprechen. Ich hatte gefälligst das zu glauben, was man mir erzählt hatte.

Aber meine Flügel hatte ich bereits ausgebreitet. Meinen Wissensdurst über Religion und Gott musste ich weiter heimlich stillen, da das, was mir erzählt worden war, nicht der Wahrheit entsprach. Es waren Gruselgeschichten, die meine Eltern von ihren Eltern und Großeltern erzählt bekommen hatten. Natürlich hatte das den Vorteil, dass man Gott und die Religion dazu benutzen konnte, andere „zur Strecke zu bringen“. So wurden Glaubenskriege geführt und Menschen manipuliert. Je mehr ich lesend forschte, desto mehr verwandelte sich meine Angst vor Gott in Liebe zu ihm, und je mehr ich über Religionen in Erfahrung brachte, desto stärker fühlte ich mich.

Aber ich las nicht nur Bücher über Gott.

Ich interessierte mich für Bücher über Kindererziehung, für Biografien von Menschen, die Besonderes im Leben erreicht und geleistet hatten, und natürlich für Bücher von Duygu Asena. Lesen, Lernen, Erfahren gaben mir das Gefühl, stark und überlegen zu sein.

 

Eines Tages sprach mich eine alte Dame an, die ich schon mehrmals in der Bibliothek getroffen hatte. Sie lobte mich sehr und zeigte sich beeindruckt, dass ich trotz meiner Jugend solche Bücher las. Sie setzte sich zu mir und fragte mich nach meinem Alter. Als ich ihr sagte, dass ich fünfzehn sei, klopfte sie mir auf die Schulter.

„Glaubst du denn, dass in diesen Büchern die Wahrheit steht?“

|169|Wie aus der Pistole geschossen antwortete ich, dass ich meine eigene Wahrheit hätte. Die Frau war begeistert über meine Worte und sagte: „Du bist eine echte Eurasierin!“

Meine Babaanne hätte wahrscheinlich gesagt, dass aus dem Mund dieser Frau Worte wie Honig flossen.

Nach einer langen Unterhaltung sagte die Dame, ich hätte als europäische Asiatin viele Vorteile, nicht nur durch die Kenntnis mehrerer Sprachen, sondern auch durch die Vertrautheit mit unterschiedlichen Kulturen und durch mein besonderes Einfühlungsvermögen.

Mit dem Honig flossen dieser Dame aber auch Fragezeichen aus dem Mund. Kein Mensch in unserer Familie oder in unserem Freundeskreis hatte jemals von Vorteilen gesprochen, die wir „Deutschtürken“ hätten. Die Bezeichnung „Eurasierin“ gefiel mir allerdings auch viel besser! Es klang so allwissend, interessant und welterfahren.

Worin bestand denn eigentlich überhaupt der Unterschied zwischen Türken und Deutschen? Machten die Länder und die Sprache oder die Erziehung und das Umfeld, das uns so türkisch oder auch eurasisch gemacht hatte, ihn aus? Hätte meine Babaanne meinen Vater nach der Geburt einer deutschen Familie gegeben, wäre außer seinem schwarzen Bart und seiner dunklen Haut nichts an meinem Vater türkisch geworden? Hätte er Bier statt Raki getrunken und rote Wurst statt Kebab gegessen? Oder lag die Begründung für den Unterschied vielleicht in den Genen?

Warum sollten wir „Eurasier“ uns denn überhaupt für nur ein Land und eine Kultur entscheiden, wenn wir doch so viele Vorteile davon hatten, mehr zu kennen? Um all diese Fragen zu klären, musste ich noch viel lesen und lernen. Denn nur dadurch bekam man Flügel!