|156|Plötzlich eine Frau

Das Erwachsenwerden geht bei uns Türken schneller, als eine Bestellung aus dem „Otto Katalog“ aufzugeben. Es ist zwar unglaublich, aber ich wurde innerhalb von zwei Minuten eine Frau. Das meinte zumindest mein Vater, als er mir wieder einmal zusah, als ich einen Kopfstand machte. Der Rock hing mir über dem Kopf und ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Da riss mein Vater mich an den Beinen runter und schrie mich an, ich sei kein Kind mehr und solle mich gefälligst wie eine junge Frau benehmen, schließlich sei ich schon dreizehn Jahre alt. Ich war erstaunt über seine Worte.

„Baba, bin ich jetzt plötzlich eine Frau geworden, oder hast du nur schlechte Laune?“

„Sieh dich doch an und benimm dich dann auch so, wie du aussiehst!“, schrie er und warf die Tür hinter sich zu.

Ich ging ins Schlafzimmer und stellte mich vor den Spiegel. Tekir jagte ich ins Wohnzimmer, denn ich hatte mein T-Shirt ausgezogen und Tekir war ja ein Mann, der mich nicht nackt sehen durfte.

Ich hatte meine Schwester wegen ihrer Brüste und ihres fraulichen Körpers immer bewundert.

Endlich sah man bei mir auch eine kleine Wölbung, die ganz nach Brüsten aussah. Aber das war ja nicht beim „Kopfstand machen“ passiert.

Diese kleinen Wölbungen hatte ich schon seit einigen Monaten und ich war eigentlich ganz stolz darauf. Ich sah in dem Spiegel keine Frau, sondern mich, so wie ich immer war.

Aber anscheinend war ich nun doch eine Frau. Mein Vater musste es ja schließlich wissen! Stolz begutachtete |157|ich meinen Körper und drehte mich in alle Richtungen. Ich nahm die hohen Schuhe von Anne aus dem Schrank und stolzierte durch die Wohnung.

Ich war dreizehn Jahre alt und schon eine Frau! Plötzlich kam meine Schwester ins Schlafzimmer und verdrehte die Augen. Ich ging mit meinen hohen Schuhen auf sie zu und sagte, dass ich jetzt auch eine Frau sei, und dass es sogar unserem Vater aufgefallen wäre.

„Ich wünschte, ich wäre keine Frau“, sagte Mine tonlos und warf ihre Schultasche in die Ecke.

„Du bist ja nur eifersüchtig!“, sagte ich und trippelte weiter wie ein Mannequin vor Mine herum.

Mein Stolz und meine Freude sollten jedoch auch nicht von Dauer sein. Meine Röcke und Kleider wurden auf einmal länger. Der Inhalt meiner Schultasche wurde fast täglich von Anne kontrolliert. Ich durfte auf der Straße keinen Lolli mehr lutschen, nicht laut lachen, keinen roten Nagellack mehr tragen, und ich musste mich sogar anders hinsetzen, wenn ich einen Rock trug. Alles hatte sich durch meinen Kopfstand verändert.

Aber im Gegensatz zu meiner Schwester hatte ich noch einige Freiheiten, mit denen ich auch sehr vorsichtig umging.

Ich durfte meine Schulfreundinnen für einige Stunden besuchen, um mit ihnen zu lernen. Meine Mutter holte mich natürlich ab und warf immer einen Blick ins Wohnzimmer, um zu sehen, ob meine Freundinnen einen Bruder hatten, vor dem sie mich beschützen musste. Durch meine guten Noten in der Schule hatte ich meine Mutter auf meiner Seite. Wenn mein Vater wieder mal der Meinung war, dass Anne mir zuviel Freiheiten zugestand, sagte Anne immer: „Mach dir da mal keine Sorgen. Nilgün hat nur ihre Schule im Kopf und nicht so dummen Sachen wie Mine!“

|158|Meine Schwester musste die Klasse bereits zum zweiten Mal wiederholen und hatte auch nichts getan, das zu verhindern. Mine lebte in ihrer eigenen Welt. Leider gab es diese Welt für türkische Mädchen nicht.

Mine hielt sich an keine Verbote und durch das Fehlverhalten meiner Schwester lernte ich, mit den Verboten besser umzugehen.

Jedes Wort, jedes Verhalten von mir war so überlegt und strategisch so gut durchdacht, dass mir vieles erlaubt wurde. Natürlich geschah das immer unter dem Vorwand, etwas für die Schule zu tun.