Die Hochzeit von Mahmut Ağas Sohn

Ablam und ich spielten Blinde Kuh. Ich sah trotz meiner verbundenen Augen immer, wo Ablam war, und konnte sie auch gleich fangen. Mine hatte ein schwarzes Tuch, um sich die Augen zu verbinden, wenn sie an der Reihe war. Da konnte man nicht schummeln, weil das viel zu dunkel war. Aber das wusste sie zum Glück nicht.

Babaanne saß auf dem Boden und machte Fladenbrote. Ab und zu schmierte sie einen Fladen mit Butter ein, rollte ihn zusammen und drückte ihn uns in die Hand. Dürüm mit Butter war mein Lieblingsessen. Das schmeckte sogar besser als deutsche Brezeln!

Plötzlich klopfte es am Tor. Wir hatten nämlich einen Löwenkopf mit einem Eisenring im Maul an der Tür hängen, und wenn jemand daran klopfte, war es so laut, dass man es im ganzen Haus hören konnte. Mine rannte zum Tor und schob den schweren Riegel beiseite.

Ein Junge trat ein und küsste gleich die Hand von Babaanne.

„Mahmut Ağa möchte euch zur Hochzeit seines Sohnes einladen. Das ganze Dorf ist eingeladen, am Freitag wird der Hennaabend stattfinden, und am Samstag ist die Hochzeit, so Allah will“, sagte der Junge, ging ein paar Schritte zurück und senkte seinen Blick.

|88|„Richte unsere Grüße aus, Allah segne das Brautpaar, wir kommen sehr gerne“, sagte Babaanne und gab dem Jungen ein Dürüm in die Hand.

„Afiyet olsun, guten Appetit“, sagte sie.

„Hier ist noch Post für euch“, sagte der Junge und gab Babaanne einen Brief.

„Ist der von Anne? Sag schon, Babaanne, ist der von Anne?“

 

Wir waren seit sechs Monaten bei Babaanne, und das war der erste Brief. Ablam musste immer wieder eine Pause machen und schlucken, bevor sie weiterlesen konnte. Anne schrieb, dass sie ganz lange krank gewesen sei und deshalb nicht habe schreiben können. Sie vermisse uns sehr, und Baba habe vor kurzem sogar geweint, weil er es ohne uns nicht mehr aushielte.

Anne wollte uns so bald wie möglich besuchen, aber sie hatte noch kein Geld für das Flugticket. Sie schrieb, dass sie uns schöne Kleider und Puppen gekauft habe, und dass Giuseppe und Paola immer nach uns fragten.

Annes letzter Satz galt Babaanne: „Richtet Babaanne meine besten Grüße aus, ich küsse ihre Hände.“ Ablam drückte den Brief ganz fest an sich.

Babaanne stand auf, schüttelte wütend ihre mehligen Hände aus und wiederholte den letzten Satz des Briefes: „Richtet Babaanne Grüße aus, ich küsse ihre Hände ...“ Dann nahm sie den Brief von Annem in die Hand und starrte ihn lange an.

„Babaanne, du kannst doch gar nicht lesen“, sagte ich und sah meine Abla an.

„Seit Jahren kein Brief aus der Ferne, dann kommt einer und es steht nur ein kurzer Gruß an mich darin?“

|89|Babaanne setzte sich ans Fenster, wackelte traurig mit dem Kopf und flüsterte wieder ihr Gebet.

„Babaanne, bist du böse?“

„Nein, Yavrum. So schnell gibt der Ungläubige kein Geld. Eure Eltern müssen noch lange arbeiten, bis sie sich ein Haus kaufen können.“

Den Brief von Anne teilten Ablam und ich in der Mitte durch. Die eine Hälfte durfte sie behalten und die andere Hälfte ich.

„Babaanne, gehen wir wirklich zur Hochzeit von Mahmut Ağas Sohn? Dürfen wir mitgehen?“

„Ja, wir werden hingehen. Es ist unhöflich, eine Einladung abzulehnen, vor allem wenn sie von Mahmut Ağa kommt.“

Ablam und ich waren sehr aufgeregt. Wir waren noch nie auf einer Dorfhochzeit gewesen.

Mahmut Ağa war einer der reichsten Männer von Alaca.

„Babaanne, was ziehen wir an? Dürfen wir unsere

Deutschlandkleider anziehen?“, fragte Mine.

Babaannem nickte und sagte, dass wir zeigen müssten, woher wir kämen und wie gut es uns ginge. Ablam durfte ihren karierten Rock und die Jacke dazu anziehen, die Annem ihr mal genäht hatte. Aber weil unsere Deutschlandkleider viel zu kurz waren, musste sie eine Hose darunter tragen. Ich durfte auch etwas aus unserem Deutschlandkoffer nehmen. Annem hatte mir ein Samtkleid mit Blumen genäht, und meine Deutschlandhausschuhe durfte ich auch zur Hochzeit anziehen.

Die Tage gingen ganz langsam vorbei, wir mussten viermal schlafen, bis es endlich so weit war.

Babaanne kämmte meine Locken glatt und zog mir den schönen Strich auf der Seite, und Mine bekam ganz oben auf |90|dem Kopf einen Pferdeschwanz, der aussah wie der Dorfbrunnen.

Der Hennaabend wurde in Mahmut Ağas Haus gefeiert. Für die Hochzeit hatte er die ganze Schule gemietet. In der Sporthalle und im Hof sollte die Hochzeitsfeier stattfinden. In den Klassenräumen durften die Gäste übernachten, die von weither gekommen waren.

Mahmut Ağa hatte ein großes Haus. Die Frauen feierten drinnen, und die Männer waren draußen im Innenhof. Der ganze Wohnraum war voller Frauen und Kinder. Alle tanzten um die Braut herum. Die Braut saß auf einem Stuhl, und ihr Gesicht war mit einem roten Tuch bedeckt. Sie trug den Goldschmuck, den sie bereits von ihrem Bräutigam bekommen hatte.

 

Eine Frau hielt ein großes Tablett in der Hand, sie bückte sich hinunter zur Braut, mischte das Henna zusammen und sang dabei ein sehr trauriges Lied: „Bring das Henna, meine Mutter: Lass mich die letzte Nacht in deinen Armen schlafen, der Sohn des Fremden wird mich dir wegnehmen …“

Alle Frauen fingen an zu weinen. Man sah, wie die Braut zitterte, und plötzlich fiel die Brautmutter einfach um.

„Babaanne, ist die Brautmutter jetzt tot?“

„Hayır, Kızım, sie ist nur sehr traurig, dass sie ihr Herz hergeben muss. Sie hat ihr Kind jahrelang großgezogen, damit es ein Fremder jetzt mit Füßen tritt. Sie ist vor Schmerz umgefallen“, sagte Babaanne und wischte sich heimlich ein paar Tränen aus dem Gesicht.

„Warum heiratet die Braut denn, wenn sie weiß, dass dieser Mann sie treten wird?“, fragte Mine.

„Jetzt liebt er sie noch. Mal sehen, wie lange das gut geht“, sagte Babaanne und wiegte sich wieder hin und her.

|91|Als die Braut Henna in ihre Hände bekam, streckten alle Frauen und Kinder die Hände aus und bekamen auch Henna in die Handinnenflächen.

„Ich will nicht“, sagte Mine und versteckte ihre Hände hinter dem Rücken.

„Natürlich willst du! Kina kommt aus Mekka, es ist heilig und bringt Glück“, sagte Babaanne und schmierte beide Hände von Ablam voll. Mine rannte gleich hinaus, um ihre Hände abzuwaschen.

Ich war ganz stolz auf mein Kina in der Hand. Ein bisschen fühlte ich mich wie die Braut.

Endlich nahm man der Braut den roten Schleier von ihrem Gesicht ab, und sie durfte tanzen. Sie sah wunderschön aus. Ihre Lippen und ihre Wangen waren rot geschminkt. Über der Stirn hatte sie ein rotes Band, das mit Goldtalern bestickt war. Immer wieder zupfte eine Frau an ihrem Şalvar und sagte der Braut, sie müsse weinen, sonst würde man denken, dass sie ihr Elternhaus gerne verlassen würde. Dann lachten alle Frauen und sahen sich gegenseitig an.

Die Frau von Mahmut Ağa verteilte den Kindern Mandelbonbons und geröstete Kichererbsen und wünschte allen Müttern, dass sie ihre Töchter eines Tages ehrenhaft einem Bräutigam übergeben könnten.

Wir durften ganz lange bleiben, aber irgendwann waren wir so müde, dass mich meine Babaanne wieder auf dem Rücken nach Hause tragen musste.

Die Braut hatte sich persönlich von uns verabschiedet. Sie gab mir sogar die Hand und sagte, dass sie sich freuen würde, wenn wir am nächsten Tag zu ihrer Hochzeit kommen könnten. Babaanne sagte nur: „Inşallah, Yavrum, Inşallah.“

Es war ein so schöner und aufregender Abend gewesen, aber auf die Hochzeit freute ich mich noch mehr! Am nächsten |92|Tag wachten Ablam und ich ganz früh auf. Babaanne ging mit uns ins Hamam, und danach durften wir wieder unsere Deutschlandkleider anziehen. Babaanne war so stolz auf uns, dass sie uns zu Hüsnü Amca, dem Dorffotografen brachte.

„Dieses Foto schicken wir euren Eltern“ sagte Babaanne, „dann sehen sie, wie gut es euch hier geht!“

Die Hochzeit war wirklich noch schöner als der Hennaabend. Die Braut hatte ein wunderschönes weißes Kleid an. Sie trug sogar Handschuhe, wie eine Prinzessin. Ihre Haare waren hochgesteckt, und darauf war eine Krone befestigt, die mit Perlen bestickt war. Der Bräutigam hatte einen schwarzen Anzug an. Auch er war behängt mit ganz viel Gold und Geld.

Wir durften nicht wie andere Kinder rumtoben, weil das gut erzogene Mädchen nicht machten. Aber wir saßen im Saal mit Babaanne ganz vorne und konnten alles sehen.

Frauen und Männer waren wieder getrennt, aber sie durften im gleichen Raum feiern. Wenn die Männer tanzten, sahen die Frauen zu, und wenn die Frauen tanzten, durften die Männer zusehen. Nur das Brautpaar durfte zusammen tanzen. Diesmal war die Braut nicht so traurig, man sah, wie sie ab und zu unter ihrem feinen Schleier lächelte. Dann stand das Paar auf der Tanzfläche, und der Bräutigam holte aus seiner Hosentasche eine ganz lange Kette aus Gold, bestimmt drei Meter lang. Er hängte sie der Braut um den Hals und nun durfte er den Schleier heben. Das war der Preis für ihr Gesicht, erst jetzt durfte er ihren Schleier öffnen.

Die Braut sah aus wie eine Prinzessin.

„Babaanne, ich will auch mal heiraten!“

„Psst, sei ruhig, schämst du dich denn gar nicht, so was zu sagen?“

|93|„Nein!“, antwortete ich und kuschelte mich zu ihr. „Bekomme ich dann von meinem Bräutigam auch so eine Kette, damit er mein Gesicht sehen darf?“

Meine Babaanne hielt sich die Hand vor den Mund, damit niemand ihr Lachen sehen konnte. „Du bekommst sicher eine viel längere Goldkette, güzel Kızım.“

Der Vater vom Bräutigam lief ganz stolz über die Tanzfläche und warf viele Bonbons, Kichererbsen und sogar Geld in die Menschenmenge. Wir durften nichts aufsammeln. Babaanne hatte uns das verboten.

„Ihr seid Alamanci, das haben wir nicht nötig“, sagte Babaanne.

Ein paar Männer holten ihre Waffen raus und feuerten Schüsse ab, obwohl das gar nicht erlaubt war. Aber Mahmut Ağa durfte das, schließlich nannte man ihn nicht umsonst Ağa, Herr.

Dann kam ein Mann auf die Tanzfläche und bat das Brautpaar zu sich. Die Eltern, Geschwister und die Verwandten kamen alle mit ihren Geschenken zu der Braut und dem Bräutigam. Sie behängten die beiden mit Gold und Geld. Mahmut Ağa hielt einen Schlüssel in der Hand und zeigte ihn den Hochzeitsgästen. In der anderen Hand hielt er das Megaphon und verkündete, dass dies ein Hausschlüssel sei. Er wünschte sich viele Enkelsöhne und drückte seinem Sohn den Schlüssel in die Hand. Wir standen alle auf und klatschten in die Hände. Mahmut Ağa feuerte wieder Schüsse in die Luft. Das Brautpaar freute sich sehr und tanzte mit ihm.

Im Schulhof standen große Schüsseln und Töpfe, und ganz viele Lämmer wurden gegrillt. Mahmut Ağa hatte extra für die Hochzeit aus Ankara einen Koch mit seinen Gehilfen kommen lassen. Es gab jede Menge Fleisch, Reis, Bohnen, Gemüse und Salat.

|94|„So muss eine Hochzeit sein“, sagte Babaanne, „und mich hat man für zwei Kühe verkauft!“ Dabei wackelte sie mit dem Kopf.

Irgendwann war ich wieder so müde, dass wir nach Hause gehen mussten.

Auf dem Heimweg stellte ich mir vor, wie mein Bräutigam mich mit Gold behängte und alle Menschen mich bewunderten, weil ich eine so wunderschöne Braut war. Ich wollte unbedingt so bald wie möglich auch eine Braut sein und ein weißes Kleid mit Handschuhen tragen.