Gäste zu haben oder Gast zu sein, ist eine große Ehre

Wir Türken sind sehr gastfreundlich und haben viele Freunde. Gäste werden immer königlich bewirtet, und keiner darf hungrig das Haus verlassen. Man bereitet sich Stunden vorher auf den Gast vor, kocht, backt und putzt die Wohnung. Wir freuten uns immer sehr auf Gäste.

Der Spruch „Trage den Gast so unantastbar wie eine Krone auf deinem Haupt“ ist in der Tat sehr zutreffend. Ein Gast bringt Segen und Glück ins Haus, er beseelt dein Haus. „Teile dein Brot mit deinem Gast und gib ihm, was Allah dir gegeben hat.“ Gäste zu haben oder auch Gast bei jemandem zu sein, ist eine große Ehre bei uns.

Eines Tages kam Anne von der Arbeit nach Hause und erzählte uns ganz stolz, dass ihr Abteilungsleiter Herr Huber und seine Frau uns für Sonntagmittag zum Kaffee eingeladen hätten. Meine Anne erzählte viel über ihren Abteilungsleiter, wie nett er auch zu Ausländern sei und wie verständnisvoll. Die Frau von Herrn Huber war vor Jahren einfach auf dem Tennisplatz umgefallen, und als sie wieder wach wurde, konnte sie nicht mehr laufen. Sie saß im Rollstuhl, weil sie einen Schlaganfall gehabt hatte. Ich kannte Herrn Huber auch, |30|weil ich meine Anne mal in der Fabrik besucht hatte. Herr Huber war ein sehr netter Abteilungsleiter und hatte meiner Anne, als ich krank war, einfach frei gegeben. Obwohl er Deutscher war, hatte er zu meiner Verwunderung nur ganz wenig Farben auf dem Kopf. Er hatte sogar einen Bart, wie mein Baba. Meine Anne hatte Frau Huber bei einem Betriebsausflug kennen gelernt und fand sie auch sehr nett.

Baba sagte gleich, dass er nicht mitkommen wolle, weil er sich bei „den Deutschen“ nicht wohl fühlen würde. Außerdem könne er sich sowieso nicht auf Deutsch unterhalten. Anne schien das egal zu sein. Sie freute sich über diese Einladung, und wir durften unsere schönen Kleider anziehen. Oh, war ich aufgeregt! Wir waren bei Deutschen eingeladen und dann auch noch bei einem Chef – das war eine große Ehre für uns.

Meine Anne hatte bereits 1970 ihren Führerschein gemacht und war sehr stolz darauf. Mein Baba hatte die schriftliche Prüfung zweimal wiederholen müssen. Meine Anne hatte es gleich beim ersten Mal geschafft.

Wir stiegen in unseren frisch geputzten Ford Taunus ein und fuhren los.

Im Auto gab es wieder einmal genaue Anweisungen von Anne, wie wir uns zu verhalten hatten.

„Ihr dürft nichts anfassen, nicht dazwischenreden und nichts essen, bevor ich es euch erlaube. Wenn ihr etwas wollt, dann fragt ihr mich erst auf türkisch. Ihr bedankt euch immer und seid höflich, sonst dürft ihr nie wieder mitgehen. Ich will mich nicht wegen euch schämen müssen!“

Mine und ich waren zu Hause nicht immer lieb, aber wenn wir irgendwo anders waren, trauten wir uns nicht einmal auf die Toilette. Wir konnten stundenlang dasitzen, ohne ein Wort zu sagen und dabei auch noch lächeln.

|31|Erst wenn meine Anne uns unauffällig zunickte, durften wir uns vielleicht ein Glas Wasser oder einen einzigen Keks nehmen.

Selbst wenn wir bei guten Freunden zu Besuch waren, mussten die Gastgeber meine Anne erst mehrmals inständig bitten, damit wir uns etwas freier bewegen konnten.

Der Abteilungsleiter von Anne wohnte in einem Dorf, das wunderschön war.

Anne sagte: „Hier wohnt sicher kein einziger Ausländer.“

Mine und ich waren etwas aufgeregt, aber wir freuten uns trotzdem und waren gespannt, wie es im Haus von reichen Leuten aussehen würde.

Schließlich war Herr Huber der Chef meiner Anne und ein wichtiger Mann in der Fabrik, obwohl er nie eine Krawatte trug. Einmal hatte ich ihn sogar in einer blauen Arbeiterhose gesehen.

Wir parkten unser Auto neben dem Mercedes von Herrn Huber.

„Das sieht aus, als wenn sich ein Wurm mit einer Schlange messen wollte“, sagte Anne und wir mussten alle lachen.

Herr Huber öffnete gleich die Tür und begrüßte uns sehr freundlich. Seine Frau saß im Rollstuhl, und wir schauten ihr nur in die Augen, so wie es uns Anne aufgetragen hatte.

Anne sprach viel besser deutsch als unser Baba. Und wenn sie etwas nicht verstehen konnte, übersetzte es Mine. Frau Huber war auch sehr nett, aber manchmal konnte ich sie nicht gut verstehen, weil die eine Hälfte ihres Gesichts ein bisschen schief war. Und trotzdem hatte sie extra für uns einen Kuchen gebacken, den ich überhaupt nicht lecker fand. Ich hatte noch nie einen so sauren und schrecklichen Kuchen gegessen. Herr Huber erzählte uns sehr ausführlich, dass er den Rhabarber selbst angebaut hätte.

|32|Ich war froh, dass es bei uns Türken keinen Rhabarber gab. Bei uns backte niemand einen sauren Kuchen, den hätte auch kein Türke gegessen.

Aber wir mussten natürlich aufessen und mehrmals sagen, wie gut es geschmeckt hätte, obwohl Lügen Günah war. Aber noch schlimmer war es, unhöflich zu sein.

Nachdem wir unseren Kuchen mit viel Wasser runtergespült hatten, sagte Herr Huber, dass wir leider nicht so lange bleiben dürften, weil seine Frau jeden Mittag schlafen müsse. Mine und ich sahen entsetzt zu unserer Anne hinüber.

Wir waren noch gar nicht lange da, und dass man seine Gäste zum Gehen auffordert, war bei uns eine große Beleidigung.

Onkel Ali, den wir seit Jahren kannten, saß oft bis spät in die Nacht bei uns. Mein Baba musste am nächsten Tag früh zur Arbeit und obwohl Baba den Onkel Ali außerdem nicht mochte, hätten weder Anne noch Baba Onkel Ali zum Gehen aufgefordert.

Meine Anne ließ sich nichts anmerken, obwohl ihre Wangen ganz rot wurden. Sie schaute auf die Uhr und sagte, dass wir sowieso gehen müssten, weil unser Baba Nachtschicht hätte. Das war natürlich eine Ausrede, der Müll wurde immer tagsüber abgeholt.

Wir gaben Frau Huber die Hand und bedankten uns nochmals für alles. Herr Huber begleitete uns zur Haustür und sagte, dass er noch eine Überraschung für uns hätte. „Der schenkt uns bestimmt noch Rhabarber“, flüsterte Mine und ich musste lachen.

Herr Huber streckte uns zwei blaue Müllsäcke entgegen und sagte: „Die sind für euch. Meine Frau hat ihre alten Kleider aussortiert. Da sind ein paar ganz gute Sachen dabei.“ Er drückte meiner Anne die Säcke in die Hand.

|33|Meine Anne stand da und sagte nichts. Mine und ich sahen uns an und hofften, dass Anne sie nicht annehmen würde. Wir hatten nicht viel Geld und weil wir so schnell wie möglich in unsere Heimat zurück wollten, mussten wir auch immer sparen. Aber wir hatten noch nie abgetragene Sachen anziehen müssen. Meine Anne nähte uns immer sehr schöne Kleider aus neuen Stoffen. Ich hasste diesen Mann und fand ihn gar nicht mehr nett. Meine Anne bekam ganz rote Flecken im Gesicht. Aber sie bedankte sich bei ihrem Abteilungsleiter und legte die Säcke in den Kofferraum. Jetzt schämte ich mich noch mehr. Warum tat sie das nur?

Mine und ich setzten uns auf die Rückbank des Autos und Anne fuhr gleich los. Mine fing an zu schimpfen und bestand darauf, dass wir Herrn Huber die blauen Säcke wieder vor die Tür stellen sollten. Anne versprach uns, alles sofort wegzuschmeißen. Sie habe es nur aus Höflichkeit angenommen. Anne sagte auch, dass sie ihren Arbeitsplatz nicht verlieren wolle und dass wir Türken höfliche Menschen seien.

„Anne, wir waren doch die Krone auf seinem Haupt, und er hat uns mit Füßen getreten!“

Ich gab Mine einen Klaps, damit sie endlich ihren Mund hielt.

Ich sah im Rückspiegel, dass meiner Anne ganz viele Tränen über ihr schönes Gesicht kullerten.

Wir durften unserem Baba nichts davon erzählen, und meine Anne stellte die beiden Säcke heimlich vor Onkel Alis Haustür ab.