|106|Nur wer Tinte leckt, wird seinem Volk dienen

Am nächsten Morgen wurden wir ganz früh vom Briefträger geweckt. Meine Anne hatte uns wieder einen Brief geschrieben. Ablam riss den Brief gleich auf. Meine arme Anne war ganz lange krank gewesen und konnte nicht mal arbeiten gehen. Sie vermisste uns sehr und sie wollte auch bald kommen, aber sie wusste nicht, wann das sein würde.

„Yavrularim, ich komme bestimmt bald“, war ihr letzter Satz.

Annem hatte uns diesmal ein Foto geschickt, auf dem sie gerade ein Kleid für Ablam oder mich nähte. Annem hatte noch hellere Haut als sonst und ihre Augen waren traurig.

„Mine, riech mal, hmm, es riecht nach Annem“, sagte ich, und dann durfte sie auch mal riechen. „Es riecht gar nicht nach Anne“, sagte Mine und rannte in den Hof. Ich glaube, sie war sehr traurig und wütend.

Nach einer Weile saßen wir alle draußen. Auf dem offenen Feuer köchelten Hagebutten in unserem großen Topf. Hagebuttenmarmelade aß ich am liebsten. Wir hatten mit Babaanne zusammen zwei Säcke Hagebutten im Wald gesammelt. „Mädchen, ihr seid sehr fleißig gewesen“, lobte uns Babaanne, und zur Belohnung durften wir Kleider aus unserem Deutschlandkoffer anziehen.

„Babaanne, wie gefällt dir mein Kleid?“ Ablam tanzte mit ihrem kurzen Rock hin und her.

„Das ist viel zu kurz, Kızım, zieh dir sofort etwas drüber“, schrie Babaanne. Aber Mine hob ihren Rock noch etwas höher, um Babaanne zu ärgern. Plötzlich klopfte es am Tor.

„Kim O? Wer da?“, rief Babaanne.

„Nazim Öğretmen“, ertönte eine tiefe Stimme. Es war der |107|Dorflehrer Nazim. Ein großer Mann mit kurzen, dunklen Haaren kam durch unser Tor und küsste Babaannes Hand. Ablam und ich begrüßten Nazim Öğretmen und küssten auch seine Hand. Dann setzten wir uns neben Babaanne und waren sehr neugierig auf unseren Gast. Der Mann sah nett und klug aus. Er trug einen grauen Anzug und hatte eine schwarze Tasche unter dem Arm.

„Teyzem, deine Enkeltochter solltest du in die Schule schicken, sie ist schon ein großes Mädchen. Du willst doch nicht, dass sie später unwissend und hilflos wird, oder?“

Babaanne rührte die Kizilcikmarmelade weiter und ihre Augenbrauen zogen sich zu einem einzigen breiten Strich zusammen.

„Ich bin auch unwissend! Aber sieh her, ich bin auch nicht daran gestorben, Allah sei Dank!“, antwortete Babaanne und klopfte mit ihrem großen Kochlöffel auf den Topf.

„Die Entscheidung liegt bei dir, Teyze, überlege es dir gut. Die Verantwortung für diese Kinder liegt in deiner Hand. Nur wer Tinte leckt, wird seinem Volk dienen“, sagte der Lehrer. Er half Babaanne den Marmeladentopf beiseitezustellen. Babaanne kochte ihm einen Mokka. Nazim Öğretmen erzählte Babaanne, dass unwissende Menschen immer Unheil anrichten würden, und dass Atatürk nur Menschen geliebt habe, die wissend waren.

Nachdem Nazim Öğretmen seinen Mokka getrunken hatte, küsste er noch einmal die Hand von Babaanne und sagte zu Mine, dass er in der Schule auf sie warten würde. Dann ging er fort. Babaanne hatte sich gar nicht über den Besuch gefreut. Sie rührte die Marmelade weiter, und ihre Augenbrauen blieben ganz lange ein Strich.

Bis zum Abendessen sprach Babaanne kein Wort mit uns.

|108|„Babaanne, jetzt sind wir seit elf Monaten hier, und Baba wollte, dass du mich gleich in die Schule schickst. Wir sind doch Kinder von Atatürk, und deswegen müssen wir Tinte lecken“, sagte Mine leise.

Babaanne gab keine Antwort. Mine zog nur die Schultern hoch und ging schlafen.

Babaanne war tagelang sehr nachdenklich, und dann sagte sie: „Hadi, Kizlar, wir gehen heute einkaufen! Mine braucht eine Schuluniform, Papier und Tinte. Ihr sollt nicht unwissend bleiben.“

Ablam bekam eine schwarze Uniform mit einem weißen Kragen und weißen Strümpfen. Mir kaufte Babaanne gezuckerte Leblebi und einen Bleistift. Ich war ja noch zu klein für die Schule. Ablam durfte ihre Uniform gleich tragen, und sie war ganz stolz darauf! Sie bedankte sich bei Babaanne und fiel ihr um den Hals.

„Kiz dur, Mädchen warte, du erwürgst mich ja noch“, sagte sie und gab Mine einen Kuss auf die Stirn.

 

Am nächsten Morgen standen wir alle ganz früh auf, um Ablam in die Schule zu bringen. Sie war sehr aufgeregt und summte die Nationalhymne.

„Maşallah, Maşallah“, sagte Babaanne immer wieder und stolzierte mit uns in die Schule.

Der Schulhof war voller Kinder und alle sahen in ihren Uniformen gleich aus. Babaanne nahm uns an der Hand, und wir gingen gleich zu Nazim Öğretmen.

„Jetzt hast du die Verantwortung für meine Enkeltochter, behüte sie wie dein rechtes Auge“, sagte Babaanne.

Der Lehrer nickte nur mit dem Kopf und küsste wieder die Hand von Babaanne. Ablam ging zu den anderen Kindern, und alle sangen die Nationalhymne. Babaanne wischte |109|sich die Tränen aus den Augen, und wir gingen ohne meine Abla nach Hause.

Wir wohnten ganz in der Nähe der Schule, und Ablam durfte allein nach Hause laufen. Babaanne schickte trotzdem Yalcin in die Schule. Er sollte auf Mine warten, damit sie nicht alleine nach Hause gehen musste.

„Allahım, ich habe auch keinen Verstand mehr! Eine Ameise würde Mine mehr Schutz geben als Yalcin!“, sagte sie und fing an zu lachen. Ich musste daheim auf Ablam warten und durfte Yalcin nicht begleiten.

 

Mine kam ganz lustig aus der Schule zurück und hatte viel zu erzählen. Sie stellte sich hin wie ein Soldat und begann die Nationalhymne zu singen: „Kkorkma sönmez bu safaklarda yüzen alsancak, sönmeden yurdumun üstünde ...“ Babaanne fing an zu weinen, da weinte ich auch.

„Kızım, hast du das alles heute gelernt?“

„Ja, Babaanne“, antwortete Mine.

„Ich bin so stolz auf dich, mein Kind, wir hätten dich viel früher in die Schule schicken müssen. Du wirst bestimmt mal eine bedeutende Frau für unser Land“, sagte Babaanne und streckte Mine ihre Hand zum Küssen entgegen.

Puh, Mine und bedeutende Frau? Da lachten ja die Hühner im Stall! Also, so viel hatte sie auch nicht gelernt, schließlich war sie den ganzen Tag in der Schule gewesen.

Yalcin klopfte an das Tor und zog immer wieder die Schultern hoch, er war ganz außer sich.

Babaanne klopfte Yalcin auf die Schulter und fragte: „Hast du Mine nicht gefunden? Zavalli Deli, du armer Dummkopf. Wer hat sie wohl geklaut?“

Yalcin wurde noch unruhiger, dann ließ Babaanne ihn endlich in den Hof. Als er Mine sah, fing er wieder vor |110|Freude an zu hüpfen. Ich ging gleich ins Haus, da sich niemand für mich interessierte.

Mine saß im Wohnzimmer, machte ihre Hausaufgaben, und immer wenn Babaanne „Kızım, sing es noch einmal“ sagte, schmetterte Mine wieder die Nationalhymne. Ich konnte es nicht mehr hören! „Maşallah, wundervoll, Kızım“, sagte Babaanne ganz stolz.

Mine ging sehr gerne in die Schule, und sie machte jeden Tag ihre Hausaufgaben. Eigentlich war ich ja inzwischen schon siebeneinhalb Jahre, und trotzdem durfte ich von Babaanne aus nicht in die Schule. Sie meinte, ich sei noch zu klein. Der Lehrer Nazim war zwar sehr streng, aber Ablam sagte immer, dass er viel besser wäre als ihre deutsche Lehrerin. Sie konnte auch schon alle türkischen Buchstaben schreiben. Nach drei Wochen kam der Lehrer jedoch plötzlich nicht mehr. Nazim Öğretmen wurde während des Unterrichts von den Polizisten einfach mitgenommen. Er hätte den Kindern Geschichten erzählt, die gegen Atatürk gerichtet waren, und verbotene Bücher über Gleichberechtigung und Kommunismus gelesen, hieß es. Mine war sehr traurig darüber, weil sie Nazim Öğretmen so gern gehabt hatte. Manche Erwachsene behaupteten sogar, dass Nazim ein Verräter sei.

Also, Babaanne wusste zwar nicht, was ein Kommunist war, aber sie war überzeugt, dass Nazim Öğretmen nichts Schlechtes getan haben konnte.

Ablam und die anderen Kinder in der Schule mussten wochenlang auf einen neuen Lehrer warten. „Wer will schon nach Alaca versetzt werden?“, sagte Babaanne.

 

Nach zwei Monaten kam endlich ein neuer Lehrer nach Alaca. Sein Name war Ömer Öğretmen. Die Leute in Alaca hatten ihm gleich einen Spitznamen gegeben „Kütük Ömer“.

|111|Ömer Öğretmen war klein, dick, hatte keinen Hals und ganz kurze Arme. Deshalb nannten sie ihn „Baumstumpf-Ömer“.

Als Babaanne den neuen Lehrer das erste Mal sah, sagte sie gleich: „Inşallah begegnet der uns nicht nachts, da bekommt man ja Angst.“

Ömer Öğretmen kam aus Konya, und da haben die Menschen auch ganz wenig Farben auf dem Kopf und sind stark behaart. Ömer Öğretmen war sehr gläubig. Manchmal sah man ihn auf dem Schulhof auf seinem Gebetsteppich beten, und trotzdem waren die Menschen in Alaca sehr skeptisch.

Nach ein paar Tagen wollte Mine nicht mehr in die Schule gehen, weil sie „Kütük Ömer“ nicht leiden konnte. Er hatte Ablam nichts Böses getan, aber er zog die Jungen an den Ohren und manchen hatte er sogar mit seinem Stock auf die Handinnenflächen geschlagen.

„Das hätte Nazim Öğretmen nie getan“, sagte Ablam.

„Wenn er dir auch nur ein Haar krümmt, schicke ich ihn nach Konya, mach dir keine Sorgen“, versprach Babaannem.

Als „Kütük Ömer“ erfuhr, dass Ablam Alamanci war, wurde sie plötzlich zu seinem Schützling.

„Schreibe deinem Vater, er soll mich auch nach Alamanya mitnehmen“, sagte er immer zu Ablam, und Mine nickte, ohne ihm zu antworten. Babaanne gefiel das gar nicht.

„Eşoleşek, was will der in Alamanya?“, fragte sie, aber dann war sie froh, dass Ablam wieder gerne in die Schule ging.