Frauen haben keinen Namen

Unsere Eltern stritten sich zwar nicht mehr so häufig, aber glücklich waren sie nicht. Mein Vater gab sich Mühe, in unserer Familie anwesend zu sein, aber nur, weil er sich vor den depressiven Phasen meiner Mutter fürchtete.

Birsen Teyze wurde die beste Freundin von unserer Mutter, und wir freuten uns immer auf ihren Besuch. Birsen Teyze war inzwischen die lustigste türkische Frau, die ich kannte, und Anne sagte immer, ohne einen Mann habe man wenigstens noch etwas zu lachen im Leben.

Ja, Birsen Teyze war insgeheim ein Stück Freiheit, Traum und Hoffnung für die meisten türkischen Frauen in unserem Freundeskreis.

Birsen Teyze mochte die Erziehungsmethoden unserer Eltern und anderer Türken nicht: „Ihr nehmt euren Töchtern die Luft zum Atmen“, sagte sie immer. „Und irgendwann |159|werden sie innerlich sterben und ihr werdet es nicht einmal merken!“

Anne wurde nach diesen Worten sehr nachdenklich, aber da Tante Birsen keine Töchter, sondern nur Söhne hatte, die auch noch bei ihren Großeltern in der Türkei lebten, erwiderte Anne diese Worte letztlich doch immer nur mit Schulterzucken.

Birsen Teyze besuchte uns immer dann, wenn mein Vater nicht zu Hause war. Sie mochte meinen Vater nicht. Aber das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Mine und ich wollten unbedingt einmal bei Birsen Teyze übernachten und Anne hatte es uns nach langem Zögern auch erlaubt.

Es war einer der schönsten Abende in unserem Leben. Kichernd gingen wir durch „Aldi“ und packten den Einkaufswagen voll mit Chips, Cola und Schokolade. „Mädchen, heute lassen wir es krachen“, sagte Tante Birsen und nahm noch eine große Flasche Wein mit.

Birsen Teyze hatte eine sehr kleine, aber schöne Wohnung. An der Wand hingen einige Fotos von ihren zwei Söhnen. Mine und ich standen vor einem großen Bücherregal und waren überrascht, dass Birsen Teyze so viele Bücher besaß.

„Wenn ihr eines dieser Bücher mal gelesen habt, versteht ihr unsere Welt besser“, sagte sie und drückte Mine eines in die Hand.

Wir bereiteten gemeinsam das Abendessen vor und deckten den Tisch, nur für uns drei Frauen. Während wir aßen, erzählte uns Birsen Teyze von ihren Büchern.

„Mädchen, Duygu Asena ist die Antwort auf unsere Fragen“, sagte sie.

Duygu Asena sei eine Feministin und alle Männer würden sie deshalb hassen.

|160|„Sie ist die mutigste Frau in der Türkei und sie ist unser Idol, unsere Hoffnung. Es lebe Duygu Asena!“, rief Birsen Teyze und erhob ihr Weinglas.

Es sollte eine unvergessliche Nacht werden. Birsen Teyze sagte Worte, die mein Herz höher schlagen ließen. Sie trank ein Glas Wein nach dem anderen, und ihre Zunge wurde immer schärfer. Sie nahm ein Buch aus dem Regal und zitierte ein paar Sätze. Es waren Worte gegen Männer, gegen die Unterdrückung der Frauen, über die körperliche Gewalt, die Frauen nicht nur in der Türkei, sondern auf der ganzen Welt angetan wurde.

Jeder Satz aus ihrem Mund erinnerte mich an meine Anne, an Hayriye Teyze, Gönül Teyze, Ayse Teyze und die frisch verheiratete Sibel Teyze, an meine Babaanne und an die anderen Frauen, die wir kannten.

Birsen Teyze zog ein anderes Buch aus ihrem Regal und hielt es hoch. Der Titel des Buches ließ mich schaudern: „Frauen haben keinen Namen“.

„Evet, Kizlar, wir haben keinen Namen!“

Sie knallte das Buch auf den Tisch. Mine und ich zuckten zusammen.

„Das zeigt doch, wie viel Rechte wir als Frauen haben. Nämlich gar keine!“, sagte sie und nahm noch einen Schluck von ihrem Wein. „Kämpft Mädchen, kämpft um einen Namen, dann seid ihr frei!“

Mine lächelte und erklärte Birsen Teyze, dass man bei unseren Eltern nie frei sein könne.

„Ihr müsst Tinte lecken. Ihr müsst studieren und an die Universität gehen. Das gibt euch Flügel, Mädchen! Vor Universitäten und belesenen Frauen haben Männer Angst und Respekt. Oder ihr werdet reich, dann seid ihr auch frei!“, sagte sie und wir mussten alle lachen.

|161|„Para, Geld, das stellt die Ehre wieder her. Klug oder reich müsst ihr sein, dann habt ihr einen Namen“, sagte sie, breitete ihre Arme aus und kreiste um den Tisch, als würde sie fliegen. Mine und ich flogen hinterher und hatten großen Spaß!

Birsen Teyze war der Meinung, dass wir türkischen Frauen die besten Manager und Politiker sein müssten, da wir von klein auf dazu gezwungen seien, uns zu organisieren und zu lügen. Mein Herz begann zu pochen, und ich fühlte mich plötzlich ertappt. Schließlich verschaffte ich mir durch meine geschickten Ausreden oder auch Lügen immer mehr Freiheiten.

Birsen Teyze, besser gesagt Duygu Asena war der Meinung, dass wir Frauen lügen müssten, um überhaupt atmen zu können. Also war das, was ich täglich praktizierte, gar nicht so schlimm. Und eine Frau wie Duygu Asena musste es ja wohl wissen! Dies war ein Kompliment und eine Bestätigung meines Verhaltens.

So euphorisch hatten wir Birsen Teyze noch nie erlebt. Wir redeten fast die ganze Nacht, und einige Fragen, die ich nie zu stellen gewagt hätte, wurden in dieser Nacht beantwortet. Fragen über Allah, Christen und andere Religionen. Birsen Teyze fand auch andere Religionen gut, an die wir nicht mal denken durften, da man sonst, laut meiner Mutter, versteinern würde.

„Männer benutzen Allah immer, um uns klein zu halten“, sagte sie, zog noch ein Buch aus dem Regal und schlug eine bestimmte Seite darin auf.

„Seht her, Mädchen, hier sind einige Suren aus dem Koran übersetzt“, sagte sie und wir waren ganz erstaunt, dass es überhaupt eine Übersetzung des Korans gab. In dieser Sure wurde die Frau als heilig, sogar als unantastbar beschrieben. |162|Der Mann müsse für die Familie sorgen und er habe der Frau keine Befehle zu erteilen.

„Also eins steht fest, unser Vater hat den Koran noch nie gelesen!“, sagte ich und knallte meine Faust auf den Tisch.

Birsen Teyze und meine Schwester lachten. Birsen Teyze hob das Buch etwas höher und las weiter: „Bei Impotenz des Mannes darf sich die Frau scheiden lassen!“ Birsen Teyze sah uns an.

„Kizlar, ihr wisst doch, was das ist, oder?“ Mine und ich sahen beschämt auf den Boden und Birsen Teyze fing wieder an zu lachen.

Ich glaube, sie war glücklich, endlich mal mit jemandem darüber zu reden. Und wir waren glücklich, dass wir bei Birsen Teyze sein durften. Es fühlte sich plötzlich alles so gut an. Wir fühlten uns stark, überlegen und waren stolz darauf, Frauen zu sein!

Die Nacht verabschiedete sich und hinterließ uns ein Paar Flügel. Gedanken, die uns unser Leben lang begleiten sollten. Bücher, die wir später nicht mehr aus der Hand ließen, und Zitate, die uns und unser Leben prägten.

 

Am nächsten Morgen wurden wir durch ununterbrochenes Klingeln aus dem Schlaf gerissen. Baba kam in die Wohnung, sah die Weinflasche auf dem Tisch stehen und warf Birsen Teyze einen bösen Blick zu.

„Na, das dürfte dir doch nicht fremd sein“, sagte sie und lächelte unseren Vater an. Sie erntete einen missbilligenden Blick von ihm.

Wortlos nahmen wir unsere Jacken und verabschiedeten uns von Birsen Teyze. Sie drückte Mine ein Buch von Duygu Asena in die Hand.

„Nicht aufgeben, Kizlar!“, flüsterte sie.

|163|Wir liefen unserem Vater hinterher und versuchten dabei, keinerlei Geräusche zu erzeugen. „Schuldig“, lautete das Urteil. Jeder Schritt von ihm war wie eine Verurteilung, und all die schönen Gefühle waren plötzlich weg.

Mine nahm meine Hand und lächelte mir zu.

„Hab keine Angst“, sagte sie. „Er macht sich groß, weil er so klein ist!“

Ich nickte und lächelte zurück. Wir breiteten unsere Arme aus und flogen hinter unserem Vater her!