Mein Freund Yalcin

Ablam und ich durften manchmal ohne Babaanne bei Necmi Amca einkaufen gehen. Unterwegs trafen wir ganz viele Leute, die sich alle nach unserer Anne erkundigten. „Alamanci-Mädchen, ist eure Anne schon da?“

„Hayır, aber sie kommt bald“, antwortete Ablam.

„Inşallah, Yavrum, Inşallah“, sagten alle und streichelten uns über die Haare.

Necmi Amca hatte neue Ware bekommen. In seinem Schaufenster lag ein wunderschöner roter Ball mit weißen Punkten. Aber der war viel zu teuer, soviel Geld hatten wir nicht.

Mine ging in den Laden, um Petroleum und Kerzen zu kaufen, aber ich blieb vor dem Schaufenster stehen und sah mir die schönen Sachen von Necmi Amca an. Plötzlich stand ein großer Mann neben mir. Er war so nah, dass ich ihn sogar atmen hören konnte. Es war Yalcin, ich sah sein Spielgelbild |95|ganz deutlich im Fenster von Necmi Amca. Zuerst versuchte ich, ihn gar nicht anzusehen, aber meine Angst wurde immer größer. Eigentlich wollte ich gleich zu meiner Abla gehen, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Ich starrte Yalcin im Fenster an, versuchte, mich gar nicht zu bewegen, da zeigte er plötzlich auf den Ball und lachte mich an. Er versuchte, mir etwas zu sagen, aber ich konnte ihn nicht verstehen.

Ich sah ihm ganz mutig direkt in die Augen. „Ne oldu, was willst du?“

Yalcin zeigte wieder auf den Ball und klatschte in die Hände.

Babaanne hatte uns erzählt, dass Yalcin nicht sprechen konnte, weil er keine Zunge hatte. Seine Anne war schon vor langer Zeit gestorben. Danach musste er bei seinem Stiefvater leben. Damals war Yalcin noch ein kleiner Junge, und sein Stiefvater war ein sehr böser Mensch, der Yalcin oft verprügelte. Eines Tages nahm er sein Taschenmesser und schnitt Yalcin die Zunge ab. Danach musste er ins Gefängnis, und Yalcin blieb ganz allein. Eigentlich war er aber gar nicht allein, weil das ganze Dorf für ihn sorgte.

Babaanne sagte immer: „Dieser Hurensohn hat ihm nicht nur die Zunge abgeschnitten, er hat ihm auch sein Gehirn genommen.“

Yalcin beugte sich zu mir runter und streichelte sich selbst die Wange, bevor er mir seine Hand entgegenstreckte. Zuerst wollte ich nicht, aber dann gab ich ihm doch meine Hand. Er küsste sie und gab mir eine Handvoll Leblebi aus seiner Hosentasche. Die Kichererbsen waren ganz feucht. Dann zeigte er wieder auf den roten Ball. Ich nickte ihm zu, und zog die Schultern hoch.

„Du sollst nicht mit ihm sprechen. Du weißt doch, dass er verrückt ist“, schimpfte Mine und zerrte mich weg.

|96|„Lass mich los, das weiß ich selber!“, antwortete ich wütend.

Ich winkte Yalcin noch einmal kurz zu, und wir machten uns auf den Weg nach Hause. Mit einem Mal standen wieder ganz viele Jungen um Yalcin herum und begannen, ihn zu ärgern. Sümüklü Ali gab Yalcin einen Tritt in den Hintern und rannte einfach weg. Diesmal gefiel es Yalcin gar nicht, dass die Jungs ihn ärgerten, aber er wehrte sich nicht, obwohl er viel größer und sicher auch viel stärker war als sie.

Mine und ich blieben stehen und sahen, wie Yalcin versuchte wegzurennen, aber die Jungs ließen ihn nicht gehen.

Ablam nahm ein paar Steine in die Hand und rannte zurück. „Haut sofort ab, lasst ihn in Ruhe, sonst hole ich Babaanne!“

Sie warf einen Stein nach Ali. „Verschwindet, los, haut ab!“, schrie Ablam. „Dich nennt man nicht umsonst den verrotzten Ali. Lern erst mal deine Nase putzen.“ Mine warf noch einen Stein hinter Sümüklü Ali her.

Da rannten alle davon. Vor meiner Babaanne hatten die meisten in Alaca nicht nur Respekt, sondern Angst. Einmal hatte meine Babaanne einen Mann geschlagen, weil er einem Mädchen hinterhergepfiffen hatte. Meine Babaanne war richtig stark. Außerdem durfte man sich älteren Menschen gegenüber nicht wehren oder gar die Hand gegen sie erheben, das war ein ganz großes Vergehen!

Yalcin kam gleich zu uns und gab Mine auch eine Handvoll Kichererbsen.

„Yalcin, du bist doch viel stärker als die, warum wehrst du dich denn nicht?“

Er sah mich nur an und zog die Schultern hoch. Gemeinsam machten wir uns auf den Heimweg.

„Yalcin, stimmt es, dass du dumm bist?“

|97|Mine zwickte mich in die Hand. „So was fragt man nicht, halt den Mund.“

Yalcin schüttelte den Kopf.

„Siehst du, er ist nicht dumm“, antwortete ich.

„Nilgün, du bist manchmal so einfältig! Dumme wissen doch gar nicht, dass sie dumm sind“, flüsterte Mine.

„Hm, aber Yalcin ist nicht dumm. Stimmt’s, Yalcin?“

Yalcin freute sich, nickte und klatschte wieder in die Hände. Er brachte uns bis vor die Haustüre und saß anschließend noch ganz lange auf der Steintreppe.

Wir erzählten Babaanne, was wir erlebt hatten, und sie sagte immer wieder: „Orospu Çocuklari, das sind alles Hurensöhne!“

Dann sah sie aus dem Fenster. „Der arme Junge hat niemanden daheim, der auf ihn wartet.“

„Darf er uns mal besuchen, Babaanne?“, fragte ich. Babaanne überlegte kurz und sagte dann: „Niye olmasin, warum nicht, er ist ein harmloser Trottel.“

Da wir überhaupt keine Angst mehr vor Yalcin hatten, nützte es nun gar nichts mehr, wenn Babaanne uns abends mit „Schlaft sofort, sonst hole ich Yalcin!“ drohte. „Ihr habt es auch begriffen, dass sogar eine Fliege gefährlicher ist als Yalcin“, sagte sie und versteckte ihr Lachen.

Einige Tage später hatte Yalcin uns eine Puppe aus Stoff gemacht, die sogar Haare hatte. Er hatte einen Maiskolben mit Stoff umwickelt. Die roten Maiszipfel schauten oben raus und sahen aus wie Haare. Ich wollte ihm natürlich auch eine Freude machen und schenkte ihm ein Pustefix, das ich aus Deutschland mitgebracht hatte. Als ich ihm zeigte, wie man große Seifenblasen machen konnte, war er so begeistert, dass er einen Handstand machte. Irgendwann müssen Yalcin und ich eingeschlafen sein.

|98|„Hey, wacht auf!“, rief Mine. „Wirst du Yalcin später heiraten?“, fragte sie und wackelte mit den Hüften. Mine war manchmal richtig dumm.

 

Yalcin hatte immer gute Ideen. Er konnte sogar aus Zeitungspapier und Plastiktüten einen Ball basteln, und er wusste wie man Amseln fangen konnte. Davon war auch meine Babaanne ganz begeistert, weil wir nun viel öfter Fleisch zu essen hatten. In der Küche gab es ein Fenster, das man nach oben klappen konnte. Yalcin befestigte eine Schnur an dem Fenstergriff und ließ das Fenster offen. Auf das Fensterbrett innen streuten wir Brotkrümel und sobald die Amseln die Brotkrümel aufpickten, zog Yalcin an der Schnur und das Fenster klappte zu. Die Amseln waren gefangen und schwirrten benommen in der Küche umher. Babaanne schlug sie dann mit dem Besen runter. Zuerst überbrühte sie die Vögel mit heißem Wasser, und danach durften Mine, Yalcin und ich die Federn ausrupfen. Jeder durfte seine Amsel selbst auf dem Feuer grillen. Yalcin hatte uns richtige Grillstöcke geschnitzt, und hin und wieder durfte er mitessen.

Yalcin war der lustigste Mensch auf der ganzen Welt! Einmal hatte er sich einen schwarzen Schleier von Babaanne angezogen und war im Hof herumgelaufen wie eine Frau. Mine und ich mussten so lachen, aber als Babaanne das sah, bekam er ihren Gummischuh zu spüren. Danach versteckte sie allerdings wieder ihr Lachen.

Weil Babaanne glaubte, dass Yalcin Läuse hätte, durfte er nur ins Haus kommen, wenn er die Amseln jagte. Aber Yalcin hatte bestimmt keine Läuse, weil er doch so lieb war.

Yalcin war mein bester Freund! Wir saßen oft vor der Scheune. Ich erzählte ihm von meiner Anne, von Deutschland und von meinen Freunden. Yalcin hörte mir ganz aufmerksam |99|zu, und manchmal gefiel es ihm so gut, dass er wieder anfing zu tanzen.

„Zum Glück hat Yalcin keine Zunge, aber bei dir kommt ja einer mit Zunge auch nicht zu Wort“, sagte Babaanne immer.

Eines Tages mussten wir beide weinen, weil ich von meiner Anne erzählt hatte und Yalcin seine Anne auch sehr vermisste. Er zeigte mir, wie seine Anne ihn auf ihren Beinen hin und her in den Schlaf geschaukelt und wie sie ihm den Rücken gestreichelt hatte. Dann zeigte er mir, wie sein Stiefvater ihn geschlagen hatte und wie böse er immer auf Yalcin gewesen war. Wir hatten den leeren Kartoffelsack von Babaanne mit Zeitungspapier gefüllt und das war der Stiefvater von Yalcin. Ich nahm den Besen in die Hand und schlug seinem Stiefvater auf den Kopf. Yalcin traute sich zuerst nicht und versteckte sich bei den Hühnern, wenn ich seinem Stiefvater auf den Kopf schlug. Aber dann wurde er so mutig, dass er diesem bösen Mann mit den Füßen in den Bauch trat.

Wir spuckten ihm ins Gesicht, und dann rannten wir ganz schnell weg und versteckten uns in der Scheune. Das war Yalcins Lieblingsspiel.

„Gehen eure Ziegen mit euch durch? Was macht ihr mit dem Kartoffelsack?“, fragte Babaanne. Als ich ihr erklärte, dass es kein Kartoffelsack war, sondern der Stiefvater von Yalcin, schlug sie ihm mit der Faust auf den Kopf und spuckte ihm auch ins Gesicht. Begeistert küsste Yalcin Babaannes Hand, und wir tanzten und hüpften vor Freude im Hof herum.

„Jetzt gehen doch wieder eure Ziegen mit euch durch“, sagte Babaanne und schüttelte den Kopf.

Manchmal saßen mein Freund und ich aber auch nur da und sahen uns einfach ganz lange an.

|100|Wenn Yalcin abends nach Hause gehen musste, wurde er sehr traurig. Er saß dann oft noch lange vor unserem Tor, bis es dunkel wurde.

„Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, diesen Jungen zu verheiraten“, sagte Babaanne und sah aus dem Fenster. „Allahım, schick diesem armen Kerl ein Weib oder etwas mehr Hirn.“ Dabei sah sie hoch zu Allah und seufzte ganz laut.

„Ich würde Yalcin gleich heiraten!“, sagte ich und hüpfte aus dem Bett.

Zum ersten Mal sahen wir, wie meine Babaanne ganz laut und lange lachte, ohne sich hinter ihren Händen zu verstecken. Mine lachte mich auch aus, und ich wurde ganz rot im Gesicht, so sehr schämte ich mich. Lustig fand ich das eigentlich überhaupt nicht. Yalcin hätte ich wirklich geheiratet! Er war gar nicht so hässlich, wie ich am Anfang gedacht hatte, und mit Yalcin hätte ich doch jeden Tag spielen können. Er ging nie ins Café und er trank auch keinen Raki. Und wenn wir verheiratet wären, müsste er abends nicht nach Hause gehen.

„Schscht, geht ins Bett. Schlaft jetzt. Großer Allah, hoffentlich muss ich nicht weinen, weil ich so viel gelacht habe“, sagte sie und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Aber diesmal waren es Freudentränen.

„Gute Nacht, Kinder.“

„Gute Nacht, Babaanne.“

Babaanne musste noch immer lachen.

Ich war so froh, endlich einen Freund zu haben. Vielleicht dürfte ich ihn sogar heiraten, aber das wollte ich erst machen, wenn meine Anne bei uns war.

Yalcin kam ganz oft zu uns auf den Hof, um mit uns zu spielen. Mine gefielen unsere Spiele manchmal nicht, aber wenn es ihr langweilig war, spielte sie auch mit.

|101|Ich wollte meine Anne unbedingt fragen,ob wir Yalcin mit nach Deutschland nehmen durften. Dann müsste ich nicht mehr alleine sein, und meine Anne könnte ganz unbesorgt arbeiten.

„Yalcin, warst du eigentlich schon mal in Deutschland? Da ist es so schön! Die meisten deutschen Menschen haben Augen, so blau wie das Marmarameer. Sie haben blonde Haare und eine ganz weiße Hautfarbe. In Deutschland ist es sauber auf den Straßen, da liegt nicht so viel Müll herum wie hier, und da laufen auch keine Tiere frei herum. Ich habe ganz viele deutsche Freunde“, erzählte ich meinem Freund, der vor Freude in die Hände klatschte.

Ich erzählte ihm von dem netten Metzger, der mir immer die Schweinewurst gab, die ich ja nie essen durfte, von Helene und von Paola und Giuseppe. Yalcin grunzte wie ein Schwein und machte eine Steckdosennase. Das machte Yalcin immer, wenn ich von Deutschland erzählte. In Alaca dachten die Leute nämlich, dass die Deutschen aussähen wie Schweine, weil sie Schweinefleisch aßen.

„Yalcin, würdest du mit uns nach Deutschland kommen?“

Yalcin nickte, stand auf und fing wieder an zu tanzen.

„Yalcin, wie alt bist du eigentlich?“

Er zeigte seine zehn Finger zweimal und ich zählte nach.

„Du bist zwanzig Jahre alt? Dann muss ich ja Amca zu dir sagen.“

Yalcin schüttelte den Kopf, nahm meine Hand und drückte mir einen Kuss darauf.

„Darf ich deine Zunge mal sehen?“

Yalcin öffnete seinen Mund und er hatte tatsächlich keine Zunge. Es war nur ein Klumpen zu sehen. Ich drückte ihn ganz fest und streichelte seine Haare, so wie es meine Anne immer mit mir gemacht hatte. Dann schlug ich wieder auf |102|seinen Üveybaba ein und spuckte ihm ins Gesicht, wie meine Babaanne das auch getan hatte.

Manchmal jagte Babaanne meinen Freund einfach weg, weil sie Angst hatte, dass wir Yalcin eines Tages nicht mehr loswürden, und sie wollte nicht, dass er sich an uns gewöhnte. Schließlich würde uns Anne bald abholen kommen, und dann wäre Yalcin wieder einsam. Babaanne konnte natürlich nicht wissen, dass ich meinen Freund mitnehmen wollte.