|170|Ein Brief aus der Türkei

Meine süße Tochter,

Inşallah geht es dir gut in der Fremde. Wir danken Allah, dass er uns diese Tage geschenkt hat. Nun sind wir seit sechs Monaten in unserer Heimat, und der Muezzin erfüllt fünfmal am Tag unsere Herzen mit Allah. Meine Zunge ist sehr zögerlich, wenn ich Heimat sage. Zwanzig Jahre Deutschland haben aus uns „Deutschtürken“ gemacht. Hier erkennt uns jeder von weitem. Beim Metzger, auf der Bank oder beim Arzt. Wie werden immer gleich gefragt, ob wir „Alamanci“ sind. Als würde es auf unserer Stirn stehen. Wir waren zwanzig Jahre Ausländer und müssen wahrscheinlich den Rest unseres Lebens in der eigenen Heimat auch als Ausländer verbringen. Vieles hat sich hier verändert, oder wir sind nicht mehr die Alten. Warum soll ich lügen, Allah kennt mein Herz. Ich vermisse unsere Freunde in Deutschland, die langen Abende und die schönen Gespräche über die Sehnsucht nach der Heimat. Vielleicht war die Sehnsucht schöner als ihre Erfüllung. Ich weiß es nicht, meine Tochter. Nun sind unsere Herzen wieder mit Sehnsucht erfüllt, nach dir und nach unseren Freunden, die noch in Deutschland leben. Wir vermissen die Sauberkeit und die Ordnung in Deutschland. Hier wirft jeder seinen Müll einfach auf die Straße, und es gibt so viele Menschen, die ständig jammern. Ich verstehe diese Menschen nicht! Du siehst, mein Herz ist voll Kummer und Sehnsucht. Allah möge uns beistehen. Wir werden uns hier schon einleben, mach dir keine Sorgen. Ich hoffe nur, dass es nicht noch mal zwanzig Jahre dauert.

Birsen schreibt uns regelmäßig aus Ankara. Einer ihrer Söhne hat sofort nach seinem Studium geheiratet. Bruder Ali |171|hat uns schon zweimal besucht, aber er hat immer noch keinen reichen Schwiegersohn gefunden.

Es ist so schön, Freunde aus alten Zeiten zu sehen. Deinem Vater geht es gut. Er sitzt viel im Café, und wie du weißt, betet Hasan, seit wir hier leben, fünfmal am Tag.

Mine, Ismail und deinem Neffen Ersan und deiner Nichte Damla geht es gut. Die Kinder erfüllen unsere Herzen mit Freude! Mine spricht nicht viel über ihre Ehe, trotzdem habe ich das Gefühl, dass mein Schicksal auf ihre Stirn geschrieben ist.

Wir vermissen dich sehr. Du hattest ja schon immer deinen eigenen Kopf. Wir beten zu Allah, dass du nach deinem Studium zurück in die „Heimat“ kommst. Wir vertrauen dir, denn schließlich bist du schon fast einundzwanig Jahre alt.

Du hast als Kind immer von einer Brücke zwischen Deutschland und der Türkei geträumt.

Daran denke ich jetzt sehr oft. Und wenn es nur ein Traum ist, so ist es nun auch meiner.

Ich küsse dich auf deine schwarzen Augen, und möge Allah uns bald zusammenbringen

 

In Liebe

Annen