|61|Keiner will mich haben!

Nachdem mir die böse Schwester Annemarie im Kindergarten den Hintern versohlt hatte, musste ich da nie wieder hin. Die meisten Freundinnen von Anne, bei denen ich schon mal war, wollten allerdings auch nicht mehr auf mich aufpassen, und einige hatten keine Zeit. Nach den Sommerferien durfte ich in die Schule gehen. Aber bis dahin waren noch ein paar Monate zu überbrücken.

Einmal musste ich bei Ünser Teyze bleiben, aber die konnte ich überhaupt nicht leiden. Als meine Anne ging, sperrte ich mich im Klo ein. Ünser Teyze bat mich immer wieder herauszukommen, aber nach einer Weile gab ich ihr einfach keine Antwort mehr.

Sie musste den Hausmeister holen und das Türschloss kaputt machen lassen. Ünser Teyze dachte, dass mir was passiert sei, und hatte große Angst um mich gehabt. Sie musste sogar wegen mir weinen. Aber ich konnte sie trotzdem nicht leiden, und sie wollte mich dann auch nicht mehr haben.

„Adalet, ich würde wirklich alles für dich tun, aber Nilgün ist ein schwieriges Kind. Bitte sei mir nicht böse, ich kann sie nicht mehr nehmen“, sagte Ünser Teyze. Annem nickte nur mit dem Kopf, und wir machten uns auf den Heimweg.

„Anne, bist du wegen mir traurig?“

„Du machst es mir wirklich nicht einfach, Nilgün. Keiner will dich haben! Was soll ich denn mit dir machen?“, sagte sie und hob die Hände betend zu Allah.

Alles war meine Schuld. Anne hatte recht, was sollte sie nur mit mir machen?

Plötzlich kam uns Yildiz Teyze entgegen. Anne erzählte ihr, wo wir schon überall gewesen waren, und dass die meisten |62|für mich keine Zeit hätten und niemand mich haben wollte.

„Vah, vah, du armes Kind“ sagte Yildiz Teyze und klopfte sich die ganze Zeit auf ihre dicken Schenkel. Yildiz Teyze war sogar kleiner als meine Anne und fast so breit wie mein Baba. Yildiz Teyze hatte gelbe Haare, eine kleine spitze Nase und rot lackierte Nägel. Sie und ihr Mann hatten uns einmal besucht, danach hatte Baba eine Kopfschmerztablette gebraucht.

„Allah hat Yildiz zwei zusätzliche Zungen, statt zwei Ohren gegeben“, sagte Baba.

Yildiz Teyze konnte sogar beim Einatmen sprechen, und deshalb machte sie überhaupt keine Pausen.

Yildiz hatte zwei Söhne, aber die waren beide schon groß, und der ältere ging in der Türkei auf die Universität. Sie und ihr Mann waren schon sehr lange in Deutschland. Yildiz Teyze war seit einiger Zeit arbeitslos und konnte ganz oft in die Türkei fliegen.

„Adalet, ich kann die Kleine zwei Monate nehmen, danach gehe ich wieder für vier Wochen in die Türkei“ sagte sie.

Anne freute sich sehr und versicherte ihr, dass sie mit mir keinen Ärger haben würde. Yildiz Teyze zwinkerte mir zu und sie versprach mir, meine Nägel auch rot zu lackieren. Vor Yildiz Teyze hatte ich keine Angst, und ich freute mich auf rote Nägel.

Annem hatte noch zwei Tage Urlaub und es war wunderschön, sie für mich allein zu haben. Mine ging in die Schule und Baba zur Arbeit. Wir frühstückten gemeinsam, und Annem kochte ein leckeres Mittagessen.

Leider musste Anne wieder arbeiten gehen, und ich wurde wie verabredet zu Yildiz Teyze gebracht. Diesmal war ich |63|nicht ganz so traurig, da mir alles lieber war, als in den Kindergarten zu gehen.

Yildiz Teyze öffnete die Tür und gab mir gleich einen nassen Kuss auf die Backe. Sie sah aus wie ein Pilz. Ihre gelben Haare hatte sie glatt nach unten gekämmt und ihre Zunge bewegte sie wieder ohne Pause.

Annem verabschiedete sich und ich ging mit Yildiz Teyze in die Küche.

Der Tisch war noch gedeckt und Yildiz Teyze hatte Knoblauchwurst in der Pfanne.

„Du musst viel essen, dann wirst du groß und stark“, sagte sie.

Yildiz hatte wahrscheinlich auch viel gegessen, gewachsen war sie allerdings nicht sehr viel. Aber dafür war sie sehr breit und hatte immer großen Hunger.

Nach dem Frühstück durfte ich ihr beim Erbsenenthülsen helfen, und wir schälten gemeinsam ganz viele Kartoffeln.

Yildiz Teyze erzählte mir von ihren klugen Söhnen und, sie erklärte mir, was man auf einer Universität macht.

„So, du musst ja am Verhungern sein, gleich gibt es Essen.“

„Hayır, Yildiz Teyze, mein Bauch ist doch noch voll!“

„Das kommt dir nur so vor, mit dem Essen kommt der Hunger“, sagte sie. „Nicht dass deine Anne meint, du würdest bei mir nicht satt.“ Sie stellte mir einen Teller Erbsensuppe hin, der bis zum Rand gefüllt war.

„Wenn du alles aufisst, dann lackiere ich deine Nägel rot“, sagte sie und fing selber auch an zu essen.

Ich aß und aß, aber das Essen wurde nicht weniger, und in meinem Bauch war überhaupt kein Platz mehr. Ich gab mir große Mühe, nahm einen Löffel von der Suppe und spülte sie gleich mit einem Schluck Wasser hinunter. Yildiz Teyze |64|aß zwei Teller voll, und sie konnte sogar mit vollem Mund sprechen.

Ich hatte meine Suppe fast aufgegessen, aber mein Bauch tat schrecklich weh.

Yildiz Teyze ging ins Bad und brachte ihren roten Nagellack. Meine Anne hatte sich noch nie ihre Nägel rot lackiert, weil das Günah war. Man war unrein, weil unter den Lack kein Wasser hinkommen konnte. Aber ich durfte mir die Nägel lackieren lassen, meine Anne hatte es mir erlaubt.

Mit meinen roten Nägeln sah ich aus wie eine Prinzessin!

Yildiz Teyze verschwand gleich darauf wieder in der Küche. Sie streckte mir eine Schale entgegen und sagte: „Hier, das musst du essen, Milchreis ist gesund für Kinder!“

Ich konnte nichts mehr essen. Mein Bauch war so voll, dass einfach nichts mehr rein ging. Aber Yildiz Teyze hatte einen viel größeren Bauch, und da gingen so viele Sachen rein.

Nach dem Sütlaç fing sie an, Teig zu kneten. Sie drückte mir ein Wellholz in die Hand, und ich durfte ihr beim Ausrollen helfen.

Yildiz Teyze war sehr nett zu mir, und sie erzählte mir die ganze Zeit viele Geschichten.

Aber danach gab es wieder zu essen. Sie setzte mir zwei große gefüllte Teigtaschen vor.

„Yildiz Teyze, mein Bauch tut weh. Ich kann nicht mehr“, jammerte ich.

„Kein Wunder“, sagte sie. „Du isst ja kaum was!“

Ich hatte noch nie so viel Essen in meinem Bauch gehabt, und ich hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so viel essen konnte wie Yildiz Teyze.

Ich lag auf dem Sofa und Yildiz Teyze massierte mir den Bauch. Endlich kam meine Anne, um mich abzuholen.

|65|Yildiz Teyze erzählte meiner Anne, dass ich kaum etwas gegessen und kaum gesprochen hätte.

Als wir zu Hause waren, ging es mir noch schlechter und ich musste spucken.

„Allahım, was hast du denn alles gegessen, mein Kind?“

Ich erzählte Annem, was ich alles gegessen hatte, und dass Yildiz Teyze die ganze Zeit für mich gekocht hatte. Natürlich hatte ich kaum was gesprochen, aber nur weil Yildiz Teyze so viel zu erzählen hatte. Annem machte mir einen Tee und legte mir eine Wärmflasche auf den Bauch.

Anne ging am nächsten Tag bei Yildiz Teyze vorbei und erzählte ihr, dass ich Masern bekommen hätte und vorerst daheim bleiben müsste. Yildiz Teyze war sehr traurig darüber und gab meiner Anne den Rat, mir eine Hühnersuppe zu kochen.

Zu Yildiz Teyze brachte mich Annem nie wieder. Und mein Baba schimpfte auch nicht wegen meiner roten Fingernägel. Ich durfte weiterhin mit Tekir zu Hause bleiben, weil Anne nicht wusste, wohin sie mich bringen sollte.