Ein Baum ohne Wurzeln

Ali Amca hatte uns zum Ramadan einen Fernseher geschenkt, den er im Sperrmüll gefunden hatte. Mine und ich saßen am Anfang stundenlang davor und waren furchtbar stolz, auch endlich einen Fernseher zu besitzen. Aber die Begeisterung |139|ließ schnell nach. Wir konnten nur einen Sender empfangen, und meistens kamen Sendungen, in denen Erwachsene über Politik sprachen. Abends durften wir mit unseren Eltern „Aktenzeichen XY“ oder auch „Tatort“ anschauen. Das war viel aufregender!

Ab und zu verschwand das Bild und es waren nur noch Ameisen zu sehen. Meistens passierte das, wenn es richtig spannend wurde. Ein Schlag mit der Faust auf das Gehäuse und das Bild war wieder da.

„Dieser Fernseher ist wie eine Frau. Wenn er nicht funktioniert, muss man einfach einmal draufhauen“, sagte Baba.

Anne fand das gar nicht lustig und schüttelte den Kopf.

 

Alle zwei Wochen kam unsere Lieblingssendung „Türkiye mektubu“, ein Brief aus der Türkei.

Dreißig Minuten lang Nachrichten, Bilder und Musik aus der Heimat. An diesen Tagen kam Baba pünktlich nach Hause, und wir saßen alle gespannt vor dem Fernseher. Wenn „Türkiye mektubu“ lief, durften wir nicht mal Sonnenblumenkerne knabbern.

Ich fand die Nachrichten immer sehr langweilig, und trotzdem war es wie ein Liebesbeweis Anne und Baba gegenüber, ruhig und aufmerksam zuzuhören.

„Sieh mal Hasan, wie aufmerksam die Kinder sind. Sie vermissen die Heimat auch. Allah möge dieser Sehnsucht ein Ende setzen“, sagte Annem und gab uns einen Kuss auf die Stirn.

Sogar Tekir lag ganz still vor dem Fernseher.

Als eine Sängerin zum Abschluss der Sendung ein trauriges Lied über Trennung und Sehnsucht sang, verschwand plötzlich wieder mal das Bild.

„Allah kahr etsin, verflucht noch mal!“, brüllte Baba.

|140|Anne wischte sich die Tränen aus den Augen, sprang von ihrem Platz hoch und schlug mit der Faust auf den Fernseher. Sie rüttelte und schlug immer fester. Anne schrie, fluchte und war ganz außer sich vor Wut. Baba, Mine und ich saßen völlig fassungslos da. Tekir verkroch sich unter das Sofa.

„Verdammt noch mal!“, schrie Anne.

Baba versuchte, sie festzuhalten, aber Anne ließ sich nicht beruhigen. Sie schimpfte und schlug sogar auf Baba ein. Annem hatte Baba noch nie geschlagen und sie hatte ihn auch noch nie so schlimm beschimpft. Ablam und ich hatten große Angst und fingen an zu weinen.

Plötzlich sah Annem uns an und ich dachte, jetzt schlägt sie uns auch gleich. Aber sie ließ sich einfach auf den Boden fallen, schlug sich die Hände vors Gesicht und schluchzte ganz laut.

Ich hatte Angst. Meine Beine wollten nicht zu ihr gehen und mein Herz klopfte ganz laut.

Was war nur geschehen? Mit einem Mal war das Bild wieder da, aber die Sendung war inzwischen zu Ende.

Baba brachte ein nasses Tuch, wischte Annes Gesicht ab und hielt ihr Kolanya unter die Nase, aber Annem hörte nicht auf zu weinen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, saß Annem immer noch auf dem Boden neben dem Fernseher und wiegte sich hin und her, wie es Babaanne immer vor dem Fenster getan hatte. Baba war auf dem Sofa eingeschlafen und Tekir lag neben Anne, die uns nicht mal ansah.

 

Ablam und ich zogen uns an und gingen in die Schule, ohne etwas zu sagen. Keiner von uns beiden wollte zu Anne gehen, weil wir Angst hatten.

Frau Mayer fragte mich in der Pause, ob ich krank sei, weil ich nicht auf ihrem Stuhl sitzen wollte. Ich schüttelte nur |141|den Kopf. Ich schämte mich, ihr zu erzählen, was mit meiner Anne geschehen war, und gab mir Mühe, nicht zu weinen.

Annem blieb tagelang im Bett liegen. Sie aß kaum noch etwas und ging weder zur Arbeit noch zum Arzt. Sie kochte auch nicht mehr für uns. Baba wollte sie zum Arzt bringen, aber Annem weigerte sich. Sie wollte nicht mal mit uns reden.

Irgendwann wurde Annem in der Nacht mit Blaulicht in die Klinik gefahren. Sie hatte versehentlich zu viele Tabletten geschluckt. Als der Krankenwagen wegfuhr, saßen Ablam und ich am Fenster. Wir dachten, dass wir Annem nie wiedersehen würden. Nach ein paar Stunden kam Baba endlich nach Hause. Er drückte Mine und mich ganz fest an sich und erzählte uns, dass es Anne schon wieder einigermaßen gut ginge und wir sie bald besuchen dürften.

„Baba, wird Anne sterben?“ Mine fing an zu weinen.

„Allah schütze sie, Yavrum, beiß dir auf die Zunge, sie wird, Inşallah, in ein paar Tagen wieder gesund nach Hause kommen“, sagte er und gab uns einen Kuss auf die Stirn.

Baba nahm Urlaub, um meine Anne zu besuchen. Wir durften erst nach einer Woche zu ihr. Der Arzt hatte es verboten.

Ich betete immer wieder zu Allah und zu Gott. Nur beide waren stark genug, uns zu helfen, da wir ein großes Problem hatten.

Ich konnte nur ein Gebet aus dem Koran auswendig, das mir meine Anne beigebracht hatte. Das sagte ich mit erhobenen Händen auf Babas Gebetsteppich immer wieder auf.

Als unser erster Besuchstag kam, holte Baba unsere schönsten Kleider aus dem Schrank, schnitt uns sogar die Nägel, kämmte uns die Haare und wir gingen los. Unterwegs erzählte uns Baba, dass Anne in einer Spezialklinik sei und |142|wir ganz lieb zu ihr sein müssten. Ablam sah Babam ganz böse an und sagte: „Wir waren immer lieb zu Anne. Das solltest du dir selber sagen!“

„Eşoleşek, gleich fängst du eine“, antwortete Baba und gab Mine einen Schubs.

 

Es war eine wunderschöne Klinik mit einem großen Rosengarten. Eigentlich sah das Gebäude gar nicht aus wie ein Krankenhaus, sondern eher wie ein Märchenschloss.

Plötzlich sahen wir unsere Anne auf einer Bank sitzen. Mine und ich rannten zu ihr hin und umarmten sie ganz fest. Meine Anne roch so gut! Ich hatte sie so sehr vermisst. Ich fing an zu weinen und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Ich hatte Angst, wieder ohne Anne nach Hause zu gehen, und ich hatte noch mehr Angst, dass meine Anne sterben könnte. Anne küsste uns ganz oft und streichelte uns. Sie drückte uns immer wieder ganz fest an sich.

Aber sie sagte nichts, kein Wort kam aus ihrem schönen Mund. Keiner von uns sagte etwas, nicht mal Baba.

Bei uns ging es nie ruhig zu, wir waren immer eine sehr laute Familie und meinen Baba hatte ich noch nie flüstern gehört. Aber auch er traute sich kaum zu sprechen, und wenn, dann sah er nur auf den Boden und sprach so leise, dass wir ihn kaum verstehen konnten.

Baba wollte schon nach ein paar Minuten wieder nach Hause gehen und sagte uns, dass wir Anne nicht anstrengen dürften. Aber ich klammerte mich so fest ich konnte an meine Anne und schluchzte laut. Ich wollte nicht ohne sie gehen, und ich wollte sie auch nicht alleine dort lassen. Baba ging mit Ablam ein Eis holen, und ich durfte noch bei meiner Anne bleiben, musste aber versprechen, dass ich danach ohne zu weinen mit ihnen gehen würde.

|143|„Ağlama yavrum, ağlama, üc gün kaldi bayrama, weine nicht mein Kind, es sind nur noch drei Tage bis Bayram“, sang Annem und wischte mir die Tränen vom Gesicht.

„Anne, das hat Babaanne auch immer gesungen, wenn wir traurig waren, obwohl es noch sehr lange bis Bayram war.“

Annem nickte nur und streichelte über meine Haare.

„Das hat mir meine Anne auch immer vorgesungen“, sagte sie.

Annem versprach mir, nicht zu sterben, und sie wollte auch ganz schnell wieder bei uns sein.

Plötzlich stand ein Mann neben uns und fragte Anne, ob alles in Ordnung sei. Danach schaute er mich an, setzte sich zu uns und fragte mich, ob ich geweint hätte. Ich nickte und sah auf den Boden.

„Ich bin der Doktor von deiner Mama“, sagte er, „und wer bist du?“

„Nilgün“, antwortete ich.

„Nüglin, das ist aber ein schöner Name.“

„Nilgün, ich heiße nicht Nüglin.“

Der Doktor lachte und entschuldigte sich bei mir. Es war ein netter Doktor mit einer kleinen Brille auf der Nase.

„Willst du ein Eis essen?“ Eigentlich wollte ich schon, aber ich hatte Angst, dass meine Anne weg sein würde, bis ich wiederkäme.

„Anne, wartest du hier auf mich?“

„Evet, Yavrum, wo soll ich denn hin?“

„Schwöre!“

„Vallaha, billaha“, schwor Anne und ich war mir nun sicher, dass meine Anne nicht weggehen würde.

Ich durfte mir ein ganz großes Eis aussuchen.

„Du warst traurig wegen deiner Mama?“

|144|Ich nickte nur. Meine Zunge wollte nichts sagen.

Der Doktor wollte wissen, ob mein Papa nett zu uns war und ob ich ihn lieb hätte.

Da schmeckte mir das Eis nicht mehr. Ich fing wieder an zu weinen, weil ich wusste, dass Anne nicht mit uns nach Hause gehen durfte.

Ich war wütend und warf das Eis einfach auf den Boden. Aber dann schämte ich mich und verbarg mein Gesicht in meinen Händen.

Der Doktor setzte sich mit mir auf die Wiese und erklärte mir, warum Annem noch nicht mit uns nach Hause durfte.

Er sagte, dass jeder Mensch wie ein Baum sei und Wurzeln habe, und dass ein Baum ohne Wurzeln eingehen würde und keine Früchte tragen könne. Anne habe ihre Wurzeln in der Türkei gelassen und deshalb sei sie krank geworden. Die Früchte eines Menschen seien die Fröhlichkeit und sein Lachen. Da hatte der Doktor recht.

Anne hatte so lange keine Früchte getragen, sie hatte immer so oft weinen müssen.

Meine Anneanne, Onkel, Tanten und all unsere Verwandten und die Heimat seien die Wurzeln von Annem, sagte der Doktor.

„Gibst du meiner Anne die Wurzeln wieder?“

Der Doktor schüttelte den Kopf.

„Das wird mir nicht gelingen, aber wir werden ihr Medizin geben, damit sie nicht mehr so oft weinen muss“, sagte er.

Der Doktor versprach mir, Annem ganz schnell nach Hause zu schicken. Trotzdem hätte ich meine Anne am liebsten gleich mitgenommen. Auf dem Heimweg erzählte ich Baba von dem Gespräch mit dem netten Doktor, und dass Anne so krank sei, weil sie ihre Wurzeln verloren hatte. Baba schwieg und drückte meine Schwester und mich an sich.

|145|Der Doktor hielt sein Versprechen nicht. Annem musste noch ganz lange in der Klinik bleiben, und jedes Mal fiel mir der Abschied von ihr so schwer. Ich glaube, dass ich auch nur noch wenig Früchte trug. Wir erlebten zwei Jahreszeiten ohne meine Anne.