|148|Aus Töchtern werden Bräute

Meine Schwester und ich spielten mit unseren Puppen. Mine hatte in der Schule gelernt, wie man Puppenkleider nähte, und häkeln konnte sie auch schon. Anne gab uns ihre Stoffreste, nur an die Nähmaschine durften wir nicht, weil sie viel Geld dafür bezahlt hatte.

Beim Spielen mit Puppen verstanden wir uns immer ganz gut. Meine Puppen hatten blonde Haare und blaue Augen mit ganz langen Wimpern. Die Puppen von Mine waren dunkelhaarig und hässlich.

Als ich meiner Lieblingspuppe Helene das Gesicht waschen wollte, fiel mir auf, dass jemand ihre schönen, langen Wimpern abgeschnitten hatte. Ich wusste natürlich sofort, wer das gemacht hatte. Ich wurde so wütend und böse, dass ich gleich zu schreien anfing.

Da Mine lange Haare hatte, war es sehr leicht, ihr weh zu tun, besonders wenn sie ihre Haare offen trug. Ich griff mit beiden Händen in ihre blonden Strähnen und zog so fest daran, wie ich nur konnte. Mine war viel größer und stärker als ich, aber ich wusste mir zu helfen: beißen, zwicken und ins Gesicht spucken, wenn Anne es nicht sah. Ich bekam wie immer eine Ohrfeige von Mine, aber Schmerz kannten wir in solchen Situationen nicht.

Plötzlich sah ich meine Anne in der Tür stehen und war mir sicher, dass sie eingreifen würde. Aber nichts geschah. Anne sah uns an, lächelte und dabei kullerten wieder Tränen über ihr schönes Gesicht.

Mine und ich hörten sofort auf zu streiten.

Immer wenn Anne anfing zu weinen, bekamen wir große Angst, dass sie wieder ihre Wurzeln verlor und in die Klinik |149|musste. Manchmal vergaß sie ihre Tabletten zu nehmen, dann konnte sie nicht einschlafen und musste weinen.

Ablam und ich gingen zu ihr, umarmten sie und versprachen ihr, uns nie wieder zu streiten.

„Yavrum, es ist nicht wegen euch, ich bin auch nicht traurig, sondern glücklich!“

Das sah zwar gar nicht nach Glück aus, aber irgendwie waren wir erleichtert. Anne erzählte uns, dass wir am Wochenende Besuch bekommen würden, der aber aus einem ganz bestimmten Grund käme. Diese Menschen würden im Namen Allahs kommen und um die Hand von Mine anhalten. Ich stand da wie die Statue von Atatürk und konnte es gar nicht glauben. Meine Schwester war vierzehn Jahre alt und bekam ihren ersten Heiratsantrag? Sie hatte zwar schon einen großen Busen und Haare unter den Achseln, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendein Mensch auf dieser Welt meine Schwester heiraten wollte. Mine war doch immer so gemein und dumm.

„Anne, muss ich heiraten?“

„Yavrum, du bist doch noch ein Kind, aber wir müssen diese Menschen trotzdem empfangen. Es werden noch viele an unsere Tür klopfen, denn aus Töchtern werden Bräute. Aber wir würden euch nie zu einer Heirat zwingen“, versprach Anne. Sie war sehr stolz auf meine Schwester und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

Mine sah mich ganz seltsam an. Sie nahm ihr Lipgloss mit Erdbeergeschmack aus der Tasche und schmierte sich eklig dick ihre dicken Lippen ein. Danach zog sie ihre Mundwinkel zusammen und folgte Anne in die Küche.

Annem und Mine putzten tagelang unsere Wohnung. Türen und Fenster wurden auf Hochglanz gebracht, und Mine hatte ständig so ein dummes Grinsen im Gesicht.

|150|Wir saßen alle im Wohnzimmer, als würden wir unser heiliges Ramadanfest feiern. Mine hatte ein neues Kleid bekommen, und ich musste zum Friseur, weil Anne meine Locken nicht mehr durchkämmen konnte.

Baba sah Ablam nicht mehr in die Augen, er schüttelte immer wieder den Kopf und versuchte sein Grinsen zu verbergen.

„Wann ist meine Watte-Tochter groß geworden? Wo ist nur die Zeit geblieben, Allahım?“ Dann hob er die Hände zu Allah und zündete sich eine Zigarette an.

Ein bisschen eifersüchtig war ich schon, weil sich alles nur noch um Mine drehte, und Baba immer wieder sagte, wie stolz er auf Mine sei.

„Aus meiner Tochter könnte also eine Braut werden!“ Dabei versuchte er sein Lächeln zu unterdrücken.

Aus mir würde nie eine Braut werden. Schließlich war ich erst zehn Jahre alt und hatte noch nicht mal richtige Brüste. Außerdem wollte ich ja sowieso Yalcin heiraten.

Wer um die Hand meiner Schwester anhielt, wusste ich immer noch nicht, aber das war mir auch egal!

„Es ist einer von der türkischen Schule“, hatte mir Mine ins Ohr geflüstert.

 

Seit zwei Monaten gab es bei uns an der Schule einen türkischen Lehrer. Den hatte der türkische Staat extra wegen uns nach Deutschland geschickt. Ein Mal in der Woche durfte Duman Öğretmen, Lehrer Duman, uns in der deutschen Schule unterrichten. Es gab nur eine Klasse. Duman Öğretmen war sehr streng und sagte gleich am ersten Tag, dass ihn die deutschen Gesetze nicht interessierten. Wenn einer nicht folgte, dann würde er ihm die Ohren ausreißen. Das hatte er zwar noch nie gemacht, aber er hatte einigen Jungen so fest |151|an den Ohren gezogen, dass ihnen vor Schmerz die Tränen gekommen waren.

Plötzlich klingelte es an der Tür. Die Anwärter waren endlich da. Anne sprang auf, öffnete aber nicht gleich. Sie wartete darauf, dass es noch einmal klingelte, denn sonst hätte es so ausgesehen, als hätten wir sehnlichst auf die Anwärter von Mine gewartet. Wenn das auch stimmte, so durften wir uns das doch nicht anmerken lassen.

Ich traute meinen Augen nicht. Es waren die Eltern von Özcan. Özcan ging mit uns in den türkischen Unterricht und war der älteste, aber auch der lustigste Junge in der Klasse. Sein älterer Bruder, seine Tante und sein Onkel standen mit Blumen und Pralinen hinter den Eltern von Özcan. Er war schon sechzehn Jahre alt und bekam fast jede Woche von Duman Öğretmen eine Ohrfeige. Duman Öğretmen zog seine Ohren hoch, bis er nur noch auf Zehenspitzen stehen konnte und bevor Özcan wieder festen Boden unter den Füßen verspürte, wurden ihm zwei Ohrfeigen rechts und links verpasst. Ich konnte es gar nicht fassen! Özcan wollte meine Schwester heiraten? Das gefiel mir plötzlich noch weniger als vorher. Eigentlich hätte ich ihn am liebsten geheiratet, weil er so lustig war. Aber dann fiel mir Yalcin wieder ein.

Özcan hatte zwar wenig Farben auf dem Kopf, aber er war trotzdem ein sehr netter Junge.

Er hatte sogar mal ein Bild von einer nackten Frau auf den Stuhl von Duman Öğretmen geklebt und der ganzen Klasse erzählt, dass die Frau schwanger werden würde, wenn sich unser Lehrer auf den Stuhl setze. Alle lachten, als Duman Öğretmen Platz nahm, und als der das Bild auf seinem Stuhl entdeckte, wusste er gleich, wer das getan hatte. Özcan bekam eine saftige Ohrfeige und musste eine Stunde auf einem Bein stehen.

|152|Nach einer höflichen Begrüßungszeremonie verschwand Mine in der Küche und ich saß neugierig neben meiner Anne. Die heiratsfähige Tochter musste einen Mokka kochen und auf jeder Tasse hatte viel Schaum zu sein. Das war ein Zeichen, dass sie eine gute Hausfrau war.

Natürlich kochte meine Anne heimlich den Mokka und Mine durfte servieren. Ablam war so rot im Gesicht wie eine Tomate und alle betrachteten sie von Kopf bis Fuß.

 

Der Vater von Özcan fing an zu sprechen: „Im Namen Allahs und in seinem Beisein bitten wir um die Hand Ihrer Tochter Mine für unseren Sohn Özcan.“

Diesen Spruch kannte ich aus türkischen Filmen und aus den Geschichten, die Anne uns erzählt hatte. Ein großes Schweigen breitete sich im Wohnzimmer aus. Baba sah ganz lange auf den Boden.

„Es ist uns eine Ehre, dass Sie an unsere Türe klopfen, aber meine Tochter ist noch ein Kind. Wir können gerne in ein paar Jahren darüber sprechen, wenn die Zeit reif ist“, antwortete Baba.

Der Vater von Özcan setzte noch einmal an und erklärte, dass irgendwann aus allen Töchtern Bräute würden und die beiden sich doch erst mal verloben könnten.

Aber Baba hob seine Augenbrauen und wiederholte, was er bereits gesagt hatte. Wieder herrschte großes Schweigen.

Ablam servierte noch Baklava, süßes Gebäck. „Lasst uns Süßes essen und Süßes sprechen“, sagte Annem.

„Sie haben recht, lasst uns Süßes essen und Süßes sprechen“, wiederholte der Onkel.

Nachdem alle gegessen und getrunken hatten, verabschiedeten sich die Gäste. Mine kam aus der Küche, sah Baba an und tat so, als ob sie nichts mitbekommen hätte. Dabei |153|hatte sie die ganze Zeit hinter der Küchentür gestanden und gelauscht.

Babam machte immer noch ein ernstes Gesicht und seine Brauen bildeten einen Strich über den Augen. Ich fing an zu lachen und Baba sagte nur: „Eşoleşek, was gibt es da zu lachen?“ Aber dann lachten alle.

Baba stand noch lange am Fenster und rauchte seine Zigaretten.

 

Irgendetwas war geschehen, aber wir wussten nicht, was es war. Von dem Tag an durfte Mine mit ihren Freunden nicht mehr ins Kino und nicht mehr alleine in die Stadt, sie durfte nicht mehr ins Freibad und sie durfte nicht mal ihre beste Freundin Hülya besuchen. Anne sagte, dass Hülya einen Bruder hätte, und die Leute würden Mines Besuch auf ihn beziehen.

Ablam durfte nicht mehr ohne Anne aus dem Haus gehen, außer zum Bäcker und in die Schule. Manchmal, wenn Mine lange genug weinte, durfte sie ihre Freundin Hülya besuchen, aber nur, wenn sie mich mitnahm. Das gefiel Mine überhaupt nicht. Sie fing unterwegs Streit an und gab mir ohne Grund eine Ohrfeige, damit ich wieder nach Hause lief und sie alleine zu ihrer Freundin gehen konnte.

Aber nachdem das ein paar Mal vorgekommen war, durfte sie gar nicht mehr aus dem Haus, auch wenn ich dabei war. Anne brachte uns mit dem Auto in die Schule und holte uns sogar ab.

Mine spielte auch nie wieder mit ihren Puppen und nähte weder für meine noch für ihre Puppen Kleider. Sie hatte all ihren Puppen die Augen mit dem Küchenmesser ausgestochen und ihnen die Haare mit Wasserfarben ganz bunt angemalt. Wenn Ablam vom Bäcker zu spät nach Hause kam, |154|musste sie zuerst erzählen, warum sie sich verspätet hatte. In die türkische Schule durfte sie auch nicht mehr. Alles, was Mine machen wollte, wurde ihr verboten.

Die Klassenkameraden von Mine bekamen viel mehr erlaubt, aber das waren auch keine Türken.

„Ein Mensch kann sich ohne seine Ehre begraben lassen. Du bist kein Kind mehr!“, sagte Baba immer wieder.

„Na und? Ich bin trotzdem eure Tochter und nicht eure Sklavin!“, schrie Mine.

Wenn Baba dann mit erhobener Hand auf sie zuging, rannte sie auf die Toilette.

 

Nach langem Betteln durften wir einmal mit Paola und Giuseppe ins Freibad gehen.

Ugur, ein sehr netter Junge, den wir von der türkischen Schule her kannten, setzte sich zu uns, und wir aßen gemeinsam ein Eis. Er erzählte von seiner kleinen Schwester, die schon längere Zeit an Keuchhusten litt, weshalb er auch zwei Wochen nicht hatte in die Schule gehen dürfen. Ablam und ich hatten nichts getan, was unserem „Namus“ geschadet hätte. Wir hatten nur ein Eis mit Ugur gegessen.

Ein paar Tage später kam Babam nach Hause und ohne ein Wort zu sagen, schlug er auf meine Schwester ein. Ich ging dazwischen und versuchte, meine Schwester zu beschützen.

„Baba, sie hat doch nichts getan, hör auf, bitte hör auf!“, schrie ich. Aber Baba war blind vor Wut.

Mine lag fast bewusstlos auf dem Boden und ich saß neben ihr und weinte. Dann mussten wir berichten, was im Freibad geschehen war. Aber obwohl wir alles ganz genau erzählten, glaubte uns Baba kein Wort. Er schrie und war so wütend, dass er den Fernseher gegen die Wand schleuderte. |155|„Wollt ihr Schlampen werden oder wollt ihr, dass ich mich umbringe?“

Baba schrie und schlug wieder alles zusammen. Der Sohn eines Freundes von ihm, der auch im Freibad gewesen war, hatte uns mit Ugur gesehen. Er hatte erzählt, dass Mine und Ugur auf dem gleichen Handtuch gesessen hätten. Der Mann fragte Baba, ob das etwas Ernstes sei zwischen meiner Schwester und Ugur. Wenn nicht, solle er besser auf seine Töchter aufpassen.

Ich nahm den Koran und legte meine rechte Hand darauf. Ich schwor, dass wir ganz lieb gewesen waren und dass Mine nichts getan hatte. Bevor mein Vater die Tür hinter sich zuknallte, sagte er, dass er uns umbringen würde, wenn wir auch nur einen weiteren Fehler machen würden. Dann verschwand er im Wohnzimmer.

Mine lag im Flur auf dem Boden und weinte.

„Ich werde abhauen, ich gehe weg von hier, ich habe die Schnauze voll“, schrie sie und ging auf die Toilette. Ich wusste, dass Ablam schon länger rauchte, obwohl Anne es ihr verboten hatte. Ich presste mein Ohr an die Toilettentür und hörte das Schluchzen meiner Schwester.

Mein Vater stand im Wohnzimmer und sah aus dem Fenster. Er zog ganz fest an seiner Zigarette.

„Allah hilf mir, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich weiß nicht mehr was richtig und was falsch ist“, flüsterte er.

Baba war verzweifelt. Seine Augen waren ängstlich und sein Herz traurig.