Ab nach Anatolien

Immer wenn Anne mich so seltsam ansah, wusste ich, dass etwas Schlimmes auf mich zukam.

Ich gab mir wirklich große Mühe, lieb zu sein. Einmal hatte ich die Fenster geputzt, die Betten gemacht und Kichererbsen aus der Dose gekocht. Meine Anne hatte sich gar nicht darüber gefreut. Sie war sogar richtig böse geworden. Zuerst hatte ich gedacht, dass ihr die Kichererbsen nicht geschmeckt |66|hätten, dabei hatte meine Anne nur Angst gehabt, dass ich mich hätte verbrennen können. Ich hatte doch so oft zugesehen, wie sie das machte, und außerdem war ich sechs Jahre alt! Da ist man doch alt genug zum Kochen!

Bis Mine von der Schule kam, durfte ich nicht mal mit meiner Freundin Helene rausgehen, sonst hätten doch die Deutschen gemerkt, dass ich alleine zu Hause war.

 

Ich saß mit Tekir am Fenster und sah, wie meine Schwester mit Giuseppe um die Ecke kam. Ich klopfte ganz fest ans Fenster, und Mine winkte mir zu. Sonst verdrehte sie immer die Augen, wenn sie mich sah, besonders wenn ein Junge neben ihr war. Aber anscheinend hatte sie mich auch vermisst. Sie kam zur Haustür rein und fragte gleich: „Nilgün, hat es Anne dir schon erzählt? Sag, weißt du es schon?“

„Nein, was soll Anne mir erzählt haben?“

„Ich muss hier nie wieder in die Schule gehen. Na ja, ich werde Anne sicher vermissen, aber ich freue mich auf die Türkei!“

Mine nahm Tekir auf den Arm und tanzte mit ihm herum. Jetzt war Mine verrückt geworden. Die würde wirklich später keinen Mann bekommen, wie es meine Anne schon immer vorhersagte.

„Schau mich nicht so blöd an, Nilgün, du gehst auch mit!“

Mine tanzte und hüpfte in der ganzen Wohnung herum. Ich stand da und sagte gar nichts. Mine erzählte mir oft Dinge, die gelogen waren. Einmal hatte sie mir sogar erzählt, dass ich gar nicht das Kind von Anne und Baba sei. Zigeuner hätten mich einfach vor der Tür unserer Eltern abgelegt.

„Schau dich doch an, Nilgün, du hast schwarze Haare, dunkle Augen und dunkle Haut. Wie die Zigeuner! Du bist die Einzige in unserer Familie, die so aussieht.“

|67|Es war wirklich so. Meine Anne hatte ein wunderschönes Gesicht, eine helle Haut und Milchkaffee-Haare. Mein Baba sah auch nicht aus wie ich, obwohl ich so hässlich nicht war. Aber als ich dann zu weinen anfing, entschuldigte sie sich und versprach bei Allah, dass sie so etwas nie wieder sagen würde.

„Nilgün, diesmal lüge ich dich nicht an. Ich schwöre!“

„Hör auf zu schwören, du weißt, wenn man etwas Falsches schwört, kommt man ganz sicher in die Hölle!“

„Hörst du nicht? Ich lüge wirklich nicht. Wir fliegen bald mit Ali Amca in die Türkei und bleiben dort, bis Anne und Baba für immer zurückkehren.“

Mein Herz klopfte immer schneller, und ich war plötzlich ganz aufgeregt. War das jetzt etwas Schönes oder etwas Schlechtes? Mine hüpfte weiter herum und freute sich. Ich tanzte mit, weil es bestimmt etwas Schönes war, sonst hätte sich meine Schwester nicht so gefreut.

„Wann kommt Anne uns abholen? Und bei wem müssen wir bleiben?“

„Ich glaube bei Babaanne in Alaca.“

„Bei Babaanne in Alaca? Aber das ist doch so weit weg von Deutschland.“

An Babaanne konnte ich mich ganz schwach erinnern. Sie hatte ein faltiges Gesicht, und an ihrem Şalvar trug sie einen Beutel mit braunem Kandiszucker. Mein Baba hatte mal erzählt, dass seine Anne sehr streng mit ihm gewesen war, obwohl sie nur ihn als einzigen Sohn hatte. Deshalb hatte er seinen Baba mehr lieb. Aber Dede war schon tot. Über Babaanne wusste ich nicht sehr viel, außer dass sie alleine in einem großen Haus lebte.

An dem Tag, an dem Mine mir diese Neuigkeit erzählte, machte sie nicht mal ihre Hausaufgaben,weil sie sowieso bald in der Türkei in die Schule gehen würde.

|68|Annem kam immer vor Baba nach Hause und ich fragte sie gleich, wann wir nach Alaca gehen würden, aber sie wollte noch nicht darüber reden.

„Anne, aber wir gehen doch, oder? Das hast du doch gesagt?“, fragte Mine vorsichtig nach.

„Mine, deine Zunge hat auch keinen Knochen, ich habe dir doch gesagt, dass wir noch darüber sprechen müssen!“

Annem ging in die Küche und versuchte, ihre Tränen vor uns zu verbergen. Baba kam erst nach Hause, als meine Schwester und ich schon im Bett waren.

Ich wachte durch das Geschrei von Anne und Baba auf. Sie stritten sich wieder einmal so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten musste. Mine stand weinend zwischen Anne und Baba.

„Ne olur, hört auf, so zu schreien. Bitte!“

Anne und Baba stritten sich immer öfter, weil Baba auch unter der Woche betrunken nach Hause kam und ganz oft Karten spielte. Einmal hatte er sogar die Miete nicht bezahlen können, weil er Spielschulden gemacht hatte.

Ich konnte meiner Anne nicht helfen, weil ich zu klein war, und ich hatte Angst vor Baba. Wenn er betrunken war, sah er ganz fürchterlich aus und benahm sich wie ein Verrückter.

Mine schimpfte oft über Baba, wenn der das nicht hören konnte, aber Annem wollte das nicht.

„Nicht mal Allah stellt sich zwischen Mann und Frau. Er ist trotz allem euer Vater. Es gibt schlimmere Männer“, sagte Annem. Da hatte sie allerdings recht.

Der Mann von Tante Ayse war wirklich schlimmer. Meine Freundin Fidan hatte mal erzählt, ihr Baba würde ihre Anne fast jeden Tag schlagen. Er musste sogar mal ins Gefängnis, weil die Nachbarn ihn angezeigt hatten. Trotzdem |69|hasste ich meinen Baba, wenn er meine Anne anschrie oder sie schlug. Einmal hatte Baba gesagt, dass Schläge aus dem Paradies kommen würden: „Wer seine Frauen nicht schlägt, der wird eines Tages großes Leid erfahren, so steht es im Koran!“

Baba warf die Tür hinter sich zu und verschwand. Annem umarmte meine Schwester und weinte. „Ich könnte nie ohne euch leben, und diesen Mann ertrage ich nur, damit ihr nicht ohne Vater aufwachsen müsst“, sagte sie.

Anne hatte Angst, dass sie so wie Birsen Teyze werden würde. Mir hätte es nichts ausgemacht, ohne Baba aufzuwachsen. Ich war nur sehr traurig, dass Anne wegen uns leiden musste. Wenn ich nicht wäre, müsste meine Anne vielleicht nicht so oft weinen und wäre sicher glücklicher.

„Ich verspreche euch, so bald wie möglich zu euch zu kommen, und dann bleiben wir für immer zusammen“, versprach Annem.

Es war also wahr. Wir mussten nach Alaca zu Babaanne gehen.

Ich tat so, als ob ich das alles nicht mitbekommen hätte.

In der Nacht schlief Anne zwischen Mine und mir und immer wieder drückte meine Anne uns ganz fest an sich. Ich spürte ihre kalten Hände auf meinem Bauch. Annem weinte noch ganz lange. Sie weinte bestimmt wegen mir. Ich war an allem schuld. Wie konnte ich nur sterben? Einfach tot sein, oder weg. Dann müsste Annem wegen uns nicht bei Baba bleiben.

Am nächsten Morgen hatte Baba bereits das Frühstück vorbereitet und hatte sogar frische Brötchen geholt. Anne sprach nur das Nötigste, und Baba tat so, als ob nichts gewesen wäre. Nach dem Frühstück badeten wir, wie jedes Wochenende, und Anne machte meiner Abla zwei Zöpfe. |70|„Pamuk Kızım, lass ja nicht zu, dass man deine schönen langen Haare abschneidet, und bevor sie an deinen Hüften sind, komme ich euch abholen, das verspreche ich euch“, sagte Anne.

„Und wo müssen meine Haare sein, Anne, damit du uns holen kommst?“

Meine Anne lachte und wischte sich die Tränen vom Gesicht.

„Kara Kızım, bei deinen wunderschönen Locken würden wir eine unendlich lange Zeit warten müssen, bis sie an deinen zarten Hüften sind.“ Anne strich mir liebevoll über meine Locken.

Annem wollte ganz viel arbeiten und uns ein Haus in Istanbul kaufen, und danach wollte sie uns nie wieder weggeben. Sie würde dann auch nie wieder arbeiten gehen müssen.

Der Gedanke, dass wir bald ein Haus besitzen würden und meine Anne nicht mehr arbeiten musste, gefiel mir gut. Ich war mir auch sicher, dass meine Anne uns nicht lange bei Babaanne lassen würde. Außerdem waren die Haare von meiner Abla schon über den Schultern, und bis zu den Hüften war es nicht weit.

Ein paar Tage später standen wir mit Baba, Anne und Ali Amca am Flughafen. Ali Amca war schon oft geflogen, weil er doch so gute Geschäfte mit alten Kleidern in seinem Dorf machte. Ablam und ich hatten noch nie in einem Flugzeug gesessen.

Leider hatte ich mich nicht mal von meiner Freundin Helene verabschieden können, weil sie gerade bei ihrer Oma zu Besuch war. Wir konnten nur Paola und Giuseppe Lebewohl sagen. Die waren so traurig, dass sie weinen mussten. Aber sie hatten versprochen, uns zu schreiben.

|71|Meine Anne hatte uns noch Kleider genäht und neue Schuhe gekauft. Mine bekam sogar ein neues Schulmäppchen und eine neue Schultasche, damit Babaanne sich um diese Dinge nicht zu kümmern brauchte.

Baba hatte sich in den letzten Tagen sehr verändert. Plötzlich war er fast so lieb zu uns wie meine Anne. Auch zu ihr war er freundlich und schrie sie gar nicht mehr an. Er hatte ihr versprochen, nie wieder um Geld zu spielen und nicht mehr so viel Raki zu trinken. Anne sagte nur: „Inşallah.“

Baba gab Ali Amca einen Briefumschlag für die Babaanne: „Bruder Ali, bring meine Kinder gesund zu meiner Mutter. Allah segne euren Weg“, sagte Baba.

Er küsste mich und anschließend meine Schwester auf die Stirn, dann sah er Annem an und sagte: „Mach es kurz und reiß dich zusammen!“ Nach diesen Worten ging er einfach weg.

Plötzlich bekam ich große Angst, denn mir wurde klar, dass meine Anne auch gleich gehen und ich sie ganz lange nicht sehen würde.

Ich klammerte mich an ihr fest und war mir sicher, dass niemand so stark sein könnte, mich von ihr wegzureißen. Ich wickelte eine Haarsträhne meiner Anne um meine Hand, mit der anderen Hand hielt ich mich an ihrer rosa Bluse fest. Mein Herz klopfte ganz laut, und ich konnte nicht mal schlucken. Ich hätte so gern geschrieen, aber da war ein furchtbar dicker Kloß in meinem Hals.

Ich würde sie nicht loslassen, ich wollte nur bei meiner Anne sein. Ich würde mit ihr weglaufen. „Kızım, hör auf, schämst du dich nicht?“, hörte ich Ali Amca immer wieder sagen, der versuchte, mich von meiner Anne wegzuziehen.

„Anne, bring mich um, aber schick mich nicht weg, bitte Anne. Vallaha, billaha, ich werde nie wieder etwas anstellen, |72|und wenn du willst, bleibe ich sogar bei Ünser Teyze, ohne mich einzusperren, und esse bei Yildiz. Bitte Anne, schick mich nicht weg! Ne olur Annem!“

Anne versuchte, sich von mir zu lösen, und sagte mir immer und immer wieder, dass sie uns ganz schnell holen würde. Ich klammerte mich noch fester an meine Anne, aber dann hatte es Ali Amca, dieser Teufel, geschafft, mich von meiner Anne wegzureißen. Anne weinte auch. Sie gab Mine einen Kuss und rannte einfach weg. Sie ließ uns zurück und sah sich nicht mal um. Sie hatte mich gar nicht geküsst. Annem hatte mich einfach weggedrückt.

„Komm Kızım, wir verpassen sonst das Flugzeug“, sagte Ali Amca und wir stiegen in einen Bus ein und fuhren zum Flugzeug. Ich weinte immer noch, und als ich die Haare von Annem in meiner Hand sah, wurde ich noch trauriger. Ich hatte Annem bestimmt sehr weh getan. Kein Wunder, dass sie mich nicht mal geküsst hatte.

Im Flugzeug arbeiteten viele hübsche Frauen, und wir bekamen etwas zu essen, zu trinken und ein Kopfkissen. Fliegen gefiel mir sehr gut, vor allem als wir nach oben flogen, grummelte und rumpelte es in meinem Bauch. Das war ein schönes Gefühl.

„Abla, wie ist es in Alaca? Ist die Babaanne lieb?“

„Türkiye ist immer schön und Babaanne ist auch sehr lieb. Du wirst sehen, es wird dir gefallen!“, sagte meine Schwester und gab mir einen Kuss auf die Wange.

Der Himmel war so schön! Die Wolken waren kuschelig weiß und sahen aus wie Zuckerwatte.

Ich hüpfte von einer Wolke auf die andere.

„Abla, wohnt da Allah?“

„Ja! Jetzt sind wir Allah sicher ganz nah.“

„Und Gott? Wohnt Gott auch hier im Himmel?“

|73|Mine zeigte mir einen Vogel und schüttelte den Kopf: „Es gibt nur Allah!“

Mine hatte keine Ahnung. Die hatte ja auch keine deutsche Freundin, woher sollte sie denn wissen, wo Gott wohnt.

Ich sah zwar genau hin, konnte aber weder Gott noch Allah sehen. Vielleicht waren beide gerade beschäftigt oder so.