Bittere Träume

Samstags gingen unsere Eltern immer auf den Wochenmarkt, meine Schwester und ich deckten währenddessen den Tisch, und dann gab es ein köstliches Frühstück.

Eines Samstags fiel mir beim Frühstück plötzlich mein Traum aus der vergangenen Nacht ein und ich erzählte, wie ich auf einem Zwiebelhaufen gesessen und ganz viele Zwiebeln geschält hatte und dabei fürchterlich weinen musste. Anne sah Baba an und deutete meinen Zwiebeltraum als ein schlechtes Zeichen.

„Zwiebeln sind bitter. Allah möge uns vor bitteren Nachrichten schützen“, sagte sie.

Annem glaubte an Träume und konnte jeden Traum deuten. Einmal hatte sie von einer weißen Taube geträumt und war überzeugt, dass wir entweder eine gute Nachricht oder Geld bekommen würden. Drei Tage später saßen wir wie jeden Samstag vor dem Fernseher und verfolgten die Lottoziehung. Wir hatten vier Richtige und meine Anne hatte recht gehabt!

Wir wurden zwar nicht reich, aber es hatte zu einem „Hammel“ gereicht.

Annem räumte den Frühstückstisch ab, als es plötzlich an der Tür klingelte.

|146|Der Briefträger übergab Baba ein Telegramm.

Baba öffnete es und sein Blick wurde ganz starr. „Ist es eine bittere Nachricht, Hasan?“

Baba ließ sich auf das Sofa fallen, Tränen liefen ihm über das Gesicht und er flüsterte: „Nun habe ich auch keine Wurzeln mehr.“

„Ist Babaanne tot?“, fragte Mine.

Mein Herz begann, rasend zu klopfen. Annem setzte sich zu Baba, legte ihren Arm um ihn und wünschte ihm Beileid. Annem und Mine fingen auch an zu weinen. Baba verbarg sein Gesicht in den Händen und schluchzte laut.

Ich verkroch mich in den Kleiderschrank und drückte mir die Kleider an die Ohren, um meinen Baba nicht zu hören. Meine Babaanne war tot, und ich würde sie nie wiedersehen. Ich hatte ihr doch versprochen, sie bald zu besuchen und hatte ihr Brezeln mitbringen wollen. Ich weinte und betete zu Allah, dass er ihr all ihre Sünden vergeben und sie ins Paradies schicken sollte.

Was würde wohl aus meinem Freund Yalcin werden? Außer Babaanne mochte ihn doch keiner in Alaca. Wahrscheinlich würde er nun auch sterben, dachte ich und musste noch mehr weinen.

Plötzlich bekam ich Angst, das Anne auch sterben würde. Ich riss die Schranktür auf, stürzte zu Annem und nahm sie fest in den Arm. Annem versuchte, mich zu beruhigen und versprach mir, noch nicht zu sterben.

„Allah weiß, wann wir alle gehen müssen, aber hab keine Angst“, sagte sie, „meine Zeit ist sicher noch nicht gekommen.“

Baba nahm einen Vorschuss von seinem Konto, um den Flug und die Beerdigung zu bezahlen. Da wir uns nur ein Flugticket leisten konnten, musste mein Baba alleine fliegen. |147|Annem kochte einen großen Topf Grieshelva und verteilte es im Namen meiner Babaanne an alle Freunde, damit sie für ihre Seele beteten.

Am Flughafen drückte ich Baba eine Tüte mit Süßigkeiten in die Hand, die er meinem Freund Yalcin geben sollte.

„Glaubst du, ich denke jetzt an irgendwelche Verrückte“, sagte er und warf die Tüte in Annes Handtasche.

Vier Tage später kam Babam wieder zurück. Ganz Alaca sei zur Beerdigung von Babaanne gekommen und jeder wollte den Sarg auf den Schultern tragen, aber Yalcin habe die rechte vordere Seite des Sarges nicht freigegeben.

„Möge ihr Platz im Paradies sein“, sagte Baba. „Ich hätte nicht gedacht, dass meine Mutter so beliebt war.“

Nach der Beerdigung habe Yalcin die ganze Nacht auf dem Friedhof verbracht. Am nächsten Morgen habe der Dorflehrer ihn mit nach Hause genommen.

„Baba, gehen wir denn irgendwann mal wieder nach Alaca?“, fragte ich vorsichtig.

Baba schüttelte den Kopf und sagte, es gäbe für uns keinen Grund mehr, Alaca aufzusuchen.

Baba holte ein geblümtes Säckchen aus der Tasche.

„Das hat sie sicher für dich gesammelt“, sagte er und überreichte mir das Säckchen. Es war brauner Kandiszucker.

Anschließend holte Baba noch ein Kopftuch aus der Tasche und roch daran. Dann fing er wieder an zu weinen. In der Nacht schlief ich mit dem Kopftuch in der Hand und träumte, dass meine Babaanne mir Maisbrot backte. Ich war fest davon überzeugt, dass Babaanne im Paradies war und dort die guten Menschen mit Maisbrot versorgte.