|112|Kısmet ist, wenn Menschen nicht selbst entscheiden

Wir hatten schon zweimal Bayram gefeiert. Einmal das Opferfest und das Fastenfest, Ramadan. Annem hatte uns einige Briefe geschickt, und in allen stand, dass sie bald kommen würde. Aber wir wussten, dass „bald“ noch lange dauern konnte. Ablam hatte Annem auch Briefe geschrieben und ihr ein Foto von uns geschickt. Da hatte sie sich sehr gefreut, schrieb sie, und sie hatte sogar weinen müssen, aber nicht, weil sie traurig war, sondern vor Glück.

Ablam und ich hatten an unseren Geburtstagen den ganzen Tag am Fenster auf Annem gewartet. Aber auch da war sie nicht gekommen.

Wir durften nun ganz oft Kleider aus dem Deutschlandkoffer anziehen, und wir durften mit den Dorfkindern spielen. Ich spielte aber immer noch am liebsten mit meinem Freund Yalcin.

Babaanne versteckte ihr Lachen nur noch selten, und manchmal erlaubte sie mir sogar, bei ihr im Bett zu schlafen. Eigentlich war Babaanne ganz lieb. Nur ein Mal hatte sie Ablam und mich geschlagen. Aber das war meine Schuld.

An Ramadan lief jede Nacht der Trommler durch die Straßen und weckte die Menschen auf, damit sie vor Sonnenaufgang noch essen konnten. Ablam und ich mussten zwar nicht fasten, aber durch das laute Trommeln wachten wir jede Nacht auf. Dann kochte Babaanne Nudeln oder backte Börek, und wir durften mitessen.

Mir gefiel die Trommelmusik sehr. Es war die gleiche Musik wie auf der Hochzeit von Mahmut Ağas Sohn. Ich ging auf die Straße, stellte mich vor den Trommler und fing |113|an, mit den Hüften zu wackeln. Der Trommler schüttelte den Kopf, fand es aber ganz lustig. Als Babaanne das sah, bekam sie fast keine Luft mehr. Sie schnappte mich am Arm und zerrte mich in den Hof. Dann schüttelte sie mich durch und schrie mich ganz laut an. Das sei Günah und außerdem sei es eine Schande, zur Fastentrommel zu tanzen.

„Lass meine Schwester los!“, kreischte Ablam, als sie sah, wie Babaanne mit mir schimpfte. Sie nahm Anlauf und schubste Babaanne auf den Boden. Wir standen beide wie versteinert da und starrten Babaanne an. Zuerst bekam Ablam eine Ohrfeige und dann ich. Babaanne stürzte ins Haus, und wir versteckten uns in der Scheune. Später versuchte Babaanne, uns ins Haus zu bringen, aber wir blieben für den Rest der Nacht in der Scheune.

Am nächsten Morgen erklärte Babaanne, dass sie uns nur vor der Strafe Allahs hatte behüten wollen, und dass es ihre Aufgabe sei, uns vor Untaten zu bewahren. Ich entschuldigte mich gleich bei ihr, aber Ablam versöhnte sich erst nach ein paar Tagen mit Babaanne. Eigentlich war ich ja an allem schuld, und Ablam wollte mich nur verteidigen. Sie hatte Annem versprochen, mich immer zu beschützen.

Nachdem wir uns alle versöhnt hatten, schlachtete Babaanne sogar ein Huhn, obwohl es noch Eier legte. Es gab Pilav aus weißem Reis, und jeder von uns bekam eine Handvoll Leblebi. Es war ein richtiges Hochzeitsessen. Danach röstete Babaanne Maronen auf dem Ofen und erzählte uns Geschichten von Dede. Zum ersten Mal gab uns Babaanne einen Kuss auf die Wange und drückte uns ganz fest an sich. Bevor Babaanne uns die Decke über die Schultern zog und feststeckte, gab sie uns ein Stück braunen Kandiszucker in den Mund. „Damit ihr süße Träume habt“, sagte sie und deckte uns zu.

|114|„Lieber Allah, ich habe schon lange nicht mehr gebetet, weil ich immer gleich eingeschlafen bin. Sei mir bitte nicht böse. Danke, dass du Babaanne so lieb gemacht hast. Und ich wusste wirklich nicht, dass Tanzen an Ramadan Günah ist. Tövbe, Allahım, Tövbe. Bitte bring meine Anne zu uns. Gute Nacht, Allahım.“

Wenn ich mit Allah sprach, bekam ich immer Angst, denn ich fühlte mich ständig schuldig. Auch wenn es an einem Tag war, wo ich nicht gesündigt hatte. Nach dem Beten versteckte ich mich daher unter meiner Decke und schlief meistens ein, bevor sich mein Kandiszucker aufgelöst hatte.

Plötzlich hörte ich eine Stimme.„Yavrum, benim,wach auf, deine Anne ist da.“

Ich öffnete meine Augen und sah meine Anne. Zuerst dachte ich, dass es ein Traum sei, und rieb mir fest die Augen. Aber diesmal war es kein Traum, es war meine Anne. Sie saß neben mir und streichelte mir über den Rücken. Dann beugte sie sich zu mir vor, aber bevor sie mich küssen konnte, sprang ich auf und rannte zu meiner Babaanne, die an der Tür stand und die Petroleumlampe in der Hand hielt.

Ich versteckte mich zwischen den Falten ihres Şalvars und fing an zu weinen.

„Nilgün, hast du deine Anne vergessen? Gel, komm, Yavrum. Ich habe euch so vermisst!“, sagte Annem und dann musste sie auch weinen. „Gel, Yavrum, komm zu deiner Anne!“ Sie wurde immer lauter.

„Sie hat mich vergessen, mein eigenes Kind kennt mich nicht mehr“, rief sie und verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Mine zerrte an meinem Schlafanzug: „Kannst du dich nicht mehr an unsere Anne erinnern?“

Ich hatte meine Anne nicht vergessen, aber meine Beine waren schuld, die wollten nicht, und mein Herz klopfte ganz |115|schnell und ganz laut. Ich wusste auch nicht, warum ich plötzlich solche Angst vor Anne hatte. Ich hatte mich doch so auf sie gefreut, ich hatte sie doch so sehr vermisst. Endlich war „bald“ gekommen, aber nun war alles ganz schlimm.

Mine saß neben Anne und gab ihr immer wieder einen Kuss auf die Wange.

Ich sah meine Babaanne an und verkroch mich noch mehr in ihren Şalvar. Babaanne streichelte mir über den Rücken und steckte mir ein Stück Kandiszucker in den Mund. Obwohl meine Anne genauso schön war wie früher, hatte ich Angst, zu ihr zu gehen.

Dann sagte Anne, dass sie mir schöne Sachen mitgebracht hätte, und holte eine Puppe mit echten blonden Haaren und blauen Augen aus ihrem Koffer. Die Puppe war wunderschön und trug ein rot kariertes Kleid. Sie holte noch eine Puppe hervor und gab sie Mine.

„Gel, Yavrum, ich habe dich so sehr vermisst“, sagte Anne, streckte die Arme nach mir aus und wischte sich immer wieder die Tränen aus dem Gesicht. Babaanne löste meine Hand von ihrem Şalvar.

„Psst Kızım, hadi, geh zu deiner Anne“, sagte sie und steckte mir noch einen Kandiszucker in den Mund.

„Los, geh zu deiner Anne und sag ihr Süßes.“

Babaanne zerrte mich zu Anne. Mein Herz klopfte ganz schnell und ich setzte mich vorsichtig neben Anne und hielt die Puppe fest. Anne unterhielt sich mit Ablam, und immer wieder küsste sie mich auf die Wange.

„Kızım, wo sind deine Locken? Warum hast du so klebrige Haare?“, fragte Annem.

„Babaanne mag keine Locken, sie kämmt ihr Haar immer mit Spucke glatt“, flüsterte Mine ganz leise, damit es Babaanne nicht hören konnte.

|116|Babaanne stellte ein Tablett mit Essen auf den Boden.

„Guten Appetit. Du hast eine lange Reise hinter dir und sicher einen leeren Magen“, sagte Babaanne.

„Danke Anne, ich danke dir für alles, was du für meine Kinder getan hast.“

„Es sind auch die Kinder meines Sohnes“, antwortete Babaanne, und ihre Augenbrauen zogen sich wieder zu einem Strich zusammen. Babaanne war sehr traurig, weil mein Baba nicht mitgekommen war.

„Ich habe die Briefe, die du geschickt hast, gelesen“, sagte Babaanne.

„Babaanne, du kannst doch gar nicht lesen, ich habe sie dir vorgelesen“, unterbrach Mine.

„Eşoleşek, unterbrich mich nicht“, erwiderte Babaanne und sprach weiter mit Anne.

„Du hast geschrieben, dass du bald kommen würdest, aber so schnell habe ich nicht mit dir gerechnet.“

„Anne, ich habe meine Kinder fast zwei Jahre nicht gesehen.“

Annem liefen die Tränen über das Gesicht, aber jetzt versteckte sie sie nicht mehr.

„Es waren siebzehn Monate und vier Tage“, korrigierte Babaanne und verschwand wieder in der Küche.

Anne erzählte uns alles, was während dieser langen Zeit passiert war, bis die Sonne aufging.

 

Nachdem Ali Amca mit uns nach Ankara abgeflogen war, hatte Anne erst Tag und Nacht geweint, so sehr hatte sie uns vermisst. Dann fand Anne noch eine Arbeit. Sie machte einem alten Mann den Haushalt, der sie dafür gut bezahlte.

„Lass nichts auf deine Ehre kommen, hörst du?“, sagte Babaanne.

|117|„Anne, der Mann ist fast achtzig Jahre alt“, entgegnete Annem und schüttelte den Kopf.

„Ein Mann ist nie zu alt für solche Sachen“, antwortete Babaanne.

Auf jeden Fall hatte Annem ganz viel Geld gespart, und bevor sie nach Alaca kam, war sie nach Istanbul geflogen und hatte dort einen Bauplatz direkt am Meer gekauft.

Mine klatschte in die Hände und küsste Anne überall im Gesicht.

„Yaşasın, yaşasın, endlich haben wir ein Haus!“, schrie Mine begeistert.

„Hayır, Kızım, noch haben wir kein Haus, aber bald werden wir eines haben“, verbesserte sie Annem.

Babaanne schien darüber nicht glücklich zu sein. Ihre Augenbrauen waren immer noch ein ganz dicker Strich quer über ihrer Stirn.

 

Annem war alleine gekommen, und den Bauplatz hatte sie auch ohne Baba gekauft. Mein Onkel Ismail, der jüngste Bruder von Annem, hatte ihr dabei geholfen. Baba hatte keinen Urlaub genehmigt bekommen, weil er eine neue Arbeitsstelle hatte.

„Ihr müsst nie wieder alleine bleiben, Hasan und ich arbeiten jetzt Schicht“, sagte Anne und drückte uns ganz fest an sich.

„Muss ich nicht mehr zu deinen Freundinnen gehen?“, fragte ich skeptisch.

„Hayır, Kızım, außerdem wirst du auch bald in die Schule kommen.“

„In Istanbul, nicht wahr, Anne?“, fragte Mine.

„Nein, in Deutschland“, antwortete Annem.

Mine zog die Mundwinkel nach unten.

|118|„Noch mal nach Deutschland? Ich dachte, wir bleiben in Istanbul, jetzt haben wir doch einen Bauplatz, Anne.“

Wir hatten zwar einen Bauplatz, aber noch kein Geld, um ein Haus dort zu bauen. Unsere Eltern mussten in Deutschland noch viel Geld verdienen. Baba ging nur noch an den Wochenenden ins Café und trank auch viel weniger Raki.

„Er kommt so müde nach Hause, dass er auf dem Sofa einschläft“, erzählte Anne.

Sie war oft krank gewesen, weil sie Sehnsucht nach uns hatte. Sie konnte nachts nicht mehr schlafen, hatte kaum noch Appetit und war immer müde, weil sie so viel arbeiten musste. Eines Tages, als Annem weinend das Büro ihres Chefs putzte, dem die Firma gehörte, hatte dieser reiche Mann plötzlich hinter meiner Anne gestanden und ihr auf die Schulter geklopft. Er hatte wissen wollen, warum Anne so traurig war. Dann hatte er sogar einen Dolmetscher kommen lassen, um sie zu verstehen. Anne hatte von uns erzählt, dass sie mich immer zu Hause allein lassen musste und was im Kindergarten passiert war, und dass sie uns seit fast zwei Jahren nicht gesehen hatte. Herr Boehringer fragte meine Anne, was er für sie tun könnte. Annem erzählte ihm weiter, dass mein Baba verzweifelt auf der Suche nach einer Arbeit war, wo er nachts arbeiten konnte, damit wir nicht alleine zu Hause bleiben mussten.

Der Mann hatte Annem versprochen, ihr so bald wie möglich zu helfen. Ein paar Tage später durfte Baba gleich mit der Nachtschicht anfangen.

„Hasan wollte natürlich seine Arbeit als Fahrer nicht aufgeben, aber ihm blieb nichts anderes übrig“, sagte Annem.

Herr Boehringer hatte meiner Anne einen Briefumschlag in die Hand gedrückt und ihr alles Gute gewünscht.

„Das war das Geld für mein Flugticket und ein Monatsgehalt“, |119|sagte Annem weinend. „Von keinem Moslem habe ich jemals so viel Gutes erfahren. Dieser Mann ist ein Engel!“

Babaanne schien sich gar nicht zu freuen.

„Was sagt mein Sohn dazu? Kein Mann macht das ohne Hintergedanken!“, sagte sie zu Anne.

Anne lachte nur und schüttelte den Kopf.

„Yavrum, wir fahren noch heute nach Ankara und fliegen von dort wieder nach Deutschland. Ich habe nur drei Tage Urlaub genommen.“

Kaum hatte Anne den Satz beendet, rannte Mine ins Schlafzimmer und fing an, unsere Koffer zu packen. Babaanne sagte kein Wort mehr. Ich wusste nicht, ob sie wegen des Chefs, der meiner Anne Geld gab, böse war oder ob sie böse war, weil mein Baba nicht gekommen war.

„Lass die Kinder hier, dann könnt ihr schneller für immer Alamanya verlassen“, sagte Babaanne.

„Hayır, nein!“, schrie Mine. „Ich will zu meiner Anne. Du nimmst uns doch mit, oder?“

Mine hängte sich an Annes Hals.

„Evet, Kızım, wir werden uns nie wieder trennen!“, antwortete Annem.

„Dann zieht eure Kinder selber groß. Ihr habt mich ja auch nicht gefragt, als ihr sie gezeugt habt!“, sagte Babaanne und verließ das Zimmer.

„Alles wird besser, Kinder, ich verspreche es euch!“, sagte Annem immer wieder.

„Nilgün, du sagst ja gar nichts, Yavrum. Freust du dich nicht?“

Eigentlich wusste ich nicht so wirklich, ob das jetzt alles gut oder nicht so gut war. Ich wusste auch nicht, ob Babaanne traurig oder böse war. Aber wenn Anne sagte, dass alles besser würde, dann war vielleicht doch alles gut?

|120|Nachdem unsere Koffer gepackt waren, durften wir die neuen Kleider aus Deutschland anziehen, die uns Anne mitgebracht hatte. Anne kämmte mir die Haare, aber sie konnte mir keinen so schönen Strich wie Babaanne machen.

Auf dem Weg zur Busstation hielt ich Babaannes Hand ganz fest, während Ablam mit Anne vor uns herlief. Mine redete ununterbrochen mit Anne. Babaanne und ich sagten nichts.

„Anne, ich danke dir noch mal für alles, was du für meine Kinder getan hast!“

„Ich habe nichts getan. Ich bin froh, dass ich endlich wieder meine Ruhe habe“, antwortete Babaanne.

„Du weißt doch, alles ist Kısmet“, sagte Annem. Aber Babaannes Laune wurde noch schlechter.

„Kısmet! Schicksal ist für Menschen, die keine eigenen Entscheidungen treffen können“, sagte sie und löste meine Hand von ihrem Şalvar.

„Babaanne, bist du denn gar nicht traurig, dass wir gehen?“, fragte ich.

Sie sah mich schweigend an. Ihre Augenbrauen wurden wieder zu einem Strich, sie presste ihre Lippen zusammen und gab mir keine Antwort.

Wir küssten die Hand von Babaanne, dann beugte sie sich herunter und gab uns einen Kuss auf die Stirn. Ihre Augen waren nass, aber die Tränen blieben wie immer in den tiefen Falten hängen.

„Babaanne, ağlama, weine nicht, ich komme dich bald wieder besuchen“, flüsterte ich.

„Bald kann sehr lange dauern, Yavrum“, sagte Babaanne und steckte mir einen Kandiszucker in den Mund.

Plötzlich fand ich doch nicht alles so gut, was da passierte. Ablam und Annem waren sehr glücklich, aber Babaanne |121|freute sich überhaupt nicht, und ich wusste gar nichts mehr.

Als der Bus losfuhr, stand Babaanne regungslos an der Haltestelle. Ich winkte ihr zu, bis ich sie nicht mehr sah.

Ich durfte am Fenster sitzen, und Anne war zwischen Ablam und mir. Es waren kaum Menschen auf der Straße, weil es noch so früh war. Wir fuhren an den bunten Häusern von Alaca vorbei, und mein Herz klopfte wieder ganz laut und ganz schnell.

„Yalcin! Ich habe Yalcin vergessen, Annem wir müssen zurück, ne olur Annem, bitte, bitte, wir müssen zurück, ich habe meinen Freund vergessen!“ Ich fing an zu weinen.

„Kızım, beruhige dich. Wir können jetzt nicht mehr zurück“, sagte Annem.

„Ich will nicht ohne Yalcin gehen, Annem, ne olur, bitte. Ich habe ihm versprochen, dass er mit uns nach Deutschland darf. Bitte, Annem.“

„Psst, Kızım, alle schauen schon zu uns her. Sei jetzt ruhig. Wir können doch nicht wegen einem Verrückten unseren Flug verpassen.“

„Yalcin ist nicht verrückt, er ist mein bester Freund“, flüsterte ich und drückte meine Puppe an mich.

Anne wollte Yalcin nicht mitnehmen, und ich durfte mich nicht mal von ihm verabschieden. Mein armer Freund würde kommen und mich nicht finden. Er würde sich bestimmt vor die Tür setzen und jahrelang auf mich warten. Ich hoffte inständig, dass Babaanne ihn sähe und ihm sagen würde, dass ich bald wiederkäme.

„Allahım, bitte sag Yalcin, dass ich ihn lieb habe und dass ich ihn, wenn ich groß bin, heiraten werde.“